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Bühnen sich begnügten, oder wenigstens an dem Mangel an Originalität, der sich dabei fühlbar machte, und so wurde die Neugier der Kritik wie des Publikums auf die Richtung gelenkt, die als »bahnbrechend« mit allen erdenklichen Reklamemitteln auftrat. So gab es endlich in der Theaterchronik des größten Pariser Blattes, des »Temps«, eine fast ständige Rubrik: Théâtre libre, und Francisque Sarcey besprach dessen Schöpfungen so angelegentlich wie diejenigen der Comédie-Française. Er ist der Schule, welche da ihre Experimente macht, nicht im geringsten gewogen und verfehlt nie, auf ihre Übertreibungen, Naivitäten, Roheiten, Verstöße gegen die Anforderungen, die man bisher an eine Bühnenarbeit stellte, hinzuweisen; aber er beschäftigt sich mit ihnen, sucht sie lächerlich zu machen oder kanzelt sie ab, und das ist entschieden ein Fortschritt.
Für einen noch größern Gewinn im Kampfe ums Dasein durften die Anhänger der »freien Bühne« es halten, daß Brasseur, der Komiker und Direktor des Nouveautés-Theaters, wo seit einigen Jahren die ausgelassensten Operetten und Possen gespielt wurden, diese Kunstgattung für im Verfall begriffen erklärte und etwas Neues zu schaffen sich anschickte, was mit dem Théâtre libre innig verwandt war. Brasseur starb an einem Schlagfluß, ehe er seinen Plan durchführen konnte; aber sein Sohn trat in seine Fußstapfen und eröffnete die Spielzeit des Nouveautés-Theaters (im Herbst 1890) mit »Le [* 2] Maître«, einem ländlichen Familiendrama von Jean Jullien, das im letzten Winter eine der bessern Gaben des Théâtre libre war. Er that noch mehr, indem er Antoine mehrere seiner Darsteller entlehnte, die sich in dem Saal am Boulevard des Italiens [* 3] sonderbar genug ausnahmen, aber wenigstens für den Anfang ein dankbares Publikum fanden.
Die »freie
Bühne«, deren Leistungen während des
Winters 1889/90 in
Ibsens
»Gespenstern« gipfelten, hat zweierlei
Kunden: die
Unzufriedenen oder Verkannten, welche mit ihren Werken bei den Theaterdirektoren aus irgend einem
Grunde Unglück hatten,
und die ausgesprochenen Neuerer, die den im
Roman schon ziemlich abgenutzten
Naturalismus auf die
Bretter
bringen
wollen. Zu den erstern gehören
Bergerat mit »Myrane«,
»Capitaine Fracasse« (nach dem gleichnam.
Roman seines Schwiegervaters
Théophile
Gautier),
Jean Aicard mit »Le Père Lebonnard«, Edmond de Goncourt mit »Les frères Zemganno«, Léon Hennique mit »Amour«, einem hochromantischen Ritterstück; in der zweiten Kategorie findet man neben einigen Schriftstellern, denen es bitterer Ernst ist, mutwillige Dilettanten, die es mit den tollsten Einfällen versuchen, als wollten sie erproben, wieviel die Zuhörerschaft verträgt. Lucien Descaves, der wegen seines Romans »Sousoffs« der Beschimpfung des Heeres angeklagt, aber freigesprochen worden war, brachte sein Thema in »Les chapons« wieder vor und verursachte dadurch neuen Skandal; ferner bewährten sich als in der Wolle gefärbte Realisten Oscar Méténier allein in »La casserole«, »En famille«, dann mit Paul Alexis in »Les deux tourtereaux«, Maurice Boniface und Edouard Bodin in »La tante Léontine«, Henry Céard in »La pêche«, Ancey in »L'École des veufs«, Aurélien Scholl in »L'amant de sa femme«, Auguste Linart in »Conte de Noël, mystère moderne«, Julien Sermet in »Belle opération«, größtenteils zotenhaften Dialogen, unter die sich manchmal ein poetisches Phantasiegebilde verirrt, wie die »Reine Fiammette« von Catulle Mendès.
Die Philosophie steuerten bisher fast nur Ausländer bei, neben Ibsen hauptsächlich Tolstoi und Turgenjew (»Fremdes Brot« [* 4] in der Bearbeitung von Ephraim und Willy Schultz),
und Strindberg, dessen »Vater« Emil Zola begeistertes Lob spendete, dürfte bald folgen. Mit reformatorischen Tendenzen trat »La fille Élisa« (von Edmond de Goncourt) in der Bearbeitung eines jungen Advokaten, Jean Ajalbert, auf. Als sie sich dann von der »freien«, geschlossenen Bühne auf eine öffentliche wagte, wurde sie durch die Zensur verboten und der Fall in der Kammer erörtert.
Die große Kunst, insofern unter dieser Bezeichnung dramatische Werke dichterischen Gehalts in entsprechender Form zu verstehen sind, liegt inmitten dieses Ringens und Rennens nach Neuem danieder. Eine solche seltene Gabe bot Henri de Bornier in seinem »Mahomet«; aber er mußte die herbe Enttäuschung erleben, daß die Comédie-Française, wo das Trauerspiel angenommen, ja schon einstudiert worden war, dasselbe, einer Weisung des Auswärtigen Amtes gehorchend, zurücklegte, um den Sultan nicht zu verstummen, welcher dem französischen Botschafter in Konstantinopel [* 5] einen bedeutsamen Wink hatte erteilen lassen.
Die Einakter »Alain Chartier« des Vicomte de Borrelli und »Le premier baiser« von Bergerat waren in dieser Hinsicht glücklicher, auch die »Jeanne d'Arc« von Jules Barbier, wenn dieses durch die musikalischen Einlagen Gounods der neuen Manier der Schauspielerin Sarah Bernhardt angepaßte Drama noch als reine Dichtung gelten darf. Stellenweise lehnt es sich an Schillers »Jungfrau von Orléans« an, mehr als das gleichnamige Werk des Abgeordneten Joseph Fabre, das dagegen einheitlicher und selbständiger auftritt.
»Le comte d'Egmont« von Aderer und »Shylock« von Edmond d'Harancourt sind anerkennenswerte Versuche, fremde Meisterwerke auf französischen Bühnen (beide Bearbeitungen wurden im Odéon, dem zweiten Théâtre-Français, gespielt) einzubürgern, und verdienen aus diesem Grunde Erwähnung. Der letztgenannte der beiden Verfasser, welcher durch das Théâtre libre bekannt wurde, hatte sich auch an eine »Passion« herangewagt und wollte sie auf einer Pariser Bühne mit Sarah Bernhardt in der Rolle der Schmerzensmutter aufführen lassen.
Diesmal waren es die Katholiken, die gegen die Entweihung heiliger Dinge Einsprache erhoben und nicht ermangelten, an die Rücksichten zu erinnern, welche die Regierung soeben dem Herrscher aller Gläubigen und dem religiösen Gefühl ihrer mohammedanischen Unterthanen bewiesen hatte. Sie erreichten ihren Zweck, und Sarah Bernhardt mußte sich damit begnügen, ihre Rolle in einem Karfreitagskonzert zu deklamieren, um doch schließlich von der Opposition erbarmungslos ausgepfiffen zu werden.
Die »Jeanne d'Arc«, die »Jungfrau Maria«, welche sich einbildet, der Inbegriff der französischen Bühnenkunst zu sein, seitdem sie aus Gewinnsucht der wahren Kunst den Rücken gekehrt hat, ist nunmehr »Kleopatra« und wird es zwei Jahre hindurch auf einer Reise um die Welt bleiben. Die »Cléopâtre«, in der sie sich zuerst dem Pariser Publikum zeigte, hat Emile Moreau zum ursprünglichen Verfasser, wurde aber von Sardou nur für die Schauspielerin dermaßen umgestaltet, daß Moreau sein Werk, zu dessen Erfolg Dekorationsmaler, Tapezierer und Schneider Großes beitragen, kaum noch wiedererkennen soll. Hier die äußerste Raffiniertheit, das sichere Merkmal des Sittenverfalls, dort, auf der »freien Bühne«, das andre Extrem, der zum Naturzustand zurückstrebende ¶
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Mensch, den zeitweise nur das Klugreden über seine Instinkte vom Tiere trennt.
Sardous neuestes vieraktiges Drama »Thermidor« wurde in den beiden ersten Aufführungen der Comédie-Française tumultuarisch abgelehnt. Die dritte Wiederholung wurde auf Betreiben einer Gruppe radikaler Deputierter, die in dem Stück eine Verunglimpfung ihrer großen Revolutionshelden sah, von der Regierung verboten, das Verbot aber nach kurzer Zeit wieder aufgehoben. Das schon vor 22 Jahren begonnene, seitdem aus politischen Rücksichten viermal umgearbeitete Werk ist reich an Bühneneffekten, die Handlung aber schwach, die Charakterzeichnung mangelhaft, die Lösung unbefriedigend, und schon ehe der revolutionäre Pöbel gesprochen, hatten feinfühlige Theaterfreunde »Thermidor« verurteilt.
»L'Obstacle« von Alphonse Daudet ist eine mit Freudenthränen abschließende oberflächliche Verarbeitung des düstern Themas, welches Henrik Ibsen in den »Gespenstern« behandelt: die Heimsuchung der Sünden der Väter an den Kindern. Daudet tritt nicht an den Gegenstand heran, um ihn zu vertiefen, sondern um nachzuweisen, daß die Vererbung nur ein beängstigendes Vorurteil ist.
Die bereits angekündigte »Lutte pour la vie«, die dramatische Verwertung des Stoffes, welchen Daudet im »Immortel« behandelte, ist in dieser Gestalt als akademisches Sittenbild nicht wahrer als der Roman, auch kein gut aufgebautes Theaterstück, sondern eine Reihe von Bildern, wie die »Bûcheronne« von Charles Edmond, die aus dem Feuilleton des »Temps« auf die Bühne des Théâtre-Français versetzt wurde, und »Dernier amour« von George Ohnet. Einen ungleich höhern Wert darf man dem »Député Leveau« von Jules Lemaître zugestehen, welches als Bühnenarbeit gedacht und durchgeführt ist, in feinen Charakterzeichnungen das heutige politische Treiben veranschaulicht und nur schwach ist zum Schlusse, ähnlich wie die letztjährige »Révoltée« des geistreichen Schriftstellers.
Was sonst als Sittenbild in Lustspielform über die Bretter geht, ist gewöhnlich bis zum Zerrbild gesteigert, aber mit Geist und Geschick gearbeitet, von zwei und mehr Verfassern zusammen, wenn einer nicht genügt. Da sind: »Ma cousine« von Henri Meilhac, »Les Moulinard« von Ordonneau, Valabrègue und Keroul, »Les provinciales à Paris« [* 7] von Najac und Pol Moreau, »Paris fin de siècle«, »Les femmes des amis« und »Madame Mongodin« von Raoul Toché u. Ernest Blum, »Monsieur [* 8] Betsy« von Méténier und Paul Alexis, »Les Vieux maris« von Antony Mars, [* 9] »Les douze femmes de Japhet« von A. Mars und M. Desvallières, »De fil en aiguille« und »Ferdinand le Noceur« von Léon Gandillot, »Nos jolies fraudeuses« und »Feu Toupinel« von A. Bisson, »Un prix Montyon« und »Madame a ses brevets« von Albin Valabrègue.
Höchst bemerkenswert und mit der Gunst verwandt, der sich alles zu erfreuen hat, was an die »Jungfrau von Orléans« in Wort und Bild erinnert, ist der Reichtum an neuen Militärstücken: »La conspiration du général Malet« (fünf Akte und ein Prolog) von Auge [* 10] de Lassus, »Desaix« (fünf Akte und zehn Bilder) von Gaston Maraud und Péricaud, »Le secret de la Terreuse« (aus den Vendeerkriegen) von William Busnach und Henry Cauvain, »Devant l'ennemi« von Charton, »Le Drapeau« von Emile Moreau und Ernest Depré, »Une conspiration« von Henry Fouquier und Fabrice Carré (nach einem Roman Arthur Rancs),
»Le Regiment« von G. Mary und J. ^[richtig: Jules Mary und Georges Grisier] Grisier, »Marie Stuart, reine d'Écosse« (fünf Akte und acht Bilder) von Cressonnois u. Samson und »Sainte-Russie«, russisch-französisch-chauvinistisches Allianzstück in zehn Bildern, von Gugenheim und Lefaure. Nicht minder ausgiebig ist die Produktion auf dem Gebiet des Volksschauspiels, welche teilweise an Feuilletonromane anlehnt, wie »La Policière« von Xavier de Montépin und Jules Dornay und »Le crime de Jean Morel« von Cressonnois und Charles Samson, »Lucienne«, sozialistisches Drama von Louis de Gramont, »La petite Mionne« (nach Richebourg) von Gaston Marot. Außerdem sind hier noch zu nennen: »Le secret de la victime« von Léon Brésil und Valéry Vernier, »Jack l'Éventreur« (in fünf Akten und sieben Bildern) von Xavier Bertrand und Louis Clairian, »La fermière« von Armand Dartois und Henri Pagat, das letztere mit litterarischen Vorzügen ausgestattet, die man bei Werken dieser Art nicht sucht.
Lyrik. Schwerlich für die Bewunderung der Nachwelt geschaffen, aber dem Empfinden und dem Geschmack der Menge angemessen, welche in der Weltausstellung von 1889 die Besiegelung und Verherrlichung der dritten Republik begrüßt hatte, war die »Ode triomphale«, zu der Augusta Holmès, eine hochbegabte Künstlerin, wie schon zu ihrer Kantate »Pro patria«, dem Beispiel ihres verehrten Meisters Richard Wagner folgend, Musik und Text schrieb. Die entsprechende Ausstattung im Industriepalast, das Naive des leitenden Gedankens, die schön abgestufte Reihenfolge der Chöre jeden Alters und aller Stände, welche die Wohlthaten einer Frieden spendenden Republik priesen, ließen die Mängel der Dichtung vergessen, die übrigens da, wo sie etwas kindisch erscheint, es nicht mehr ist, als ähnliche Ergüsse des Propheten und Sehers der Republik, Victor Hugo.
Seitdem er gestorben, erlahmt die lyrische Dichtung sichtlich oder verirrt sich in die unwirtlichen, sprachlich barbarischen Regionen der décadents, es sei denn, daß sie unterwegs im »Chat noir« hängen bleibe, einer seltsamen Herberge, wo Künstler und Verseschmiede verkehren und poetisch-musikalische Parodien und »Mysterien« aufführen, wie die abwechselnd sinnige und ausgelassene »Marche à l'Étoile« von Georges Fragerolle, die »Phryné« von Maurice Donnay und der »Roland«, Oratorio in drei Akten, Dichtung von Georges d'Esparbès, Musik von Charles de Sivry.
Noch viel bemerkenswerter, formell wahrhaft schön und eigenartig in der Empfindung sind die dramatisch-lyrisch-humoristschen Dichtungen: »Tobie« und »Le mystère de la Nativité«, welche Maurice Bouchor zum Verfasser haben, von den lebensgroßen Marionetten Signorets in einer von Künstlern, wie Felix Bouchor, Lerolle, Marcel Rieder, gemalten Szenerie gespielt und in den Kulissen von Maurice Bouchor selbst und seinen Freunden Jean Richepin, Ponchon und Felix Robbe vorgetragen werden.
Einer frühern Generation gehört Théodore de Banville an, der Verfasser der »Cariatides« und der »Camées«; aber er ist noch immer jung in seinen »Sonnailles et Clochettes« und ein Dichter in der »Ame de Paris«, obwohl diese in ungebundener Rede auftritt. Es gehörte ein gewisser Mut dazu, den mehrmals gemachten Versuch zu wiederholen und Heines »Lyrisches Intermezzo« ins Französische zu übersetzen. Diesen Mut besaßen Guy Ropartz und P. R. Hirsch. [* 11] Sie wollten minder sklavisch verfahren als andre und gaben weniger eine wortgetreue Übersetzung als eine Bearbeitung (»œuvre composée d'après le poëme célèbre de Heine«). ¶