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zugleich die wilde Bestie im Menschen, einen atavistischen Trieb, zu vernichten und zu töten, weckt. Damit langt der Dichter, dessen Arbeitsweise schon genugsam bekannt ist, beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges an: auf der letzten Seite des Buches rast ein mit betrunkenen, johlenden Soldaten vollgepfropfter Zug hinter einer führerlosen Lokomotive [* 2] her, deren Maschinist und Heizer sich unterwegs umgebracht haben, dem Verhängnis auf blutigen Schlachtfeldern entgegen.
Der nächste Band [* 3] wird nun selbstverständlich ein Kriegsbild bringen, ein so unparteiisches, verspricht Zola, wie noch keins dagewesen ist. Neben seiner ungeschlachten Titanenthat nehmen sich die beiden Romane, welche mit der »Bête humaine« den Vorzug teilten, die meist gelesenen zu sein, »Cœur de femme« von Paul Bourget und »Notre cœur« von Guy de Maupassant, fast wie Miniaturen aus, und das sind sie auch gewissermaßen mit ihrer Kleinmalerei von Empfindungen und Dingen.
In dem »Frauenherzen« will der Liebling der Salonwelt den Beweis erbringen, daß ein tief angelegtes, geistig und seelisch vornehmes Wesen zwei Männer zugleich lieben kann, ein niedergehendes und ein aufgehendes Gestirn. Das Ende ist tragisch: die Heldin erkennt zu spät ihren Irrtum und büßt ihn mittelalterlich, aber darum nicht minder »fin de siècle«, im Kloster ab. »Notre cœur« zeigt ebenfalls ein Frauenbild, welches dieser seit kurzem erfundenen Kategorie angehört, aber im Rahmen der aristokratischen Gesellschaft, während es bei Bourget in die große Finanzwelt hinüberragen muß.
Die geistig vielgeschäftige Kokette will nur Liebe wecken, selbst jedoch nichts geben, und macht damit einen naiven jungen Mann unglücklich, bis er durch ein schlichtes Naturkind geheilt wird. So geht es fort mit den psychologischen Studien ohne äußere Handlung und einer mehr konventionellen als wahren Vertiefung. Hierin erreicht Edouard Rod das äußerste mit »Les trois cœurs«, einem der traurigsten Selbstbekenntnisse in Romanform, welches in seinem Egoismus nicht grausamer und in seiner Grübelei nicht gewundener sein könnte. Dieser »Intuitivismus«, wie Rod seine und seiner Mitstrebenden Manier getauft hat, ist fürchterlich und kann durch die Sucht, alle Regungen zu belauschen und pessimistisch zu zerlegen, unerquicklicher werden als der derbste Realismus. Nach seiner Entstehung noch jung, aber alt und flügellahm in seinem innersten Wesen, weiß er nur noch über die Fatalität der menschlichen Anlagen zu stöhnen und leitet daraus seine laxe Moral und die Ereignisse ab.
Daneben bewährte sich der alte Weltmann Octave Feuillet noch immer in »Honneur d'artiste«, dem letzten Werk vor seinem Tode, indes Ferdinand Fabre in seinem »Abbé Roitelet« und in »Xavière« wieder sehr anmutige Geschichten aus Pfarrhaus und Cevennenwildnis, in »Un Illuminé« einen mystisch-aristokratischen Roman erzählte und Emile Pouvillon in »Chante-Pleure« nach vielen das Beste lieferte, was man bisher von diesem Idyllendichter kannte. Hector Malot bleibt in »Mère« seiner Gewohnheit treu, Vorkommnisse aus dem bürgerlichen Alltagsleben künstlerisch zu verwerten.
Dieses Bild aus der reichen Geschäftswelt erinnert mit der Zuziehung des Irrenarztes gegen den Hausherrn, welcher sich den Launen der Seinigen nicht fügt, an einen öffentlichen Skandal der letzten Jahre und beleuchtet die Irrengesetzgebung von ihrer schwächsten und darum gefährlichsten Seite. An einen ähnlichen Stoff tritt Alexander Hepp in »Chaos« heran, aber mit mehr Schärfe; denn während in »Mère« die Gerechtigkeit schließlich obsiegt, geht der rechtschaffene Vater in »Chaos« unter und schnellt sein Sohn, ein Jobber und Betrüger, nach kurzem Verschwinden wieder an die Bildfläche empor.
»Cadet« von Jean Richepin ist ebenfalls eine Familiengeschichte dunkelster Art, eine bäuerliche Schicksalstragödie, verfaßt in einer malerisch mit Provinzialismen aus der Picardie, wo die Handlung spielt, durchzogenen Kraftsprache. Ein neuer Roman des Akademikers Jules Claretie: »Puyjoli«, scheint aus alten Schubladen hervorgekramt zu sein, »Port Tarascon« von A. Daudet, das Ende seines »Tartarin«, bleibt weit hinter dem Anfang, »Tartarin de Tarascon«, zurück, wie anderseits »Dernier amour« von Georges Ohnet sich durch kein Merkmal von der sonstigen Vielschreiberei dieses Glückskindes auszeichnet.
Obwohl die Produktion niemals stockt und jeder Tag mehrere Romane, nach einer kürzlich aufgestellten Statistik 20, auf den Markt wirft, so war das Jahr an hervorragenden Werken entschieden arm. Manche der jungen Schriftsteller hielten weniger, als man von ihnen erwarten durfte, vielleicht weil sie sich für ihre Schöpfungen nicht die nötige Muße gönnen; so Abel Hermant in »Cœurs à part«, Robert de Bonnières in »Le [* 4] petit Margemont«, Paul Hervieu in »Flirt«, während andre wiederum in ihren wahr sein wollenden Schilderungen weit über das Ziel hinausschossen, wie Octave Mirbeau in »Sébastien Roch«, Rosny in »Le Termite«, Hugues Le Roux in »Les larrons«, Paul Alexis in »Madame Meuriot«, Edgar Monteil in »Une tournée dramatique«, Maurice de Fleury in »Amours de savants«, Dubut de Laforest in »Colette et Renée«.
Diesen sind die Militärschriftsteller Lucien Descaves, Reibrach, Draux anzureihen, welche es darauf anzulegen scheinen, die Kaserne und den Militärdienst bei der wehrpflichtigen Jugend verhaßt zu machen (»Sousoffs«, »La Gamelle«, »Le soldat Chapuzot«). Nur als Kuriosum sei noch des »Magiers« Joséphin Péladan erwähnt, eines Jüngers des verstorbenen Barbey d'Aurévilly, welcher es dem Meister noch weit zuvorthut an Absonderlichkeit in seiner Litteratur, aber ebensoweit hinter ihm zurückbleibt, wo es sich um wahres Talent und auch um die Würde seines bürgerlichen Daseins handelt.
Der Magier hat schon eine ganze Reihe haarsträubender Romane geschrieben, deren erster »Le vice suprême« war, und deren letzter, der 14., »La vertu suprême« heißen soll. Die Titel der Zwischenglieder sind: »Curieuse«, »L'initiation sentimentale«, »A cœur perdu«, »Istar«, »La victoire du mari«, »Cœur en peine«, »L'Androgyne«, »La Gynandre«, »Le Panthée«, »Typhonia«, »Le dernier Bourbon«, »La lamentation d'Ilou«. Die sieben ersten Bände liegen schon fertig vor, die übrigen harren der Vollendung. Péladan, der sich als Rosenkranzritter Sar Merodack nennt, will Frankreich umgestalten durch einen Katholizismus, der mit der Kabbala verschweißt wäre, dem einzig Guten, was das ihm verhaßte Judentum auf die Jetztzeit herübergebracht hat, und predigt daneben die wunderlichsten Liebestheorien, welche ein zerrüttetes Nervensystem je erträumte.
Dramatische Litteratur. Lyrik.
Es ist sehr bezeichnend, wenn auch keineswegs erfreulich, daß die »freie Bühne« mit den Werken, die sie zur Aufführung brachte, im verflossenen Jahre eine Beachtung fand, die ihre Förderer selbst kaum erwartet hatten. Vielleicht lag dies an der Nichtigkeit der dramatischen Arbeiten, mit denen die meisten ¶
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Bühnen sich begnügten, oder wenigstens an dem Mangel an Originalität, der sich dabei fühlbar machte, und so wurde die Neugier der Kritik wie des Publikums auf die Richtung gelenkt, die als »bahnbrechend« mit allen erdenklichen Reklamemitteln auftrat. So gab es endlich in der Theaterchronik des größten Pariser Blattes, des »Temps«, eine fast ständige Rubrik: Théâtre libre, und Francisque Sarcey besprach dessen Schöpfungen so angelegentlich wie diejenigen der Comédie-Française. Er ist der Schule, welche da ihre Experimente macht, nicht im geringsten gewogen und verfehlt nie, auf ihre Übertreibungen, Naivitäten, Roheiten, Verstöße gegen die Anforderungen, die man bisher an eine Bühnenarbeit stellte, hinzuweisen; aber er beschäftigt sich mit ihnen, sucht sie lächerlich zu machen oder kanzelt sie ab, und das ist entschieden ein Fortschritt.
Für einen noch größern Gewinn im Kampfe ums Dasein durften die Anhänger der »freien Bühne« es halten, daß Brasseur, der Komiker und Direktor des Nouveautés-Theaters, wo seit einigen Jahren die ausgelassensten Operetten und Possen gespielt wurden, diese Kunstgattung für im Verfall begriffen erklärte und etwas Neues zu schaffen sich anschickte, was mit dem Théâtre libre innig verwandt war. Brasseur starb an einem Schlagfluß, ehe er seinen Plan durchführen konnte; aber sein Sohn trat in seine Fußstapfen und eröffnete die Spielzeit des Nouveautés-Theaters (im Herbst 1890) mit »Le Maître«, einem ländlichen Familiendrama von Jean Jullien, das im letzten Winter eine der bessern Gaben des Théâtre libre war. Er that noch mehr, indem er Antoine mehrere seiner Darsteller entlehnte, die sich in dem Saal am Boulevard des Italiens [* 6] sonderbar genug ausnahmen, aber wenigstens für den Anfang ein dankbares Publikum fanden.
Die »freie Bühne«, deren Leistungen während des Winters 1889/90 in Ibsens »Gespenstern« gipfelten, hat zweierlei Kunden: die Unzufriedenen oder Verkannten, welche mit ihren Werken bei den Theaterdirektoren aus irgend einem Grunde Unglück hatten, und die ausgesprochenen Neuerer, die den im Roman schon ziemlich abgenutzten Naturalismus auf die Bretter bringen wollen. Zu den erstern gehören Bergerat mit »Myrane«, »Capitaine Fracasse« (nach dem gleichnam. Roman seines Schwiegervaters Théophile Gautier),
Jean Aicard mit »Le Père Lebonnard«, Edmond de Goncourt mit »Les frères Zemganno«, Léon Hennique mit »Amour«, einem hochromantischen Ritterstück; in der zweiten Kategorie findet man neben einigen Schriftstellern, denen es bitterer Ernst ist, mutwillige Dilettanten, die es mit den tollsten Einfällen versuchen, als wollten sie erproben, wieviel die Zuhörerschaft verträgt. Lucien Descaves, der wegen seines Romans »Sousoffs« der Beschimpfung des Heeres angeklagt, aber freigesprochen worden war, brachte sein Thema in »Les chapons« wieder vor und verursachte dadurch neuen Skandal; ferner bewährten sich als in der Wolle gefärbte Realisten Oscar Méténier allein in »La casserole«, »En famille«, dann mit Paul Alexis in »Les deux tourtereaux«, Maurice Boniface und Edouard Bodin in »La tante Léontine«, Henry Céard in »La pêche«, Ancey in »L'École des veufs«, Aurélien Scholl in »L'amant de sa femme«, Auguste Linart in »Conte de Noël, mystère moderne«, Julien Sermet in »Belle opération«, größtenteils zotenhaften Dialogen, unter die sich manchmal ein poetisches Phantasiegebilde verirrt, wie die »Reine Fiammette« von Catulle Mendès.
Die Philosophie steuerten bisher fast nur Ausländer bei, neben Ibsen hauptsächlich Tolstoi und Turgenjew (»Fremdes Brot« [* 7] in der Bearbeitung von Ephraim und Willy Schultz),
und Strindberg, dessen »Vater« Emil Zola begeistertes Lob spendete, dürfte bald folgen. Mit reformatorischen Tendenzen trat »La fille Élisa« (von Edmond de Goncourt) in der Bearbeitung eines jungen Advokaten, Jean Ajalbert, auf. Als sie sich dann von der »freien«, geschlossenen Bühne auf eine öffentliche wagte, wurde sie durch die Zensur verboten und der Fall in der Kammer erörtert.
Die große Kunst, insofern unter dieser Bezeichnung dramatische Werke dichterischen Gehalts in entsprechender Form zu verstehen sind, liegt inmitten dieses Ringens und Rennens nach Neuem danieder. Eine solche seltene Gabe bot Henri de Bornier in seinem »Mahomet«; aber er mußte die herbe Enttäuschung erleben, daß die Comédie-Française, wo das Trauerspiel angenommen, ja schon einstudiert worden war, dasselbe, einer Weisung des Auswärtigen Amtes gehorchend, zurücklegte, um den Sultan nicht zu verstummen, welcher dem französischen Botschafter in Konstantinopel [* 8] einen bedeutsamen Wink hatte erteilen lassen.
Die Einakter »Alain Chartier« des Vicomte de Borrelli und »Le premier baiser« von Bergerat waren in dieser Hinsicht glücklicher, auch die »Jeanne d'Arc« von Jules Barbier, wenn dieses durch die musikalischen Einlagen Gounods der neuen Manier der Schauspielerin Sarah Bernhardt angepaßte Drama noch als reine Dichtung gelten darf. Stellenweise lehnt es sich an Schillers »Jungfrau von Orléans« an, mehr als das gleichnamige Werk des Abgeordneten Joseph Fabre, das dagegen einheitlicher und selbständiger auftritt.
»Le comte d'Egmont« von Aderer und »Shylock« von Edmond d'Harancourt sind anerkennenswerte Versuche, fremde Meisterwerke auf französischen Bühnen (beide Bearbeitungen wurden im Odéon, dem zweiten Théâtre-Français, gespielt) einzubürgern, und verdienen aus diesem Grunde Erwähnung. Der letztgenannte der beiden Verfasser, welcher durch das Théâtre libre bekannt wurde, hatte sich auch an eine »Passion« herangewagt und wollte sie auf einer Pariser Bühne mit Sarah Bernhardt in der Rolle der Schmerzensmutter aufführen lassen.
Diesmal waren es die Katholiken, die gegen die Entweihung heiliger Dinge Einsprache erhoben und nicht ermangelten, an die Rücksichten zu erinnern, welche die Regierung soeben dem Herrscher aller Gläubigen und dem religiösen Gefühl ihrer mohammedanischen Unterthanen bewiesen hatte. Sie erreichten ihren Zweck, und Sarah Bernhardt mußte sich damit begnügen, ihre Rolle in einem Karfreitagskonzert zu deklamieren, um doch schließlich von der Opposition erbarmungslos ausgepfiffen zu werden.
Die »Jeanne d'Arc«, die »Jungfrau Maria«, welche sich einbildet, der Inbegriff der französischen Bühnenkunst zu sein, seitdem sie aus Gewinnsucht der wahren Kunst den Rücken gekehrt hat, ist nunmehr »Kleopatra« und wird es zwei Jahre hindurch auf einer Reise um die Welt bleiben. Die »Cléopâtre«, in der sie sich zuerst dem Pariser Publikum zeigte, hat Emile Moreau zum ursprünglichen Verfasser, wurde aber von Sardou nur für die Schauspielerin dermaßen umgestaltet, daß Moreau sein Werk, zu dessen Erfolg Dekorationsmaler, Tapezierer und Schneider Großes beitragen, kaum noch wiedererkennen soll. Hier die äußerste Raffiniertheit, das sichere Merkmal des Sittenverfalls, dort, auf der »freien Bühne«, das andre Extrem, der zum Naturzustand zurückstrebende ¶