mehr
Mensch, den zeitweise nur das Klugreden über seine Instinkte vom Tiere trennt.
Sardous neuestes vieraktiges Drama »Thermidor« wurde in den beiden ersten Aufführungen der Comédie-Française tumultuarisch abgelehnt. Die dritte Wiederholung wurde auf Betreiben einer Gruppe radikaler Deputierter, die in dem Stück eine Verunglimpfung ihrer großen Revolutionshelden sah, von der Regierung verboten, das Verbot aber nach kurzer Zeit wieder aufgehoben. Das schon vor 22 Jahren begonnene, seitdem aus politischen Rücksichten viermal umgearbeitete Werk ist reich an Bühneneffekten, die Handlung aber schwach, die Charakterzeichnung mangelhaft, die Lösung unbefriedigend, und schon ehe der revolutionäre Pöbel gesprochen, hatten feinfühlige Theaterfreunde »Thermidor« verurteilt.
»L'Obstacle« von Alphonse Daudet ist eine mit Freudenthränen abschließende oberflächliche Verarbeitung des düstern Themas, welches Henrik Ibsen in den »Gespenstern« behandelt: die Heimsuchung der Sünden der Väter an den Kindern. Daudet tritt nicht an den Gegenstand heran, um ihn zu vertiefen, sondern um nachzuweisen, daß die Vererbung nur ein beängstigendes Vorurteil ist.
Die bereits angekündigte »Lutte pour la vie«, die dramatische Verwertung des Stoffes, welchen Daudet im »Immortel« behandelte, ist in dieser Gestalt als akademisches Sittenbild nicht wahrer als der Roman, auch kein gut aufgebautes Theaterstück, sondern eine Reihe von Bildern, wie die »Bûcheronne« von Charles Edmond, die aus dem Feuilleton des »Temps« auf die Bühne des Théâtre-Français versetzt wurde, und »Dernier amour« von George Ohnet. Einen ungleich höhern Wert darf man dem »Député Leveau« von Jules Lemaître zugestehen, welches als Bühnenarbeit gedacht und durchgeführt ist, in feinen Charakterzeichnungen das heutige politische Treiben veranschaulicht und nur schwach ist zum Schlusse, ähnlich wie die letztjährige »Révoltée« des geistreichen Schriftstellers.
Was sonst als Sittenbild in Lustspielform über die Bretter geht, ist gewöhnlich bis zum Zerrbild gesteigert, aber mit Geist und Geschick gearbeitet, von zwei und mehr Verfassern zusammen, wenn einer nicht genügt. Da sind: »Ma cousine« von Henri Meilhac, »Les Moulinard« von Ordonneau, Valabrègue und Keroul, »Les provinciales à Paris« [* 2] von Najac und Pol Moreau, »Paris fin de siècle«, »Les femmes des amis« und »Madame Mongodin« von Raoul Toché u. Ernest Blum, »Monsieur [* 3] Betsy« von Méténier und Paul Alexis, »Les Vieux maris« von Antony Mars, [* 4] »Les douze femmes de Japhet« von A. Mars und M. Desvallières, »De fil en aiguille« und »Ferdinand le Noceur« von Léon Gandillot, »Nos jolies fraudeuses« und »Feu Toupinel« von A. Bisson, »Un prix Montyon« und »Madame a ses brevets« von Albin Valabrègue.
Höchst bemerkenswert und mit der Gunst verwandt, der sich alles zu erfreuen hat, was an die »Jungfrau von Orléans« in Wort und Bild erinnert, ist der Reichtum an neuen Militärstücken: »La conspiration du général Malet« (fünf Akte und ein Prolog) von Auge [* 5] de Lassus, »Desaix« (fünf Akte und zehn Bilder) von Gaston Maraud und Péricaud, »Le [* 6] secret de la Terreuse« (aus den Vendeerkriegen) von William Busnach und Henry Cauvain, »Devant l'ennemi« von Charton, »Le Drapeau« von Emile Moreau und Ernest Depré, »Une conspiration« von Henry Fouquier und Fabrice Carré (nach einem Roman Arthur Rancs),
»Le Regiment« von G. Mary und J. ^[richtig: Jules Mary und Georges Grisier] Grisier, »Marie Stuart, reine d'Écosse« (fünf Akte und acht Bilder) von Cressonnois u. Samson und »Sainte-Russie«, russisch-französisch-chauvinistisches Allianzstück in zehn Bildern, von Gugenheim und Lefaure. Nicht minder ausgiebig ist die Produktion auf dem Gebiet des Volksschauspiels, welche teilweise an Feuilletonromane anlehnt, wie »La Policière« von Xavier de Montépin und Jules Dornay und »Le crime de Jean Morel« von Cressonnois und Charles Samson, »Lucienne«, sozialistisches Drama von Louis de Gramont, »La petite Mionne« (nach Richebourg) von Gaston Marot. Außerdem sind hier noch zu nennen: »Le secret de la victime« von Léon Brésil und Valéry Vernier, »Jack l'Éventreur« (in fünf Akten und sieben Bildern) von Xavier Bertrand und Louis Clairian, »La fermière« von Armand Dartois und Henri Pagat, das letztere mit litterarischen Vorzügen ausgestattet, die man bei Werken dieser Art nicht sucht.
Lyrik. Schwerlich für die Bewunderung der Nachwelt geschaffen, aber dem Empfinden und dem Geschmack der Menge angemessen, welche in der Weltausstellung von 1889 die Besiegelung und Verherrlichung der dritten Republik begrüßt hatte, war die »Ode triomphale«, zu der Augusta Holmès, eine hochbegabte Künstlerin, wie schon zu ihrer Kantate »Pro patria«, dem Beispiel ihres verehrten Meisters Richard Wagner folgend, Musik und Text schrieb. Die entsprechende Ausstattung im Industriepalast, das Naive des leitenden Gedankens, die schön abgestufte Reihenfolge der Chöre jeden Alters und aller Stände, welche die Wohlthaten einer Frieden spendenden Republik priesen, ließen die Mängel der Dichtung vergessen, die übrigens da, wo sie etwas kindisch erscheint, es nicht mehr ist, als ähnliche Ergüsse des Propheten und Sehers der Republik, Victor Hugo.
Seitdem er gestorben, erlahmt die lyrische Dichtung sichtlich oder verirrt sich in die unwirtlichen, sprachlich barbarischen Regionen der décadents, es sei denn, daß sie unterwegs im »Chat noir« hängen bleibe, einer seltsamen Herberge, wo Künstler und Verseschmiede verkehren und poetisch-musikalische Parodien und »Mysterien« aufführen, wie die abwechselnd sinnige und ausgelassene »Marche à l'Étoile« von Georges Fragerolle, die »Phryné« von Maurice Donnay und der »Roland«, Oratorio in drei Akten, Dichtung von Georges d'Esparbès, Musik von Charles de Sivry.
Noch viel bemerkenswerter, formell wahrhaft schön und eigenartig in der Empfindung sind die dramatisch-lyrisch-humoristschen Dichtungen: »Tobie« und »Le mystère de la Nativité«, welche Maurice Bouchor zum Verfasser haben, von den lebensgroßen Marionetten Signorets in einer von Künstlern, wie Felix Bouchor, Lerolle, Marcel Rieder, gemalten Szenerie gespielt und in den Kulissen von Maurice Bouchor selbst und seinen Freunden Jean Richepin, Ponchon und Felix Robbe vorgetragen werden.
Einer frühern Generation gehört Théodore de Banville an, der Verfasser der »Cariatides« und der »Camées«; aber er ist noch immer jung in seinen »Sonnailles et Clochettes« und ein Dichter in der »Ame de Paris«, obwohl diese in ungebundener Rede auftritt. Es gehörte ein gewisser Mut dazu, den mehrmals gemachten Versuch zu wiederholen und Heines »Lyrisches Intermezzo« ins Französische zu übersetzen. Diesen Mut besaßen Guy Ropartz und P. R. Hirsch. [* 7] Sie wollten minder sklavisch verfahren als andre und gaben weniger eine wortgetreue Übersetzung als eine Bearbeitung (»œuvre composée d'après le poëme célèbre de Heine«). ¶
mehr
Kritik. Memoiren. Briefwechsel.
Armand de Pontmartin, der Doyen der Kritiker, starb im Laufe des Jahres, aber er hatte die Gewohnheit, die »Gazette de France«, wo er unter dem Striche das Zepter schwang, so reichlich mit Vorräten zu versehen, daß sie noch drei Monate nach seinem Tode seine Bücherbesprechungen fortsetzen konnte, worauf erst die lange Reihe der »Souvenirs d'un vieux critique« durch den letzten (10.) Band [* 9] abgeschlossen wurde. Nicht so Francisque Sarcey, der »roi des critiques«, welcher kein dramatisches und kein litterarisches Ereignis vorübergehen läßt, ohne es in einem seiner Blätter, »Temps«, »Parti national«, »XIX. Siècle«, »France«, »Annales littéraires«, und manchmal in zwei oder drei zugleich eingehend zu besprechen, aber der Ansicht huldigt, was unter einem augenblicklichen Eindruck für ein Eintagsblatt geschrieben wurde, dürfe nicht in die Buchform gebannt werden.
Wenn diese Auffassung weitere Verbreitung fände, so würden zahlreiche, regelmäßig wiederkehrende Beiträge zur und über die Jahreslitteratur unterbleiben, wie die »Histoire et littérature« von Brunetière, dem Kritiker der »Revue des Deux Mondes«, die »Vie littéraire« von Anatole France (Wochenübersicht im »Temps«),
die »Année littéraire« von Paul Ginisty (5. Jahrgang),
die »Annales du théâtre et de la musique« von Edouard Noël und Edmond Stoullig (15. Jahrgang mit einer Vorrede von Henri Meilhac),
ferner »L'Année politique« von André Daniel (17. Jahrgang) u. a. m. Daneben beschäftigen sich Jules Lemaître, Bertin und Paul Desjardins im »Journal des Débats«, Paul Perret in der »Liberté«, Judith Gautier im »Rappel«, Charles Bigot im »Siècle«, Canivet (Jean de Nivelle) im »Soleil«, Jean Lorrain im »Événement« mit der Tageslitteratur, während der Marquis de Vogüé, der seine Abhandlungen über die neuesten Zeitereignisse unter dem Titel: »Spectacles contemporains« veröffentlicht, die modernen russischen Schriftsteller, Paul Stapfer die Engländer in Frankreich heimisch zu machen sucht, zur Abwechselung aber auch aus »Rabelais, sa personne, son genre et son œuvre« überspringt.
Ein schönes biographisches Denkmal setzte der Akademiker Octave Gréard seinem verstorbenen Freunde Edmond Schérer, dem vortrefflichen Kritiker, und ein nicht minder vollendetes Maxime du Camp dem Dichter und Sprachkünstler Théophile Gautier in der Sammlung: »Les grands écrivains français«. In »Figures littéraires« sind einige gelungene Charakterzeichnungen des jungen Abgeordneten Paul Deschanel vereinigt, in »Les artistes littéraires« von Maurice Spronck Schattenrisse von Schriftstellern, denen die Form über den Inhalt zu gehen pflegt.
Henri Houssaye verjüngt die Zauberinnen »Aspasie, Cléopâtre, Théodora« durch ein bekanntes Verfahren, bei dem eine rege Phantasie mehr beteiligt ist als die Gelehrsamkeit. Hier ist neben den in Form und Inhalt mit Rabelais verwandten »Truandailles« von Richepin auch noch »Le rire de Caliban« einzuschalten, eine Sammlung von philosophisch-humoristischen Abhandlungen, in denen Emile Bergerat als der Caliban des »Figaro« seine Eindrücke und Beobachtungen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens wie in seiner häuslichen und künstlerischen Umgebung mit Witz erzählt, solange er nicht auf seine eignen Mißhelligkeiten mit den Theaterdirektoren zu sprechen kommt.
»Fleurs d'hiver - Fruits d'hiver« nennt der greise Akademiker Ernest Legouvé den neuesten Band der Denkwürdigkeiten aus seinem Leben, »Toute une jeunesse« ein andrer Akademiker, François Coppée, die seinigen, während Pierre Loti der Königin von Rumänien [* 10] im »Roman d'un enfant« ein Gemisch von Wahrheit und Dichtung über seine Kindheit widmet. Mitten in die grausame Wirklichkeit des belagerten und dann noch von der Kommune heimgesuchten Paris versetzt Edmond de Goncourt den Leser mit der zweiten Serie des »Journal des Goncourt«, die bis zu Ende des Jahres 1871 reicht.
Zwischenhinein hatte der Verfasser den schon erschienenen »Schauspielerinnen des 18. Jahrhunderts« (»Sophie Arnould« und »Mme. Saint-Huberty«) die dritte beigefügt: »Mademoiselle Clairon, d'après ses correspondances et les rapports de police du temps«. Fünf andre sollen die Sammlung vervollständigen: Mlle. Lecouvreur, Camargo, La Guimard, Mlle. Contat, Mme. Favart. Ein Maler, welcher zugleich ein Dichter ist, Jules Breton, hat in der »Vie d'un artiste. Art et nature« seine Künstlerlaufbahn gezeichnet und es dem Bande an einer kunstvollen Ausstattung nicht fehlen lassen.
Minder anziehend, aber nichtsdestoweniger lehrreich ist die mit Dokumenten versehene Musikerbiographie: »Charles Gounod et ses œuvres« von Pagnerre. Bis in die Tage der französischen Revolution zurück führt: »Journal d'un étudiant pendant la Révolution« (1789-93) von Gaston Maugras. Der Student ist der Sohn eines reichen Reeders in Bordeaux [* 11] und berichtet mit jugendlicher Frische über seine Eindrücke und Erlebnisse im Gegensatz zu dem ängstlichen Schreiber eines andern Tagebuchs aus jener Zeit: »Journal d'un bourgeois de Paris pendant la Révolution« (hrsg. von H. Monin).
Die Rousseau-Litteratur wurde durch eine höchst wertvolle, den Hauptpersonen keineswegs schmeichelnde Arbeit bereichert: »Madame de Warens et J. J. Rousseau; étude historique et critique« von François Mugnier, Rat am Appellhof zu Chambéry, welcher in dieser Eigenschaft eine Menge amtlicher Dokumente zu seiner Verfügung hatte, und die Stendhal-Litteratur ihrerseits, abermals durch die Fürsorge des Enthusiasten Casimir Stryienski, um einen neuen Band: »Vie de Henri Brulard«, unter welchem Titel der Verfasser der »Chartreuse de Parme« sein Leben für die Leser von 1880 zu schreiben unternommen hatte, es aber nicht über die Jugendzeit, 1798-1800, hinausbrachte. Erwähnenswert ist eine neue, verbesserte und durch 150 Briefe vermehrte französische Ausgabe des bekannten Briefwechsels der Herzogin von Orléans [* 12] (Elisabeth Charlotte von der Pfalz), Mutter des Regenten.
Geschichtschreibung. Reisebilder.
In dem 3. Bande der »Histoire du peuple d'Israël« behandelt Ernest Renan die Epoche zwischen der Zerstörung Samarias und der Heimkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft. »L'avenir de la science« ist eine Sammlung von Aufsätzen aus der Zeit, da der spätere Verfasser der »Vie de Jésus« den Kampf mit seinem Gewissen angefochten, das Priesterseminar St.-Sulpice verlassen hatte und sich selbst über seine Stellung zur Wissenschaft, seinen Glauben an sie und ihre Wohlthaten klare Rechenschaft ablegen wollte. Wegen Anwandlungen ähnlicher Art war der Pater Didon vor einigen Jahren gemaßregelt und von seinen Obern nach Corsica [* 13] verbannt worden, wo er sich unterwarf und die Erlaubnis zu einem Studienaufenthalt in Deutschland [* 14] erhielt. Der Dominikaner wollte sich die deutsche Sprache gründlich aneignen, um theologische ¶