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Kritik. Memoiren. Briefwechsel.
Armand de Pontmartin, der Doyen der Kritiker, starb im Laufe des Jahres, aber er hatte die Gewohnheit, die »Gazette de France«, wo er unter dem Striche das Zepter schwang, so reichlich mit Vorräten zu versehen, daß sie noch drei Monate nach seinem Tode seine Bücherbesprechungen fortsetzen konnte, worauf erst die lange Reihe der »Souvenirs d'un vieux critique« durch den letzten (10.) Band [* 2] abgeschlossen wurde. Nicht so Francisque Sarcey, der »roi des critiques«, welcher kein dramatisches und kein litterarisches Ereignis vorübergehen läßt, ohne es in einem seiner Blätter, »Temps«, »Parti national«, »XIX. Siècle«, »France«, »Annales littéraires«, und manchmal in zwei oder drei zugleich eingehend zu besprechen, aber der Ansicht huldigt, was unter einem augenblicklichen Eindruck für ein Eintagsblatt geschrieben wurde, dürfe nicht in die Buchform gebannt werden.
Wenn diese Auffassung weitere Verbreitung fände, so würden zahlreiche, regelmäßig wiederkehrende Beiträge zur und über die Jahreslitteratur unterbleiben, wie die »Histoire et littérature« von Brunetière, dem Kritiker der »Revue des Deux Mondes«, die »Vie littéraire« von Anatole France (Wochenübersicht im »Temps«),
die »Année littéraire« von Paul Ginisty (5. Jahrgang),
die »Annales du théâtre et de la musique« von Edouard Noël und Edmond Stoullig (15. Jahrgang mit einer Vorrede von Henri Meilhac),
ferner »L'Année politique« von André Daniel (17. Jahrgang) u. a. m. Daneben beschäftigen sich Jules Lemaître, Bertin und Paul Desjardins im »Journal des Débats«, Paul Perret in der »Liberté«, Judith Gautier im »Rappel«, Charles Bigot im »Siècle«, Canivet (Jean de Nivelle) im »Soleil«, Jean Lorrain im »Événement« mit der Tageslitteratur, während der Marquis de Vogüé, der seine Abhandlungen über die neuesten Zeitereignisse unter dem Titel: »Spectacles contemporains« veröffentlicht, die modernen russischen Schriftsteller, Paul Stapfer die Engländer in Frankreich heimisch zu machen sucht, zur Abwechselung aber auch aus »Rabelais, sa personne, son genre et son œuvre« überspringt.
Ein schönes biographisches Denkmal setzte der Akademiker Octave Gréard seinem verstorbenen Freunde Edmond Schérer, dem vortrefflichen Kritiker, und ein nicht minder vollendetes Maxime du Camp dem Dichter und Sprachkünstler Théophile Gautier in der Sammlung: »Les grands écrivains français«. In »Figures littéraires« sind einige gelungene Charakterzeichnungen des jungen Abgeordneten Paul Deschanel vereinigt, in »Les artistes littéraires« von Maurice Spronck Schattenrisse von Schriftstellern, denen die Form über den Inhalt zu gehen pflegt.
Henri Houssaye verjüngt die Zauberinnen »Aspasie, Cléopâtre, Théodora« durch ein bekanntes Verfahren, bei dem eine rege Phantasie mehr beteiligt ist als die Gelehrsamkeit. Hier ist neben den in Form und Inhalt mit Rabelais verwandten »Truandailles« von Richepin auch noch »Le [* 3] rire de Caliban« einzuschalten, eine Sammlung von philosophisch-humoristischen Abhandlungen, in denen Emile Bergerat als der Caliban des »Figaro« seine Eindrücke und Beobachtungen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens wie in seiner häuslichen und künstlerischen Umgebung mit Witz erzählt, solange er nicht auf seine eignen Mißhelligkeiten mit den Theaterdirektoren zu sprechen kommt.
»Fleurs d'hiver - Fruits d'hiver« nennt der greise Akademiker Ernest Legouvé den neuesten Band der Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, »Toute une jeunesse« ein andrer Akademiker, François Coppée, die seinigen, während Pierre Loti der Königin von Rumänien [* 4] im »Roman d'un enfant« ein Gemisch von Wahrheit und Dichtung über seine Kindheit widmet. Mitten in die grausame Wirklichkeit des belagerten und dann noch von der Kommune heimgesuchten Paris [* 5] versetzt Edmond de Goncourt den Leser mit der zweiten Serie des »Journal des Goncourt«, die bis zu Ende des Jahres 1871 reicht.
Zwischenhinein hatte der Verfasser den schon erschienenen »Schauspielerinnen des 18. Jahrhunderts« (»Sophie Arnould« und »Mme. Saint-Huberty«) die dritte beigefügt: »Mademoiselle Clairon, d'après ses correspondances et les rapports de police du temps«. Fünf andre sollen die Sammlung vervollständigen: Mlle. Lecouvreur, Camargo, La Guimard, Mlle. Contat, Mme. Favart. Ein Maler, welcher zugleich ein Dichter ist, Jules Breton, hat in der »Vie d'un artiste. Art et nature« seine Künstlerlaufbahn gezeichnet und es dem Bande an einer kunstvollen Ausstattung nicht fehlen lassen.
Minder anziehend, aber nichtsdestoweniger lehrreich ist die mit Dokumenten versehene Musikerbiographie: »Charles Gounod et ses œuvres« von Pagnerre. Bis in die Tage der französischen Revolution zurück führt: »Journal d'un étudiant pendant la Révolution« (1789-93) von Gaston Maugras. Der Student ist der Sohn eines reichen Reeders in Bordeaux [* 6] und berichtet mit jugendlicher Frische über seine Eindrücke und Erlebnisse im Gegensatz zu dem ängstlichen Schreiber eines andern Tagebuchs aus jener Zeit: »Journal d'un bourgeois de Paris pendant la Révolution« (hrsg. von H. Monin).
Die Rousseau-Litteratur wurde durch eine höchst wertvolle, den Hauptpersonen keineswegs schmeichelnde Arbeit bereichert: »Madame de Warens et J. J. Rousseau; étude historique et critique« von François Mugnier, Rat am Appellhof zu Chambéry, welcher in dieser Eigenschaft eine Menge amtlicher Dokumente zu seiner Verfügung hatte, und die Stendhal-Litteratur ihrerseits, abermals durch die Fürsorge des Enthusiasten Casimir Stryienski, um einen neuen Band: »Vie de Henri Brulard«, unter welchem Titel der Verfasser der »Chartreuse de Parme« sein Leben für die Leser von 1880 zu schreiben unternommen hatte, es aber nicht über die Jugendzeit, 1798-1800, hinausbrachte. Erwähnenswert ist eine neue, verbesserte und durch 150 Briefe vermehrte französische Ausgabe des bekannten Briefwechsels der Herzogin von Orléans [* 7] (Elisabeth Charlotte von der Pfalz), Mutter des Regenten.
Geschichtschreibung. Reisebilder.
In dem 3. Bande der »Histoire du peuple d'Israël« behandelt Ernest Renan die Epoche zwischen der Zerstörung Samarias und der Heimkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft. »L'avenir de la science« ist eine Sammlung von Aufsätzen aus der Zeit, da der spätere Verfasser der »Vie de Jésus« den Kampf mit seinem Gewissen angefochten, das Priesterseminar St.-Sulpice verlassen hatte und sich selbst über seine Stellung zur Wissenschaft, seinen Glauben an sie und ihre Wohlthaten klare Rechenschaft ablegen wollte. Wegen Anwandlungen ähnlicher Art war der Pater Didon vor einigen Jahren gemaßregelt und von seinen Obern nach Corsica [* 8] verbannt worden, wo er sich unterwarf und die Erlaubnis zu einem Studienaufenthalt in Deutschland [* 9] erhielt. Der Dominikaner wollte sich die deutsche Sprache gründlich aneignen, um theologische ¶
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Quellenforschungen anstellen und dann ebenfalls ein Werk über das Leben Jesu schreiben zu können. Dasselbe trägt den Titel »Jésus-Christ« und enthält in zwei Bänden unendlich viel Material, rein wissenschaftliches und polemisches, Schilderungen aus Palästina, [* 11] Zugeständnisse an die moderne Zeitrichtung in untergeordneten Dingen, was aber nicht hindert, daß er den Evangelien göttlichen Ursprung zuschreibt und sie für ausschließliches Eigentum der katholischen Kirche erklärt.
Ebenfalls auf die Vertrautheit mit der deutschen Sprache [* 12] ist »La jeunesse de Frédéric II« des Sorbonnne-Professors ^[richtig: Sorbonne-Professors] Lavisse gebaut, bei dem sich die lebhafte Darstellung zu der geschickten Verwertung der Quellen gesellt Ein lange erwartetes Ereignis, die Veröffentlichung der Memoiren des Fürsten de Talleyrand, soll sich nächstens erfüllen; nach allerlei Irrfahrten der Handschrift und dem Tode ihrer Inhaber wurde der Herzog von Broglie damit betraut.
Inzwischen setzt G. Pallain seine Studien über die diplomatische Korrespondenz Talleyrands fort. Sein letzter, dritter Band: »Le ministère de Talleyrand sous le Directoire« (mit Einleitung und Noten), umfaßt zwei Jahre, Juli 1797 bis Juli 1799, und enthält viel Neues in 700 Depeschen und Berichten, so z. B. eine Darlegung der Ansichten Talleyrands über Handel und Kolonialwesen. Gleichzeitig bietet die Gräfin de Mirabeau in »Le prince de Talleyrand et la maison d'Orléans« eine Sammlung von Briefen Ludwig Philipps, seiner Schwester Madame Adélaide und Talleyrands, welche sie in dem Nachlaß ihres Onkels, Herrn de Bacourt, ehemaligen ersten Sekretärs des Fürsten, in dessen Gewahrsam auch die »Memoiren« waren, gefunden hatte.
Des Interessanten und bisher Unbekannten viel bergen folgende Veröffentlichungen: »Villars, d'après sa correspondance et des documents inédits«, herausgegeben von dem Marquis de Vogüé;
»La diplomatie française et la succession d'Espagne« von Pichon;
»Philippe V et la cour de France« von Alfred Baudrillart (nach ungedruckten Dokumenten, 1. Bd.);
»Recueil des instructions données aux ministres de France, tome VIII« (Russie),
mit Einleitungen und Noten von Alfred Rambaud;
»L'Europe et l'avénement du second Empire« von Rothan. In all diesen Werken gelangt neben dem reichen Material als Zugabe eine reine litterarische Form zur Geltung, bei dem Diplomaten Rothan wie bei dem Sorbonne-Professor Rambaud und dem Aristokraten de Vogüé, welcher den Marschall de Villars, den unmenschlichen Helden der Dragonaden, als romantischen Ritter zeigt und in dem Abschnitt über Frau von Maintenon und den Cevennenkrieg unerwartete Gesichtspunkte eröffnet.
Vorwiegend akademisch sind hingegen die Aufsätze Jules Simons über Henri Martin, Michelet, Mignet sowie die »Études d'un autre temps« von Bardoux, der »Prince de Ligne et ses contemporains« (Joseph Chénier, Chamfort, Abbé Sieyès u. a.) von Victor du Bled und auch Lucien Pereys »Le dernier neveu de Mazarin«. Von André Lebon, Professor an der École des sciences politiques, sind »Études sur l'Allemagne politique« erschienen, von René Bazin, einem Mitarbeiter der »Débats«, Reiseschilderungen aus Italien, [* 13] »A l'aventure, croquis italiens«, deren Wert in einer gewissenhaften und anschaulichen Schilderung der heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände liegt, von Jean Revel, dem Verfasser eines wunderlichen Reisewerks: »Chez nos ancêtres«, welches Kleinasien und Ägypten [* 14] in pessimistischen, unehrerbietigen Zügen schildert, noch »Testament d'un moderne«, philosophische Betrachtungen, Wissenschaftliches, Gedanken andrer, bunt durcheinander, manchmal fesselnd, dann wieder durch das Sprunghafte ermüdend.
Der chinesische Militärbevollmächtigte in Paris und London, [* 15] General Tscheng-Ki-Tong, kann den Abendländern nicht genug die Tugendhaftigkeit und Vollkommenheit seiner Landsleute als nachahmenswertes Beispiel vorhalten. Er thut dies neuerdings in seinen »Plaisirs en Chine« und in dem »Roman de l'homme jaune«, der als Roman in Handlung und seelischer Analyse sehr schwach wäre, aber sich als ethnographisches und Sittenbild im ganzen angenehm liest, obwohl das aufdringlich Lehrhafte und Prahlhafte stellenweise den Genuß schmälert.
Aus dem äußersten Osten kommt man mit Pierre Loti herzlich gern »Au Maroc« zurück und mit Guy de Maupassant, der auf seiner eignen Jacht segelt, nach Italien, längs dessen mittelländische Küste der Romanschriftsteller den Stoff zu seinem anziehenden Bande: »La vie errante« sammelte. Die Nachtseite des englischen Lebens beschäftigt Hector France, der in England seinen Wohnsitz hat, in »Police-Court, mœurs anglaises«, einer Fortsetzung seiner bisherigen Sittenstudien: »Les va-nu-pieds de Londres«, »Les nuits de Londres«, »L'armée de John Bull«.
[Zur Litteratur.]
Birch-Hirschfeld, Geschichte der französischen Litteratur seit Anfang des 16. Jahrhunderte (Stuttg. 1889, Bd. 1);
Juncker, Grundriß der Geschichte der französischen Litteratur (Münst. 1889);
Tiersot, »Histoire de la chanson populaire en France« (Par. 1889);
Sarrazin, Das moderne Drama der Franzosen (Stuttg. 1888).
Eine Umarbeitung von Kreyssigs »Geschichte der französischen Nationallitteratur« besorgten Kreßner und Sarrazin (6. Aufl., Berl. 1889,2 Bde.). Die Geschichte der französischen Litteratur in der Schweiz [* 16] wurde von Philippe Godet, nach andern Gesichtspunkten von V. Rossel dargestellt (s. den folgenden Artikel).
Die französische Litteratur der Schweiz.
Die französische Schweiz, auch romanische Schweiz genannt, umfaßt den westlichen Teil des Schweizer Landes und zwar die protestantischen Kantone Gens, Waadt und Neuchâtel sowie die halb deutschen, halb französischen katholischen Kantone Freiburg und Wallis; auch ein Teil von Bern, [* 17] der Juradistrikt, hat französisch redende Bevölkerung. [* 18] Schon zur Zeit der römischen Herrschaft bestand eine Trennung dieser Länder von dem Nordosten; denn um 450 hatten sich die christlichen Burgunder hier niedergelassen, welche römische Kultur zu schätzen wußten und mit den alten Einwohnern allmählich zu einem Volke mit romanischen Sitten und romanischer Sprache verschmolzen.
Diese hat allerdings litterarische Bedeutung nie besessen und mußte bald der französischen Sprache weichen, die seit dem 13. Jahrh. ausschließlich Amts- und Schriftsprache wurde; sie blieb aber noch lange die Sprache des platten Landes (patois romand) und existiert litterarisch eigentlich nur in einigen Versionen des berühmten Kuhreigens (ranz des vaches); vgl. Huber, Recueil des ranz des vaches (St. Gall. 1830). Trotz der gemeinsamen Sitten und Sprache hat jedoch politische Einheit unter ihnen nie bestanden, sie gehörten lange verschiedenen Herrschaftsgebieten an und haben es an Eifersüchteleien und Feindseligkeiten untereinander nicht fehlen lassen. Erst seit der Gründung des Bundes macht sich hin und wieder nationales Bewußtsein geltend, und erst seit dieser Zeit datieren patriotische Männer in der französischen Schweiz die Anfänge einer ¶