vermehrt hatten. Das lag aber daran, daß Frankreich nur 36 Proz. seines Marinebudgets
auf den Schiffbau verwendete, Deutschland z. B. über 50 Proz. Erfolgreicher war die rastlose
Thätigkeit der Regierung für das Landheer. Der Kriegsminister Freycinet führte eine wichtige Reform durch, indem er die Befugnisse
des Chefs des Generalstabs der Armee erheblich erweiterte, so daß er eine selbständige Stellung neben dem
Kriegsminister erhielt, und zum Chef des Generalstabs den General Miribel ernannte, welcher für den fähigsten General der französischen
Armee galt.
Nachdem die außerordentlichen Ausgaben des Kriegsbudgets 1871 bis 1890 die Höhe von 2764 Mill. Fr. erreicht hatten, wurde
für 1891 beschlossen, künftig das außerordentliche Kriegsbudget abzuschaffen und die Mehrkosten durch
die Mehrerträge der Zölle und Steuern zu decken. Um dies zu erleichtern, nahm der Budgetausschuß bei den außerordentlichen
Ausgaben des Kriegsbudgets erhebliche Abstriche vor und erzielte dadurch eine Verminderung des Regierungsansatzes um 77 Mill.
Fr., während die laufenden Ausgaben sich erhöhten, da der Präsenzstand der Armee 1891 um 10,000 Mann
vermehrt wurde.
Der Präsident Carnot und die Regierung betonten bei jeder Gelegenheit, daß Frankreich nur den Frieden wolle und seine Aufrechterhaltung
hoffe. Ohne Zweifel meinten sie es aufrichtig, und auch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung war gewiß friedliebend.
Nicht wenig trug dazu der bedeutende Aufschwung von Gewerbe und Handel seit 1889 bei. Aber trotz des Zusammbruches
des Boulangismus und der Patriotenliga wurden immer wieder Äußerungen der Revanchelust in der Presse und in öffentlichen
Reden offizieller Persönlichkeiten, besonders aus den Kreisen der Armee und Marine, laut, welchen die Regierung nicht entgegentreten
wollte oder konnte.
Außer gegen Deutschland richtete sich der französische Neid und die altgewohnte Anmaßung gegen Italien, dessen Beitritt zum
Dreibund als eine Beleidigung Frankreichs angesehen wurde, während man den erhofften Bundesgenossen im Kampfe gegen Deutschland,
Rußland, mit Schmeicheleien und Zuvorkommenheiten in einer Weise überhäufte, die schließlich selbst in Frankreich Mißbilligung
fand, zumal der Zar und die russische Regierung sie in keiner Weise erwiderten. Rußland zuliebe wurde Frankreich sogar seiner frühern
Orientpolitik ungetreu.
In dem Wetteifer der europäischen Mächte, sich möglichst großen Besitz in Afrika zu sichern, wollte auch Frankreich nicht zurückbleiben.
Das deutsch-englische Abkommen vom gab ihm Anlaß, einzugreifen, indem die in diesem England zugestandene
Schutzherrschaft über Sansibar einem Vertrag zwischen und England vom widersprach, welcher die Unabhängigkeit Sansibars
für alle Zeit verbürgte. England verstand sich zu Verhandlungen, welche 5. Aug. zu einem Abkommen führten, wonach Frankreich die Schutzherrschaft
Englands über Sansibar, dieses die französische über Madagaskar anerkannte und die Ausdehnung des französischen
Einflußgebiets von Algier bis zum Niger und dem Tsadsee zugestand; über Ägypten, auf welches Frankreich nicht verzichten wollte,
wurde nichts ausgemacht. Mit dem König von Dahomé, mit welchem im Sommer 1890 ein Krieg ausgebrochen war, wurde im Oktober
Frieden geschlossen und der Besitz von Hotonu sowie das Protektorat über Porto novo gesichert.
Die Kammer beschäftigte sich nach ihrem Wiederzusammentritt im Herbst 1890 mit der Beratung des Budgets für 1891 und des neuen
Zolltarifs, der nach Kündigung aller Handelsverträge bis Frankreich seine volle wirtschaftliche
Unabhängigkeit verbürgen
sollte. Bei der Festsetzung der Sätze desselben ging die Mehrheit der Kammer vielfach weit über die Vorschläge
der Regierung in schutzzöllnerischem Sinne hinaus. Das Budget bewilligten diesmal auch mehrere Konservative, die sich damit
auf den Boden der republikanischen Verfassung stellten. Ja sogar mehrere Bischöfe, namentlich der Erzbischof von Algier, Kardinal
Lavigerie, erklärten sich für die Republik, da der monarchische Geist in Frankreich nun einmal erloschen sei,
nachdem die Vertreter der Monarchie, besonders die Orléans, sich so unfähig und unentschlossen gezeigt und durch den Bund
mit Boulanger ihre Sache unheilbar kompromittiert hatten.
Die gemäßigten Republikaner sahen darin ein gutes Zeichen für die Befestigung der französischen Zustände,
und die Neuwahlen für den Senat Anfang Januar 1891 fielen zu gunsten der Republik aus. Die Radikalen freilich fühlten sich dadurch
nur ermutigt, ihre extremen Ansprüche auf ausschließliche Herrschaft zu erneuern, wie ein Vorfall im Théâtre-Français
Ende Januar zeigte. Als hier ein Drama Sardous, »Thermidor«, aufgeführt wurde, welches die Schreckensherrschaft
mit ihren Greueln schilderte (s. unten, S. 309), verlangten sie das Verbot desselben und setzten
es durch.
Dieser Erfolg ermutigte die Boulangisten, sich wieder einmal bemerkbar zu machen. Mehrere französische Maler hatten sich
bereit erklärt, die internationale Kunstausstellung in Berlin 1891 zu beschicken, und die Kaiserin Friedrich
besuchte im Februar Paris, um für diese Beschickung weiter zu wirken. Da berief Deroulède die Anhänger der aufgelösten Patriotenliga
zu einer Versammlung, die gegen die Beschickung einer Berliner Ausstellung durch französische Künstler und den Besuch der
Kaiserin protestierte. Zu Insulten gegen die Kaiserin, die 27. Febr. ihre Reise nach London fortsetzte, kam es
nicht, aber die Künstler beugten sich dem Verdikt der Versammlung und zogen ihre Zusage zurück. Wiederum zeigte es sich,
daß alles Entgegenkommen Deutschlands, um ein freundlicheres Verhältnis zu ermöglichen, vergeblich war und das Geschrei
einiger Fanatiker der Revanche genügte, um die Regierung und die verständigen, friedliebenden Kreise einzuschüchtern.
Zur Litteratur: Levasseur, Histoire de la population avant 1789 et démographie de la France comparée à celle des autres nations
au XIX. siècle (Par. 1889-91,3 Bde.);
Cartailhac, La France préhistorique (das. 1889);
Viollet, Histoire des institutions politiques et administratives de la France
(das. 1890 ff.);
P. Luce, La France pendant la guerre de cent ans (das. 1890);
Guglia, Die konservativen
Elemente Frankreichs am Vorabend der Revolution (Gotha 1890);
Cucheval-Clarigny, Les finances de la France de 1870 à 1891 (Par.
1890);
Mataigne, Nouvelle géographie de la France (das. 1890);
Chuquet, Les guerres de la Révolution (in Einzelschriften, bis
jetzt 5 Tle.; das. 1886-91).
Litteratur1889-90. Auf dem Gebiet des Romans behauptete unstreitig den Vortritt Zolas »Bête humaine«,
eine gewaltige Eisenbahntragödie, welche außer der ganzen Technik des Betriebs auf der viel befahrenen
Linie zwischen Paris und Havre eine Reihe von Männern und Frauen vorführt, bei denen der Instinkt der Geschlechtsliebe
mehr
zugleich die wilde Bestie im Menschen, einen atavistischen Trieb, zu vernichten und zu töten, weckt. Damit langt der Dichter,
dessen Arbeitsweise schon genugsam bekannt ist, beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges an: auf der letzten Seite
des Buches rast ein mit betrunkenen, johlenden Soldaten vollgepfropfter Zug
hinter einer führerlosen Lokomotive her,
deren Maschinist und Heizer sich unterwegs umgebracht haben, dem Verhängnis auf blutigen Schlachtfeldern entgegen.
Der nächste Band wird nun selbstverständlich ein Kriegsbild bringen, ein so unparteiisches, verspricht Zola, wie noch keins
dagewesen ist. Neben seiner ungeschlachten Titanenthat nehmen sich die beiden Romane, welche mit der »Bête humaine« den Vorzug
teilten, die meist gelesenen zu sein, »Cœur de femme« von Paul Bourget und »Notre cœur« von Guy de Maupassant,
fast wie Miniaturen aus, und das sind sie auch gewissermaßen mit ihrer Kleinmalerei von Empfindungen und Dingen.
In dem »Frauenherzen« will der Liebling der Salonwelt den Beweis erbringen, daß ein tief angelegtes, geistig
und seelisch vornehmes Wesen zwei Männer zugleich lieben kann, ein niedergehendes und ein aufgehendes Gestirn. Das Ende ist
tragisch: die Heldin erkennt zu spät ihren Irrtum und büßt ihn mittelalterlich, aber darum nicht minder »fin de siècle«,
im Kloster ab. »Notre cœur« zeigt ebenfalls ein Frauenbild, welches dieser seit kurzem erfundenen Kategorie
angehört, aber im Rahmen der aristokratischen Gesellschaft, während es bei Bourget in die große Finanzwelt hinüberragen
muß.
Die geistig vielgeschäftige Kokette will nur Liebe wecken, selbst jedoch nichts geben, und macht damit einen naiven jungen
Mann unglücklich, bis er durch ein schlichtes Naturkind geheilt wird. So geht es fort mit den psychologischen
Studien ohne äußere Handlung und einer mehr konventionellen als wahren Vertiefung. Hierin erreicht Edouard Rod das äußerste
mit »Les trois cœurs«, einem der traurigsten Selbstbekenntnisse in Romanform,
welches in seinem Egoismus nicht grausamer und in seiner Grübelei nicht gewundener sein könnte. Dieser »Intuitivismus«,
wie Rod seine und seiner Mitstrebenden Manier getauft hat, ist fürchterlich und kann durch die Sucht, alle
Regungen zu belauschen und pessimistisch zu zerlegen, unerquicklicher werden als der derbste Realismus. Nach seiner Entstehung
noch jung, aber alt und flügellahm in seinem innersten Wesen, weiß er nur noch über die Fatalität der menschlichen
Anlagen zu stöhnen und leitet daraus seine laxe Moral und die Ereignisse ab.
Daneben bewährte sich der alte Weltmann Octave Feuillet noch immer in »Honneur d'artiste«, dem letzten Werk vor seinem Tode,
indes Ferdinand Fabre in seinem »Abbé Roitelet« und in »Xavière« wieder sehr anmutige Geschichten aus Pfarrhaus und Cevennenwildnis,
in »Un Illuminé« einen mystisch-aristokratischen Roman erzählte und Emile Pouvillon in »Chante-Pleure« nach vielen das Beste
lieferte, was man bisher von diesem Idyllendichter kannte. Hector Malot bleibt in »Mère« seiner Gewohnheit treu, Vorkommnisse
aus dem bürgerlichen Alltagsleben künstlerisch zu verwerten.
Dieses Bild aus der reichen Geschäftswelt erinnert mit der Zuziehung des Irrenarztes gegen den Hausherrn,
welcher sich den Launen der Seinigen nicht fügt, an einen öffentlichen Skandal der letzten Jahre und beleuchtet die Irrengesetzgebung
von ihrer schwächsten und darum gefährlichsten Seite. An einen ähnlichen Stoff tritt Alexander Hepp in »Chaos« heran, aber
mit mehr Schärfe; denn während in »Mère« die Gerechtigkeit schließlich obsiegt, geht der rechtschaffene
Vater in »Chaos« unter und schnellt sein Sohn, ein Jobber und Betrüger, nach kurzem Verschwinden wieder an die Bildfläche empor.
»Cadet« von Jean Richepin ist ebenfalls eine Familiengeschichte dunkelster Art, eine bäuerliche Schicksalstragödie, verfaßt
in einer malerisch mit Provinzialismen aus der Picardie, wo die Handlung spielt, durchzogenen Kraftsprache.
Ein neuer Roman des Akademikers Jules Claretie: »Puyjoli«, scheint aus alten Schubladen hervorgekramt zu
sein, »Port Tarascon« von A. Daudet, das Ende seines »Tartarin«, bleibt weit hinter dem Anfang,
»Tartarin de Tarascon«, zurück, wie anderseits »Dernier amour« von Georges Ohnet sich durch kein Merkmal von der sonstigen
Vielschreiberei dieses Glückskindes auszeichnet.
Obwohl die Produktion niemals stockt und jeder Tag mehrere Romane, nach einer kürzlich aufgestellten Statistik 20, auf den Markt
wirft, so war das Jahr an hervorragenden Werken entschieden arm. Manche der jungen Schriftsteller hielten weniger, als man
von ihnen erwarten durfte, vielleicht weil sie sich für ihre Schöpfungen nicht die nötige Muße gönnen;
so Abel Hermant in »Cœurs à part«, Robert de Bonnières in »Le petit Margemont«, Paul Hervieu in »Flirt«, während andre wiederum
in ihren wahr sein wollenden Schilderungen weit über das Ziel hinausschossen, wie Octave Mirbeau in »Sébastien Roch«, Rosny
in »Le Termite«, Hugues Le Roux in »Les larrons«, Paul Alexis in »Madame Meuriot«, Edgar Monteil in »Une tournée
dramatique«, Maurice de Fleury in »Amours de savants«, Dubut de Laforest in »Colette et Renée«.
Diesen sind die Militärschriftsteller Lucien Descaves, Reibrach, Draux anzureihen, welche es darauf anzulegen scheinen,
die Kaserne und den Militärdienst bei der wehrpflichtigen Jugend verhaßt zu machen (»Sousoffs«, »La
Gamelle«, »Le soldat Chapuzot«). Nur als Kuriosum sei noch des »Magiers« Joséphin Péladan erwähnt, eines Jüngers des verstorbenen
Barbey d'Aurévilly, welcher es dem Meister noch weit zuvorthut an Absonderlichkeit in seiner Litteratur, aber ebensoweit hinter
ihm zurückbleibt, wo es sich um wahres Talent und auch um die Würde seines bürgerlichen Daseins handelt.
Der Magier hat schon eine ganze Reihe haarsträubender Romane geschrieben, deren erster »Le vice suprême« war, und deren
letzter, der 14., »La vertu suprême« heißen soll. Die Titel der Zwischenglieder sind: »Curieuse«, »L'initiation
sentimentale«, »A cœur perdu«, »Istar«, »La victoire du mari«, »Cœur en peine«, »L'Androgyne«, »La
Gynandre«, »Le Panthée«, »Typhonia«,
»Le dernier Bourbon«, »La lamentation d'Ilou«. Die sieben ersten Bände liegen schon fertig vor, die übrigen harren der Vollendung.
Péladan, der sich als Rosenkranzritter Sar Merodack nennt, will Frankreich umgestalten durch einen Katholizismus, der mit
der Kabbala verschweißt wäre, dem einzig Guten, was das ihm verhaßte Judentum auf die Jetztzeit herübergebracht
hat, und predigt daneben die wunderlichsten Liebestheorien, welche ein zerrüttetes Nervensystem je erträumte.
Dramatische Litteratur. Lyrik.
Es ist sehr bezeichnend, wenn auch keineswegs erfreulich, daß die »freie Bühne« mit den Werken, die sie zur Aufführung
brachte, im verflossenen Jahre eine Beachtung fand, die ihre Förderer selbst kaum erwartet hatten. Vielleicht
lag dies an der Nichtigkeit der dramatischen Arbeiten, mit denen die meisten
mehr
Bühnen sich begnügten, oder wenigstens an dem Mangel an Originalität, der sich dabei fühlbar machte, und so wurde
die Neugier der Kritik wie des Publikums auf die Richtung gelenkt, die als »bahnbrechend« mit allen erdenklichen Reklamemitteln
auftrat. So gab es endlich in der Theaterchronik des größten Pariser Blattes, des »Temps«, eine fast ständige
Rubrik: Théâtre libre, und Francisque Sarcey besprach dessen Schöpfungen so angelegentlich wie diejenigen der Comédie-Française.
Er ist der Schule, welche da ihre Experimente macht, nicht im geringsten gewogen und verfehlt nie, auf ihre Übertreibungen,
Naivitäten, Roheiten, Verstöße gegen die Anforderungen, die man bisher an eine Bühnenarbeit stellte,
hinzuweisen; aber er beschäftigt sich mit ihnen, sucht sie lächerlich zu machen oder kanzelt sie ab, und das ist entschieden
ein Fortschritt.
Für einen noch größern Gewinn im Kampfe ums Dasein durften die Anhänger der »freien Bühne« es halten, daß Brasseur, der
Komiker und Direktor des Nouveautés-Theaters, wo seit einigen Jahren die ausgelassensten Operetten und Possen
gespielt wurden, diese Kunstgattung für im Verfall begriffen erklärte und etwas Neues zu schaffen sich anschickte, was mit
dem Théâtre libre innig verwandt war. Brasseur starb an einem Schlagfluß, ehe er seinen Plan durchführen konnte; aber sein
Sohn trat in seine Fußstapfen und eröffnete die Spielzeit des Nouveautés-Theaters (im Herbst 1890)
mit »Le Maître«, einem ländlichen Familiendrama von Jean Jullien, das im letzten Winter eine der bessern Gaben des Théâtre libre
war. Er that noch mehr, indem er Antoine mehrere seiner Darsteller entlehnte, die sich in dem Saal am Boulevard des Italiens
sonderbar genug ausnahmen, aber wenigstens für den Anfang ein dankbares Publikum fanden.
Die »freie Bühne«, deren Leistungen während des Winters 1889/90 in Ibsens »Gespenstern« gipfelten, hat zweierlei Kunden: die
Unzufriedenen oder Verkannten, welche mit ihren Werken bei den Theaterdirektoren aus irgend einem Grunde Unglück hatten,
und die ausgesprochenen Neuerer, die den im Roman schon ziemlich abgenutzten Naturalismus auf die Bretter
bringen wollen. Zu den erstern gehören Bergerat mit »Myrane«, »Capitaine Fracasse« (nach dem gleichnam. Roman seines Schwiegervaters
Théophile Gautier),
Jean Aicard mit »Le Père Lebonnard«, Edmond de Goncourt mit »Les frères Zemganno«, Léon Hennique mit »Amour«,
einem hochromantischen Ritterstück; in der zweiten Kategorie findet man neben einigen Schriftstellern,
denen es bitterer Ernst ist, mutwillige Dilettanten, die es mit den tollsten Einfällen versuchen, als wollten sie erproben,
wieviel die Zuhörerschaft verträgt. Lucien Descaves, der wegen seines Romans »Sousoffs« der Beschimpfung des Heeres angeklagt,
aber freigesprochen worden war, brachte sein Thema in »Les chapons« wieder vor und verursachte
dadurch neuen Skandal; ferner bewährten sich als in der Wolle gefärbte Realisten Oscar Méténier allein in »La casserole«,
»En famille«, dann mit Paul Alexis in »Les deux tourtereaux«, Maurice Boniface und Edouard Bodin in »La tante Léontine«, Henry
Céard in »La pêche«, Ancey in »L'École
des veufs«, Aurélien Scholl in »L'amant de sa femme«, Auguste Linart in »Conte de Noël, mystère moderne«,
Julien Sermet in »Belle opération«, größtenteils zotenhaften Dialogen, unter die sich manchmal ein poetisches Phantasiegebilde
verirrt, wie die »Reine Fiammette« von Catulle Mendès.
Die Philosophie steuerten bisher fast nur
Ausländer bei, neben Ibsen hauptsächlich Tolstoi und Turgenjew
(»Fremdes Brot« in der Bearbeitung von Ephraim und Willy Schultz),
und Strindberg, dessen »Vater« Emil Zola begeistertes Lob spendete,
dürfte bald folgen. Mit reformatorischen Tendenzen trat »La fille Élisa« (von Edmond de Goncourt) in der Bearbeitung eines
jungen Advokaten, Jean Ajalbert, auf. Als sie sich dann von der »freien«,
geschlossenen Bühne auf eine öffentliche wagte, wurde sie durch die Zensur verboten und der Fall in der Kammer erörtert.
Die große Kunst, insofern unter dieser Bezeichnung dramatische Werke dichterischen Gehalts in entsprechender Form zu verstehen
sind, liegt inmitten dieses Ringens und Rennens nach Neuem danieder. Eine solche seltene Gabe bot Henri
de Bornier in seinem »Mahomet«; aber er mußte die herbe Enttäuschung
erleben, daß die Comédie-Française, wo das Trauerspiel angenommen, ja schon einstudiert worden war, dasselbe, einer Weisung
des Auswärtigen Amtes gehorchend, zurücklegte, um den Sultan nicht zu verstummen, welcher dem französischen Botschafter in
Konstantinopel einen bedeutsamen Wink hatte erteilen lassen.
Die Einakter »Alain Chartier« des Vicomte de Borrelli und »Le premier baiser« von
Bergerat waren in dieser Hinsicht glücklicher, auch die »Jeanne d'Arc« von Jules Barbier, wenn dieses durch die musikalischen
Einlagen Gounods der neuen Manier der Schauspielerin Sarah Bernhardt angepaßte Drama noch als reine Dichtung gelten
darf. Stellenweise lehnt es sich an Schillers »Jungfrau von Orléans« an, mehr als das gleichnamige Werk des Abgeordneten Joseph
Fabre, das dagegen einheitlicher und selbständiger auftritt.
»Le comte d'Egmont« von Aderer und »Shylock« von Edmond d'Harancourt sind anerkennenswerte Versuche, fremde Meisterwerke auf
französischen Bühnen (beide Bearbeitungen wurden im Odéon, dem zweiten Théâtre-Français, gespielt)
einzubürgern, und verdienen aus diesem Grunde Erwähnung. Der letztgenannte der beiden Verfasser, welcher durch das Théâtre libre
bekannt wurde, hatte sich auch an eine »Passion« herangewagt und wollte sie auf einer Pariser Bühne mit Sarah Bernhardt in der
Rolle der Schmerzensmutter aufführen lassen.
Diesmal waren es die Katholiken, die gegen die Entweihung heiliger Dinge Einsprache erhoben und nicht ermangelten,
an die Rücksichten zu erinnern, welche die Regierung soeben dem Herrscher aller Gläubigen und dem religiösen Gefühl ihrer
mohammedanischen Unterthanen bewiesen hatte. Sie erreichten ihren Zweck, und Sarah Bernhardt mußte sich damit begnügen, ihre
Rolle in einem Karfreitagskonzert zu deklamieren, um doch schließlich von der Opposition erbarmungslos
ausgepfiffen zu werden.
Die »Jeanne d'Arc«, die »Jungfrau Maria«, welche sich einbildet, der Inbegriff der französischen Bühnenkunst zu sein, seitdem
sie aus Gewinnsucht der wahren Kunst den Rücken gekehrt hat, ist nunmehr »Kleopatra« und wird es zwei Jahre hindurch auf einer
Reise um die Welt bleiben. Die »Cléopâtre«, in der sie sich zuerst dem Pariser Publikum zeigte, hat Emile Moreau zum ursprünglichen
Verfasser, wurde aber von Sardou nur für die Schauspielerin dermaßen umgestaltet, daß Moreau sein Werk, zu dessen Erfolg
Dekorationsmaler, Tapezierer und Schneider Großes beitragen, kaum noch wiedererkennen soll. Hier die äußerste
Raffiniertheit, das sichere Merkmal des Sittenverfalls, dort, auf der »freien
Bühne«, das andre Extrem, der zum Naturzustand zurückstrebende
mehr
Mensch, den zeitweise nur das Klugreden über seine Instinkte vom Tiere trennt.
Sardous neuestes vieraktiges Drama »Thermidor« wurde in den beiden ersten Aufführungen der Comédie-Française tumultuarisch
abgelehnt. Die dritte Wiederholung wurde auf Betreiben einer Gruppe radikaler Deputierter, die in dem Stück eine Verunglimpfung
ihrer großen Revolutionshelden sah, von der Regierung verboten, das Verbot aber nach kurzer Zeit wieder
aufgehoben. Das schon vor 22 Jahren begonnene, seitdem aus politischen Rücksichten viermal umgearbeitete Werk ist reich an
Bühneneffekten, die Handlung aber schwach, die Charakterzeichnung mangelhaft, die Lösung unbefriedigend, und schon ehe der
revolutionäre Pöbel gesprochen, hatten feinfühlige Theaterfreunde »Thermidor« verurteilt.
»L'Obstacle« von Alphonse Daudet ist eine mit Freudenthränen abschließende oberflächliche Verarbeitung
des düstern Themas, welches Henrik Ibsen in den »Gespenstern« behandelt: die Heimsuchung der Sünden der Väter an den Kindern.
Daudet tritt nicht an den Gegenstand heran, um ihn zu vertiefen, sondern um nachzuweisen, daß die Vererbung nur ein beängstigendes
Vorurteil ist.
Die bereits angekündigte »Lutte pour la vie«, die dramatische Verwertung des Stoffes, welchen Daudet im »Immortel« behandelte,
ist in dieser Gestalt als akademisches Sittenbild nicht wahrer als der Roman, auch kein gut aufgebautes Theaterstück, sondern
eine Reihe von Bildern, wie die »Bûcheronne« von Charles Edmond, die aus dem Feuilleton des »Temps« auf
die Bühne des Théâtre-Français versetzt wurde, und »Dernier amour« von George Ohnet. Einen ungleich höhern Wert darf man
dem »Député Leveau« von Jules Lemaître zugestehen, welches als Bühnenarbeit gedacht und durchgeführt ist, in feinen Charakterzeichnungen
das heutige politische Treiben veranschaulicht und nur schwach ist zum Schlusse, ähnlich wie die letztjährige
»Révoltée« des geistreichen Schriftstellers.
Was sonst als Sittenbild in Lustspielform über die Bretter geht, ist gewöhnlich bis zum Zerrbild gesteigert, aber mit Geist
und Geschick gearbeitet, von zwei und mehr Verfassern zusammen, wenn einer nicht genügt. Da sind: »Ma cousine« von Henri Meilhac,
»Les Moulinard« von Ordonneau, Valabrègue und Keroul,
»Les provinciales à Paris« von Najac und Pol Moreau, »Paris fin de siècle«, »Les femmes des amis« und »Madame Mongodin« von Raoul
Toché u. Ernest Blum, »Monsieur Betsy« von Méténier und Paul Alexis, »Les Vieux maris« von Antony Mars, »Les douze femmes de
Japhet« von A. Mars und M. Desvallières, »De fil en aiguille« und »Ferdinand le Noceur« von Léon Gandillot,
»Nos jolies fraudeuses« und »Feu Toupinel« von A. Bisson, »Un prix Montyon« und »Madame a ses brevets« von Albin Valabrègue.
Höchst bemerkenswert und mit der Gunst verwandt, der sich alles zu erfreuen hat, was an die »Jungfrau von Orléans«
in Wort und Bild erinnert, ist der Reichtum an neuen Militärstücken: »La conspiration du général Malet« (fünf Akte und ein
Prolog) von Auge de Lassus, »Desaix« (fünf Akte und zehn Bilder) von Gaston Maraud und Péricaud, »Le secret de la Terreuse« (aus
den Vendeerkriegen) von William Busnach und Henry Cauvain, »Devant l'ennemi« von Charton, »Le Drapeau« von
Emile Moreau und Ernest Depré, »Une conspiration« von Henry Fouquier und Fabrice Carré (nach einem Roman Arthur Rancs),
»Le Regiment«
von G. Mary und J. ^[richtig: Jules Mary und Georges Grisier] Grisier, »Marie Stuart, reine
d'Écosse« (fünf Akte und acht Bilder)
von Cressonnois u. Samson und »Sainte-Russie«, russisch-französisch-chauvinistisches
Allianzstück in zehn Bildern, von Gugenheim und Lefaure. Nicht minder ausgiebig ist die Produktion auf dem Gebiet des Volksschauspiels,
welche teilweise an Feuilletonromane anlehnt, wie »La Policière« von Xavier
de Montépin und Jules Dornay und »Le crime de Jean Morel« von Cressonnois und Charles Samson, »Lucienne«,
sozialistisches Drama von Louis de Gramont, »La petite Mionne« (nach Richebourg) von Gaston Marot. Außerdem sind hier noch zu
nennen: »Le secret de la victime« von Léon Brésil und Valéry Vernier, »Jack l'Éventreur« (in fünf Akten und sieben Bildern)
von Xavier Bertrand und Louis Clairian, »La fermière« von Armand Dartois und Henri Pagat, das letztere mit
litterarischen Vorzügen ausgestattet, die man bei Werken dieser Art nicht sucht.
Lyrik. Schwerlich für die Bewunderung der Nachwelt geschaffen, aber dem Empfinden und dem Geschmack der Menge angemessen, welche
in der Weltausstellung von 1889 die Besiegelung und Verherrlichung der dritten Republik begrüßt hatte,
war die »Ode triomphale«, zu der Augusta Holmès, eine hochbegabte Künstlerin, wie schon zu ihrer Kantate »Pro patria«, dem Beispiel
ihres verehrten Meisters Richard Wagner folgend, Musik und Text schrieb. Die entsprechende Ausstattung im Industriepalast, das
Naive des leitenden Gedankens, die schön abgestufte Reihenfolge der Chöre jeden Alters und aller Stände,
welche die Wohlthaten einer Frieden spendenden Republik priesen, ließen die Mängel der Dichtung vergessen, die übrigens da,
wo sie etwas kindisch erscheint, es nicht mehr ist, als ähnliche Ergüsse des Propheten und Sehers der Republik, Victor Hugo.
Seitdem er gestorben, erlahmt die lyrische Dichtung sichtlich oder verirrt sich in die unwirtlichen, sprachlich
barbarischen Regionen der décadents, es sei denn, daß sie unterwegs im »Chat noir«
hängen bleibe, einer seltsamen Herberge, wo Künstler und Verseschmiede verkehren und poetisch-musikalische Parodien und »Mysterien«
aufführen, wie die abwechselnd sinnige und ausgelassene »Marche à l'Étoile« von Georges Fragerolle, die »Phryné« von Maurice
Donnay und der »Roland«, Oratorio in drei Akten, Dichtung von Georges d'Esparbès, Musik von Charles de Sivry.
Noch viel bemerkenswerter, formell wahrhaft schön und eigenartig in der Empfindung sind die dramatisch-lyrisch-humoristschen
Dichtungen: »Tobie« und »Le
mystère de la Nativité«, welche Maurice Bouchor zum Verfasser haben, von den lebensgroßen Marionetten Signorets
in einer von Künstlern, wie Felix Bouchor, Lerolle, Marcel Rieder, gemalten Szenerie gespielt und in den Kulissen von Maurice
Bouchor selbst und seinen Freunden Jean Richepin, Ponchon und Felix Robbe vorgetragen werden.
Einer frühern Generation gehört Théodore de Banville an, der Verfasser der »Cariatides« und der »Camées«;
aber er ist noch immer jung in seinen »Sonnailles et Clochettes«
und ein Dichter in der »Ame de Paris«, obwohl diese in ungebundener Rede auftritt. Es gehörte ein gewisser Mut dazu, den mehrmals
gemachten Versuch zu wiederholen und Heines »Lyrisches Intermezzo« ins Französische zu übersetzen. Diesen Mut besaßen Guy Ropartz
und P. R. Hirsch. Sie wollten minder sklavisch verfahren als andre und gaben weniger eine wortgetreue Übersetzung
als eine Bearbeitung (»œuvre composée d'après le poëme célèbre de Heine«).
mehr
Kritik. Memoiren. Briefwechsel.
Armand de Pontmartin, der Doyen der Kritiker, starb im Laufe des Jahres, aber er hatte die Gewohnheit, die »Gazette de France«, wo
er unter dem Striche das Zepter schwang, so reichlich mit Vorräten zu versehen, daß sie noch drei Monate nach seinem Tode seine
Bücherbesprechungen fortsetzen konnte, worauf erst die lange Reihe der »Souvenirs d'un vieux critique«
durch den letzten (10.) Band abgeschlossen wurde. Nicht so Francisque Sarcey, der »roi des critiques«, welcher kein dramatisches
und kein litterarisches Ereignis vorübergehen läßt, ohne es in einem seiner Blätter, »Temps«, »Parti national«, »XIX. Siècle«,
»France«, »Annales littéraires«, und manchmal
in zwei oder drei zugleich eingehend zu besprechen, aber der Ansicht huldigt, was unter einem augenblicklichen Eindruck für
ein Eintagsblatt geschrieben wurde, dürfe nicht in die Buchform gebannt werden.
Wenn diese Auffassung weitere Verbreitung fände, so würden zahlreiche, regelmäßig wiederkehrende Beiträge zur und über
die Jahreslitteratur unterbleiben, wie die »Histoire et littérature« von Brunetière, dem Kritiker der
»Revue des Deux Mondes«, die »Vie littéraire« von Anatole France (Wochenübersicht im »Temps«),
die »Année littéraire« von Paul
Ginisty (5. Jahrgang),
die »Annales du théâtre et de la musique« von Edouard Noël und Edmond Stoullig (15. Jahrgang mit
einer Vorrede von Henri Meilhac),
ferner »L'Année politique« von André Daniel (17. Jahrgang) u. a. m. Daneben
beschäftigen sich Jules Lemaître, Bertin und Paul Desjardins im »Journal des Débats«, Paul Perret in der »Liberté«, Judith Gautier
im »Rappel«, Charles Bigot im »Siècle«, Canivet (Jean de Nivelle) im »Soleil«, Jean Lorrain im »Événement« mit der Tageslitteratur,
während der Marquis de Vogüé, der seine Abhandlungen über die neuesten Zeitereignisse unter dem Titel:
»Spectacles contemporains« veröffentlicht, die modernen russischen Schriftsteller,
Paul Stapfer die Engländer in Frankreich heimisch zu machen sucht, zur Abwechselung aber auch aus »Rabelais, sa personne, son
genre et son œuvre« überspringt.
Ein schönes biographisches Denkmal setzte der Akademiker Octave Gréard seinem verstorbenen Freunde Edmond
Schérer, dem vortrefflichen Kritiker, und ein nicht minder vollendetes Maxime du Camp dem Dichter und Sprachkünstler Théophile
Gautier in der Sammlung: »Les grands écrivains français«. In »Figures littéraires« sind einige gelungene Charakterzeichnungen
des jungen Abgeordneten Paul Deschanel vereinigt, in »Les artistes littéraires« von
Maurice Spronck Schattenrisse von Schriftstellern, denen die Form über den Inhalt zu gehen pflegt.
Henri Houssaye verjüngt die Zauberinnen »Aspasie, Cléopâtre, Théodora« durch ein bekanntes Verfahren, bei dem eine rege Phantasie
mehr beteiligt ist als die Gelehrsamkeit. Hier ist neben den in Form und Inhalt mit Rabelais verwandten »Truandailles« von
Richepin auch noch »Le rire de Caliban« einzuschalten, eine Sammlung von philosophisch-humoristischen Abhandlungen, in denen
Emile Bergerat als der Caliban des »Figaro« seine Eindrücke und Beobachtungen auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens wie in
seiner häuslichen und künstlerischen Umgebung mit Witz erzählt, solange er nicht auf seine eignen Mißhelligkeiten mit
den Theaterdirektoren zu sprechen kommt.
»Fleurs d'hiver - Fruits d'hiver« nennt der greise Akademiker Ernest Legouvé den neuesten Band der
Denkwürdigkeiten aus seinem
Leben, »Toute une jeunesse« ein andrer Akademiker, François Coppée, die seinigen, während Pierre Loti der Königin von Rumänien
im »Roman d'un enfant« ein Gemisch von Wahrheit und Dichtung über seine Kindheit widmet. Mitten in die
grausame Wirklichkeit des belagerten und dann noch von der Kommune heimgesuchten Paris versetzt Edmond de Goncourt den Leser
mit der zweiten Serie des »Journal des Goncourt«, die bis zu Ende des Jahres 1871 reicht.
Zwischenhinein hatte der Verfasser den schon erschienenen »Schauspielerinnen
des 18. Jahrhunderts« (»Sophie Arnould« und »Mme. Saint-Huberty«) die dritte beigefügt: »Mademoiselle Clairon, d'après ses correspondances
et les rapports de police du temps«. Fünf andre sollen die Sammlung vervollständigen: Mlle. Lecouvreur, Camargo, La Guimard,
Mlle. Contat, Mme. Favart. Ein Maler, welcher zugleich ein Dichter ist, Jules Breton, hat in der »Vie d'un
artiste. Art et nature« seine Künstlerlaufbahn gezeichnet und es dem Bande an einer kunstvollen Ausstattung nicht fehlen lassen.
Minder anziehend, aber nichtsdestoweniger lehrreich ist die mit Dokumenten versehene Musikerbiographie: »Charles Gounod et ses
œuvres« von Pagnerre. Bis in die Tage der französischen Revolution zurück führt: »Journal d'un étudiant
pendant la Révolution« (1789-93) von Gaston Maugras. Der Student ist der Sohn eines reichen Reeders in Bordeaux und berichtet
mit jugendlicher Frische über seine Eindrücke und Erlebnisse im Gegensatz zu dem ängstlichen Schreiber eines andern Tagebuchs
aus jener Zeit: »Journal d'un bourgeois de Paris pendant la Révolution« (hrsg. von H. Monin).
Die Rousseau-Litteratur wurde durch eine höchst wertvolle, den Hauptpersonen keineswegs schmeichelnde Arbeit bereichert: »Madame
de Warens et J. J. Rousseau; étude historique et critique« von François Mugnier, Rat am Appellhof zu Chambéry, welcher in dieser
Eigenschaft eine Menge amtlicher Dokumente zu seiner Verfügung hatte, und die Stendhal-Litteratur ihrerseits, abermals
durch die Fürsorge des Enthusiasten Casimir Stryienski, um einen neuen Band: »Vie de Henri Brulard«, unter welchem Titel der
Verfasser der »Chartreuse de Parme« sein Leben für die Leser von 1880 zu schreiben unternommen hatte, es aber nicht über die
Jugendzeit, 1798-1800, hinausbrachte. Erwähnenswert ist eine neue, verbesserte und durch 150 Briefe vermehrte
französische Ausgabe des bekannten Briefwechsels der Herzogin von Orléans (Elisabeth Charlotte von der Pfalz), Mutter des Regenten.
Geschichtschreibung. Reisebilder.
In dem 3. Bande der »Histoire du peuple d'Israël« behandelt Ernest Renan die Epoche zwischen der Zerstörung Samarias und der
Heimkehr der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft. »L'avenir
de la science« ist eine Sammlung von Aufsätzen aus der Zeit, da der spätere Verfasser der »Vie de Jésus« den Kampf mit seinem
Gewissen angefochten, das Priesterseminar St.-Sulpice verlassen hatte und sich selbst über seine Stellung zur Wissenschaft,
seinen Glauben an sie und ihre Wohlthaten klare Rechenschaft ablegen wollte. Wegen Anwandlungen ähnlicher
Art war der Pater Didon vor einigen Jahren gemaßregelt und von seinen Obern nach Corsica verbannt worden, wo er sich unterwarf
und die Erlaubnis zu einem Studienaufenthalt in Deutschland erhielt. Der Dominikaner wollte sich die deutsche Sprache gründlich
aneignen, um theologische
mehr
Quellenforschungen anstellen und dann ebenfalls ein Werk über das Leben Jesu schreiben zu können. Dasselbe trägt den Titel
»Jésus-Christ« und enthält in zwei Bänden unendlich viel Material, rein wissenschaftliches und polemisches, Schilderungen
aus Palästina, Zugeständnisse an die moderne Zeitrichtung in untergeordneten Dingen, was aber nicht hindert, daß er den Evangelien
göttlichen Ursprung zuschreibt und sie für ausschließliches Eigentum der katholischen Kirche erklärt.
Ebenfalls auf die Vertrautheit mit der deutschen Sprache ist »La jeunesse de Frédéric II« des Sorbonnne-Professors
^[richtig: Sorbonne-Professors] Lavisse gebaut, bei dem sich die lebhafte Darstellung zu der geschickten Verwertung der Quellen
gesellt Ein lange erwartetes Ereignis, die Veröffentlichung der Memoiren des Fürsten de Talleyrand, soll
sich nächstens erfüllen; nach allerlei Irrfahrten der Handschrift und dem Tode ihrer Inhaber wurde der Herzog von Broglie damit
betraut.
Inzwischen setzt G. Pallain seine Studien über die diplomatische Korrespondenz Talleyrands fort. Sein letzter, dritter Band:
»Le ministère de Talleyrand sous le Directoire« (mit Einleitung und Noten), umfaßt zwei Jahre, Juli 1797 bis
Juli 1799, und enthält viel Neues in 700 Depeschen und Berichten, so z. B. eine Darlegung der Ansichten Talleyrands über Handel
und Kolonialwesen. Gleichzeitig bietet die Gräfin de Mirabeau in »Le prince de Talleyrand et la maison d'Orléans« eine Sammlung
von Briefen Ludwig Philipps, seiner Schwester Madame Adélaide und Talleyrands, welche sie in dem Nachlaß ihres Onkels, Herrn de Bacourt,
ehemaligen ersten Sekretärs des Fürsten, in dessen Gewahrsam auch die »Memoiren« waren, gefunden hatte.
Des Interessanten und bisher Unbekannten viel bergen folgende Veröffentlichungen: »Villars, d'après sa correspondance et des
documents inédits«, herausgegeben von dem Marquis de Vogüé;
»La diplomatie française et la succession
d'Espagne« von Pichon;
»Philippe V et la cour de France« von Alfred Baudrillart (nach ungedruckten Dokumenten, 1. Bd.);
»Recueil
des instructions données aux ministres de France, tome VIII« (Russie),
mit Einleitungen und Noten von Alfred Rambaud;
»L'Europe
et l'avénement du second Empire« von Rothan. In all diesen Werken gelangt neben dem reichen Material als Zugabe eine reine
litterarische Form zur Geltung, bei dem Diplomaten Rothan wie bei dem Sorbonne-Professor Rambaud und dem Aristokraten de Vogüé,
welcher den Marschall de Villars, den unmenschlichen Helden der Dragonaden, als romantischen Ritter zeigt
und in dem Abschnitt über Frau von Maintenon und den Cevennenkrieg unerwartete Gesichtspunkte eröffnet.
Vorwiegend akademisch
sind hingegen die Aufsätze Jules Simons über Henri Martin, Michelet, Mignet sowie die »Études d'un autre temps« von Bardoux,
der »Prince de Ligne et ses contemporains« (Joseph Chénier, Chamfort, Abbé Sieyès u. a.) von Victor du Bled
und auch Lucien Pereys »Le dernier neveu de Mazarin«. Von André Lebon, Professor an der École des sciences politiques, sind
»Études sur l'Allemagne politique« erschienen, von René Bazin, einem Mitarbeiter der »Débats«, Reiseschilderungen aus Italien,
»A l'aventure, croquis italiens«, deren Wert in einer gewissenhaften und
anschaulichen Schilderung der heutigen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zustände liegt, von Jean
Revel, dem Verfasser eines wunderlichen Reisewerks: »Chez nos ancêtres«,
welches Kleinasien und Ägypten in pessimistischen, unehrerbietigen Zügen schildert, noch »Testament d'un moderne«, philosophische
Betrachtungen, Wissenschaftliches, Gedanken andrer, bunt durcheinander, manchmal fesselnd, dann wieder durch das Sprunghafte
ermüdend.
Der chinesische Militärbevollmächtigte in Paris und London, General Tscheng-Ki-Tong, kann den Abendländern
nicht genug die Tugendhaftigkeit und Vollkommenheit seiner Landsleute als nachahmenswertes Beispiel vorhalten. Er thut dies
neuerdings in seinen »Plaisirs en Chine« und in dem »Roman de l'homme jaune«, der als Roman in Handlung und seelischer Analyse
sehr schwach wäre, aber sich als ethnographisches und Sittenbild im ganzen angenehm liest, obwohl das
aufdringlich Lehrhafte und Prahlhafte stellenweise den Genuß schmälert.
Aus dem äußersten Osten kommt man mit Pierre Loti herzlich gern »Au Maroc« zurück und mit Guy de Maupassant, der auf seiner
eignen Jacht segelt, nach Italien, längs dessen mittelländische Küste der Romanschriftsteller den Stoff
zu seinem anziehenden Bande: »La vie errante« sammelte. Die Nachtseite des englischen Lebens beschäftigt Hector France, der
in England seinen Wohnsitz hat, in »Police-Court, mœurs anglaises«, einer Fortsetzung
seiner bisherigen Sittenstudien: »Les va-nu-pieds de Londres«, »Les nuits de Londres«, »L'armée de John Bull«.
[Zur Litteratur.]
Birch-Hirschfeld, Geschichte der französischen Litteratur seit Anfang des 16. Jahrhunderte
(Stuttg. 1889, Bd. 1);
Juncker, Grundriß der Geschichte der französischen Litteratur (Münst.
1889);
Tiersot, »Histoire de la chanson populaire en France« (Par. 1889);
Sarrazin, Das moderne Drama der Franzosen (Stuttg.
1888).
Eine Umarbeitung von Kreyssigs »Geschichte der französischen Nationallitteratur« besorgten Kreßner und
Sarrazin (6. Aufl., Berl. 1889,2 Bde.).
Die Geschichte der französischen Litteratur in der Schweiz wurde von Philippe Godet, nach andern Gesichtspunkten von V. Rossel
dargestellt (s. den folgenden Artikel).
Die französische Litteratur der Schweiz.
Die französische Schweiz, auch romanische Schweiz genannt, umfaßt den westlichen Teil des Schweizer Landes und
zwar die protestantischen Kantone Gens, Waadt
und Neuchâtel sowie die halb deutschen, halb französischen katholischen Kantone Freiburg
und Wallis;
auch ein
Teil von Bern,
der Juradistrikt, hat französisch redende Bevölkerung. Schon zur Zeit der römischen Herrschaft bestand eine Trennung
dieser Länder von dem Nordosten; denn um 450 hatten sich die christlichen Burgunder hier niedergelassen,
welche römische Kultur zu schätzen wußten und mit den alten Einwohnern allmählich zu einem Volke mit romanischen Sitten
und romanischer Sprache verschmolzen.
Diese hat allerdings litterarische Bedeutung nie besessen und mußte bald der französischen Sprache weichen, die seit dem 13. Jahrh.
ausschließlich Amts- und Schriftsprache wurde; sie blieb aber noch lange die Sprache des platten Landes
(patois romand) und existiert litterarisch eigentlich nur in einigen Versionen des berühmten Kuhreigens (ranz des vaches);
vgl. Huber, Recueil des ranz des vaches (St. Gall. 1830). Trotz der gemeinsamen Sitten und Sprache hat jedoch politische Einheit
unter ihnen nie bestanden, sie gehörten lange verschiedenen Herrschaftsgebieten an und haben es an Eifersüchteleien
und Feindseligkeiten untereinander nicht fehlen lassen. Erst seit der Gründung des Bundes macht sich hin und wieder nationales
Bewußtsein geltend, und erst seit dieser Zeit datieren patriotische Männer in der französischen Schweiz die Anfänge einer
mehr
Nationallitteratur, obwohl nicht zu leugnen ist, daß auch jetzt noch die Hauptorte Genf,
Lausanne, Neuchâtel und Freiburg,
auf die sich die
geistige Bewegung konzentriert, ihren Sonderinteressen nachgehen und im Banne des Kantonalismus jeder zentralisierenden Richtung
mißtrauisch entgegentreten. Die Hauptrolle hat immer Genf
gespielt, teils wegen seiner ausgezeichneten Lage, teils weil
es im 16. Jahrh. der Hauptsitz der französischen Reformation wurde; seit dieser Zeit hat es europäische Bedeutung erlangt.
Die Zeit vor der Reformation hat in litterarischer Beziehung nicht viel Bemerkenswertes aufzuweisen. Einige liebenswürdige
Gedichtchen des tapfern Ritters Otto von Grandson aus dem 14. Jahrh. (kürzlich entdeckt und veröffentlicht von A.
Piaget, 1889), Chroniken, die von den Heldenthaten der Schweizer in den Kriegen mit Karl dem Kühnen berichten, mehrere »Mystères«
und »Soties«, die zum Teil schon von hugenottischem Geiste durchweht sind, das ist alles. Die interessanteste Persönlichkeit
ist noch der Gefangene von Chillon, Franz Bonivard (1493 bis 1570), dessen Chronik die mannhafte Gegenwehr
der Stadt Genf gegen die Herrschaftsgelüste des Herzogs von Savoyen schildert, und der in diesen Kämpfen seine Überzeugung
mit langjähriger Gefangenschaft büßen mußte. Er führt uns schon mitten in die Reformationszeit hinein; denn als er 1536 infolge
der Eroberung des Waadtlandes durch die Berner seine Freiheit erhielt, hatte Farel schon die Herzen vieler
Genfer Bürger der neuen Lehre gewonnen und Calvin bewogen, sich in Genf
niederzulassen, Farel ging nach Neuchâtel und begründete
hier die Reformation; in Lausanne wirkte Viret, ein tüchtiger Gelehrter, einflußreicher Prediger und geschickter Polemist.
Calvin entwickelte in Genf
eine wunderbare Thätigkeit: er begründete die Kirche angesichts der Feinde, machte
die Bibel zur Grundlage des Staates, reinigte die Sitten, unterdrückte die innern Zwistigkeiten, brachte, da er eigentlich
mehr Humanist als Theolog war, die Studien zu Ehren und richtete den höhern Unterricht an der neugegründeten Akademie ein,
an der nun Pastoren, Lehrer und Gelehrte für ganz Europa ausgebildet wurden. Er war ein Meister der französischen
Sprache (die Franzosen nennen ihn einen der Väter ihrer Sprache), und seine umfassende litterarische Thätigkeit hat hauptsächlich
dazu beigetragen, Genf
zu seiner einflußreichen Stellung zu erheben.
Der Bücherhandel nahm einen kolossalen Aufschwung, in den Druckereien wurden die reformatorischen Schriften nicht nur für
Frankreich, sondern auch für Deutschland, Holland, England gedruckt, und zahlreiche Humanisten, wie Cordier,
die beiden Stephani, Hotman, Casaubonus, Beroaldus u. a., nahmen in Genf
vorübergehenden oder dauernden Aufenthalt.
Dazu kamen ca. 2000 Flüchtlinge aus Frankreich und Italien, die ihre Kunst und ihren Gewerbfleiß, aber auch ihre starren republikanischen
Ideen und die traurige Stimmung der Verbannung mitbrachten.
Calvin und seine Amtsgenossen führten ein strenges Regiment, und so konnte es nicht ausbleiben, daß sich Sitten und Lebensführung
gänzlich änderten. Die Stadt bekam ein ernstes, mürrisches Antlitz; mit Härte wurde die Kirchenzucht geübt; Spiele und Zerstreuungen,
Aufwand in Kleidung, in Essen und Trinken waren verpönt, jede sündhafte und unanständige Äußerung
wurde streng bestraft. Nach Calvins Tod (1564) galt Theodor v. Beza unbestritten als das Haupt des französischen Protestantismus.
In seiner Jugend hatte er andern Anschauungen gehuldigt, wie seine
leichtfertigen Jugendgedichte beweisen; in Genf
aber war er durch
die mächtige Persönlichkeit Calvins bezwungen und bekehrt worden und wirkte nun 42 Jahre lang als Lehrer
und Prediger mit großartigem Erfolg. In Charakter, Geschmack und Neigung das Gegenteil seines strengen Freundes, als Schriftsteller
ihm nicht gewachsen, übertraf er ihn doch an Anmut und Eleganz; seine zahlreichen satirischen und polemischen Schriften zeigen
den glänzenden Redner, und seine Psalmenübersetzung ist nicht ohne dichterischen Schwung.
Überhaupt steht in dieser Periode fast alle litterarische Thätigkeit im Dienste der Religion, und anderseits sind die, die
den Musen opferten, fast durchweg Pastoren und Pastorensöhne. So ist auch Bezas einzige Tragödie, »Le sacrifice d'Abraham«,
weiter nichts als eine eindringliche Predigt, und die einzigen Gedichte, die poetisches Gefühl verraten,
sind von dem Neuchâteller Pastor Blaise Hory hinterlassen. Außerhalb dieses Bannkreises steht das frostige allegorische
Schauspiel »L'ombre de Garnier Stoffacher« (1584),
wohl die älteste Version des Tellschusses, und die zahlreichen Reimereien,
die an die berühmte »Escalade« (1602) anknüpfen; Chappuzeaus Drama »Genève délivrée« (1662) ist wohl noch
die erträglichste. Den tapfern Hugenotten Agrippa d'Aubigné mochten die Schweizer gern zu den Ihrigen rechnen, weil er seine
Jugendzeit und die letzten Jahre seines Lebens (1620-1630) in Genf
zubrachte; allein seine dichterische Thätigkeit, besonders
seine kraftvollen »Tragiques«, gehören unzweifelhaft Frankreich an.
Inzwischen hatten die Reformatoren, ihrem Prinzip getreu, überall Schulen eingerichtet, in den Dörfern
Elementarschulen, in den Städten Lateinschulen, auch die Akademie von Lausanne. Aber der Zuzug von Fremden hatte bedeutend abgenommen;
die Refugiés und die Humanisten wandten sich vorzugsweise nach Holland und machten dies Land zum Mittelpunkt ihrer litterarischen
Thätigkeit. Das 17. Jahrh. bedeutet einen Stillstand in der geistigen
Entwickelung der französischen Schweiz.
Der Widerruf des Edikts von Nantes brachte neues Blut nach Genf;
diesmal hatten die Naturwissenschaften und die Mathematik am meisten
Vorteil davon. Auch die Opposition gegen den Calvinismus wurde starker und nachhaltiger; während noch 100 Jahre früher Sebastian
Castalion, ein Gegner der Prädestinationslehre und Apostel der Toleranz (»Conseil à la France désolée«),
in die Verbannung gehen mußte, wurde jetzt unter dem Einfluß Turrettinis, Professors der Kirchengeschichte seit 1694, und
seines Freundes Osterwald, Verfassers des großen Katechismus und einer weitverbreiteten Bibelübersetzung (1744), die Praxis
der Genfer Kirche milder und toleranter, und es konnte sich im Anschluß an den von Deutschland herübergekommenen
Pietismus ein liberaler Protestantismus entwickeln, der in Marie Huber (gest. 1753) und in Béat de Muralt (gest. 1749) seine
Hauptvertreter fand.
Muralt ist zugleich der bemerkenswerteste Schriftsteller jener Zeit; seine »Lettres sur les Anglais et les Français« können
die würdigen Vorläufer der »Lettres persanes« von Pascal und der »Lettres anglaises« von Voltaire genannt
werden. Viel schroffer standen sich die politischen und sozialen Parteien gegenüber, die Négatifs, Représentants und Natifs;
ihre Zwistigkeiten nahmen oft einen blutigen Ausgang und konnten zum Teil nur mit Hilfe des Auslandes beigelegt werden. Daraus
erklärt sich auch die Unmasse von politischen Schriften, Satiren und Liedern, die in dieser
mehr
Zeit entstanden sind, deren Interesse aber naturgemäß mit ihr vergangen ist.
Von entscheidende Einfluß auf die geistige und moralische Entwickelung der französischen Schweiz war der Aufenthalt Voltaires.
Im Dezember 1754 ließ er sich in der Nähe von Genf
nieder, teils von der schönen Natur, teils von den vorzüglichen Druckereien
angelockt, in denen damals so manche epochemachenden Werke gedruckt wurden, trat alsbald in lebhaften
Verkehr mit einigen angesehenen Familien, so mit den Pastoren Vernet und Vernes, dem berühmten Arzt Tronchin nebst seinen zwei
Brüdern, dem Professor Pictet, und bezauberte alle durch seine Liebenswürdigkeit;
als er aber versuchte, seine »Zaïre« auszuführen,
stieß er auf den hartnäckigen Widerspruch des Konsistoriums;
schon seit Calvins Zeiten waren dramatische
Aufführungen, außer etwa geistlichen, nicht mehr geduldet und selbst Privataufführungen bestraft worden. In seiner Eitelkeit
verletzt, wandte er sich nach Lausanne und fand dort besseres Entgegenkommen, besonders bei den Frauen;
auch die Pastoren scheuten
sich nicht, den Gesellschaften und Aufführungen des geistreichen Spötters beizuwohnen.
Nach Genf
zurückgekehrt,
beschloß er, sich an den Muckern zu rächen; einige bissige Artikel in der Encyklopädie und gottlose Schriften, wie »Le désastre
de Lisbonne« und später »Candide«, reizten die Angegriffenen zu
heftigen Erwiderungen; und um seine Gegner an der empfindlichsten Stelle zu treffen, ließ er auf seinem
Landgut Ferney an der Grenze des Genfer Gebiets einen Theatersaal erbauen und dort seine Dramen (unter andern »Tancrède«) aufführen,
wozu wieder die Genfer Gesellschaft Schauspieler und Publikum stellte.
Auch J. J. Rousseau, Genfs größter Bürger, griff in den Streit ein; hatte Voltaire Beziehungen zu der
regierenden Klasse und zahlreiche Anhänger unter den Natifs, so hielt sich der demokratische Rousseau zu den Représentants,
in deren Sinne er auch gegen Voltaire die »Lettres sur les spectacles« schrieb. Mit dem Rate der Stadt aber hatten es beide verdorben:
der ließ sowohl den »Candide« als den »Émile« verbrennen und die »Nouvelle Héloïse« als unmoralisch
verbieten. Rousseau suchte sich zwar mit den »Lettres de la Montagne« zu rechtfertigen, fachte damit aber den Streit erst recht
an. Voltaire behielt doch das letzte Wort (mit »Guerre civile de Genève«),
und 1782 wurde nach wiederholter Intervention des
französischen Gesandten eine Schauspielertruppe in Genf
eingeführt und ein steinernes Theater erbaut; die
ersten Direktoren waren Fabre d'Eglantine und Collot d'Herbois.
Einen glänzenden Aufschwung hatten die Naturwissenschaften genommen. Männer wie Cramer, Calandrini, Jallabert, De Luc, Pictet,
besonders aber Charles Bonnet (gest. 1793) und sein berühmter Nesse Bénédict de Saussure (gest. 1799) zogen durch ihre Beobachtungen,
Reisen und Forschungen die Augen von ganz Europa auf sich. Auch auf andern Gebieten regte es sich: neben
dem trefflichen Historiker Mallet muß der Bibliothekar Senebier erwähnt werden, der mit großem Fleiße, aber geringem Stilgefühl
und wenig maßvollem Urteil eine Litteraturgeschichte von Genf
schrieb. In Bern
gab es damals einige ausgezeichnete
Gelehrte, die sich der deutschen wie der französischen Sprache gleich gut bedienten und darum wohl hier genannt werden dürfen:
Albrecht v. Haller, Bonstetten, Lerber, der sogar gute Verse machte, und der Amtmann Sinner, der als Übersetzer, Sammler, Archäolog
und Bibliophil geschätzt war.
In
Lausanne hatte der Voltairesche Geist am meisten gewirkt. Da die Abhängigkeit von Bern
den Söhnen der vornehmen
Familien die politische Laufbahn verschloß, so mußten sie, wenn sie Drang nach Thätigkeit empfanden, außer Landes gehen,
häufig als Erzieher hochstehender Persönlichkeiten. Diese mit ihren im Ausland gesammelten Erfahrungen, die Waadtländer mit
ihrer Leichtlebigkeit und Liebenswürdigkeit, eingewanderte Franzosen und die zahlreichen Fremden, die
von Jahr zu Jahr in immer größern Scharen die schönen Ufer des Sees aufsuchten, bildeten eine Art kosmopolitischer Gesellschaft,
in der die geistreiche Geselligkeit der Pariser Salons mit Glück nachgeahmt wurde.
Einer der interessantesten Gäste war der Engländer Eduard Gibbon, der Hauptmagnet der berühmte Arzt Victor Tissot,
dessen »Avis au peuple de la santé« in kurzer Zeit 15 Auflagen erlebte und in 17 Sprachen übersetzt wurde. Die Schriftstellerei
wurde bei den Damen Modesache, seitdem Frau v. Montolieu mit ihren ziemlich faden Romanen viel Beifall gefunden hatte, besonders
mit »Caroline de Lichtfield« (1786) noch dem genießbarsten von allen.
Etwas höher stehen die »Poésies helvétiennes« des Dechanten Ph. Bridel, in denen schon hin und wieder nationaler Geist zu
spüren ist.
Allein es mangelt ihm an Präzision und Klarheit des Ausdrucks, und sein poetisches Gefühl ist nicht echt. Auch in Neuchâtel
machte sich in jener Zeit geistiges Leben bemerkbar; hier war es Frau v. Charrière, eine Holländerin von
Geburt, die Verfasserin der »Lettres neuchâteloises« und »Lettres de Lausanne« (von Sainte-Beuve gelobt),
und der treffliche
Kritiker David Chaillet (im »Mercure suisse«),
die einen kleinen, aber angeregten Kreis um sich versammelten, dem auch Benjamin
Constant eine Zeitlang angehörte.
Während der französischen Revolution und des Kaiserreichs absorbierte Frankreich alle Interessen und Kräfte
der Schweiz, zumal da die Proklamierung der Helvetischen Republik und die Mediationsakte sie eng mit dem Nachbarland verbanden.
Von den Schweizern, welche in dieser Zeit politisch und litterarisch für Frankreich thätig waren, sind zu nennen: der Bankier
u. Minister Necker, der Baron v. Besenval, den Sainte-Beuve neben B. Constant den französischten aller Schweizer
nennt, die beiden Theologen Reybaz und Dumont, Freunde Mirabeaus, die ihm häufig die Konzepte zu seinen Reden lieferten, Benjamin
Constant, der Freund der Frau v. Staël, General Jomini, der berühmte Militärschriftsteller, u. a. m. Frau v. Stael war zwar
in Paris geboren und in Geschmack und Gewohnheiten Französin, allein ihrer Natur nach eine Schweizern, eine
echte Tochter Rousseaus und in Ideen und Gefühlen mehr germanischem Wesen sich zuneigend, und so ganz dazu geeignet, die Kulturmission
der französischen Schweiz zu erfüllen, zwischen den germanischen und romanischen Völkern zu vermitteln. Dennoch wollte
sie von der Schweiz nichts wissen, und der Aufenthalt in Coppet war für sie trotz der herrlichen Natur und der interessanten
und glänzenden Gesellschaft, die sich dort zusammenfand, eine Strafe.
Mit der Loslösung der Schweiz von Frankreich (1814) erwachte neues geistiges Leben, vornehmlich in Genf;
hier lebten und lehrten
die Gebrüder Pictet, die 1796 die »Bibliothèque britannique« gegründet hatten,
aus der die »Bibliothèque universelle« entstanden ist, der ernste Geschichtschreiber
Sismondi, der mit Corinna in Italien reiste, der Genfer Gesetzgeber Bellot, seit 1803 auch
mehr
Bonstetten, der französischte aller Berner, der hier erst, wie er sagte, zu leben begann, Madame Necker de Saussure, die Kousine
der Frau v. Staël, u. a.; den Mittelpunkt bildete Pyrame De Candolle, dessen umfangreiches Wissen und weltmännische Bildung
eine große Anziehungskraft auf Einheimische und Fremde ausübten. Besondere Erwähnung verdient Rudolf Töpffer
(1799-1846), der heitere Moralist und geschickte Karikaturenzeichner, der Verfasser der »Voyages en zigzag« und der »Nouvelles
genevoises«, der mit seinen Freunden den »Courrier de Genève« (1841) gründete.
Die heute angesehenste Schweizer Zeitung, das »Journal de Genève«, entsprang 1826 einem Kreise von jungen Dichtern, die sich
im »Caveau genevois« zusammenfanden und die politische
Chanson pflegten; die hervorragendsten unter ihnen sind Chaponnière (1769-1856) und Gaudi-Lefort. Wie diese sich an
Béranger anschlossen, so andre an Lamartine und Victor Hugo;
manche von diesen starben in jungen Jahren oder gerieten in eine
weichliche, verschwommene Richtung;
der korrekteste und eleganteste ist Charles Didier (1805-64), auch als
Reisebeschreiber gelobt, der originellste Henri Blanvalet (1811-70), der wie Louis Tournier hübsche Kinderlieder gedichtet hat.
A. Richard (1801-81) gilt als der erste nationale Dichter;
mit seinen von starker Begeisterung getragenen Schilderungen hervorragender
Ereignisse aus der vaterländischen Geschichte hatte er großartigen Erfolg bei der Jugend, geriet aber später in Vergessenheit.
Ein Bindeglied zwischen dem alten und neuen Genf
(der Scheidepunkt ist die Revolution von 1846, mit der ganz
neue Männer zur Regierung kommen) ist der Dichter Petit-Senn (1792-1870); er hatte dem Caveau angehört, mit den Romantikern
geschwärmt und von 1830 bis 1836 die Genfer mit seinem Witzblatt »Le Fantasque« erheitert. Seine
gelungensten Gedichte sind die Humoreske »La Miliciade« auf die Genfer Stadtsoldaten und die geistvollen, vielleicht zu pointierten
Lebensregeln: »Bluettes et Boutades«.
Seinem gastfreundlichen Hause verdanken viele jüngere Kräfte Anregung und Förderung: der Fabeldichter Ant. Carteret (gest.
1889), der Historiker A. Rilliet (1809-83), der die Tell- und Grütlisage auf ihre Echtheit geprüft hat,
Henri Amiel (gest. 1880), der sinnige Dichter und Geschichtschreiber der Genfer Akademie, und Marc Monnier (gest. 1884), seit 1864 Professor
der vergleichenden Litteratur an der Genfer Universität, ein ungemein fruchtbarer Schriftsteller und gefühl- und formvoller
Dichter, dessen ausgezeichnete »Histoire générale de la littérature« leider nur bis zum zweiten Bande
gediehen ist. Einer der hervorragendsten Dichter der neuen Schule ist Philippe Godet (geb. 1850), zugleich ein geistvoller
Litterarhistoriker und glänzender Redner; außer verschiedenen Bänden eigner Poesien hat er die Gedichte des Freiburger Dichters
Eggis und der Neuchâteller Dichterin Alice de Chambrier herausgegeben.
In Lausanne, wo bisher Fremde den Ton angegeben hatten, traten nun Einheimische an die Spitze der geistigen
Bewegung; voran Alexandre Vinet (1797-1847), der treffliche Litterarhistoriker und Kritiker, der sympathische Prediger, der Vorkämpfer
für Toleranz und Gewissensfreiheit und Dichter einiger schöner Kirchenlieder; dann der patriotische Dichter Juste Olivier (1807-76),
der 12 Jahre neben Vinet eine Geschichtsprofessur bekleidete und einen tiefgehenden Einfluß auf die studierende
Jugend ausübte.
Die Revolution von 1845 entsetzte beide ihrer Stellen; aber
während jenen ein gütiges Geschick bald hinwegnahm, mußte Olivier
das bittere Brot der Verbannung essen und erleben, daß seine Landsleute ihn fast ganz vergaßen. Von Paris aus schrieb er seine
tiefempfundenen »Chansons lointaines«, aber weder diese, noch seine Romane, noch die Vorlesungen, die er
nach seiner Rückkehr (1870) in Lausanne hielt, vermochten die Teilnahme der Menge zu wecken. Neben diesen sind zu erwähnen:
Charles Monnard, der formvollendete politische Redner und Publizist, J. J. ^[Jean-Jacques] Porchat, der geist- und geschmackvolle
Übersetzer von Horaz, Tibull und Goethe;
der Historiker Vulliemin, der Pastor von Vevey A. Ceresole, dessen
»Scènes vaudoises« (1885) in waadtländischer Sprache geschrieben sind, Eugène Secrétan, der Verfasser der »Galerie suisse«
(1875),
seit einigen Jahren Präsident einer Gesellschaft, die sich die planmäßige Ausgrabung der Ruinen von Avenches zur Aufgabe
macht, Eugène Rambert, der Verfasser der »Alpes suisses« und vortrefflicher Essais und Biographien (A. Vinet,
Olivier, Calame, Javelle; vgl. die betreffenden Biographien im Hauptwerk);
u. a. m.
Wie die Revolution in Lausanne die Professoren in alle Winde zerstreute, so machte sie auch 1848 in Neuchâtel der kurzen Blüte
der Akademie (erst 1839 gegründet) ein jähes Ende. Hier hatte Olivier vor seiner Übersiedelung nach
Lausanne gelehrt; vornehmlich aber blühten Geographie und Geologie; Männer, wie Agassiz, der Begründer der Gletschertheorie,
Desor, sein Mitarbeiter und der Erforscher der Pfahlbauten und der Bronzezeit (gest. 1882), Guyot, Fr. de Rougemont, ein Schüler
Karl Ritters und universaler Geist, dessen geographische Handbücher in fast alle europäischen Sprachen
übersetzt worden sind, wirkten dort zusammen und fanden zum Teil nach der Revolution in der Neuen Welt eine zweite Heimat.
Die schöngeistige Litteratur war nur schwach vertreten: das Konsistorium übte eine zu strenge Zensur. 1883 hat sich eine
Anzahl jüngerer Schweizer und französischer Schriftsteller zu dem Zwecke zusammengethan, die litterarische
Annäherung beider Länder zu fördern;
ihr Organ ist die »Revue suisse romande« und ihr Haupt Adolphe Ribaux (geb. 1864),
der
einige Bände »Poésies« veröffentlicht hat.
Ganz ungewöhnliches Aufsehen haben vor einigen Jahren die hinterlassenen Gedichte
eines mit 21 Jahren verstorbenen jungen Mädchens, Alice de Chambrier (1861-82),
hervorgerufen, die von
Ph. Godet unter dem Titel: »Au delà« veröffentlicht wurden und in kurzer Zeit vier Auflagen erlebten;
es werden ihnen Gedankentiefe,
elegante Form und energischer Stil sowie vollständiger Mangel an verschwommener Sentimentalität nachgerühmt.
Der katholische Teil der französischen Schweiz, Freiburg
und Wallis,
spielt in der litterarischen Bewegung nur eine untergeordnete
Rolle. In Freiburg
wirkte in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts der Jesuit Girard (gest. 1840), ein liberaler und vorurteilsfreier
Mann, der durch seine praktische und theoretische Pädagogik sich die allgemeine Anerkennung erwarb und für seinen »Cours de
langue« den großen Preis Monthyon erhielt. 1841 wurde die Zeitschrift »L'Émulation« gegründet, die für
den katholischen Teil der Schweiz das war, was die »Revue suisse« (gegründet 1838,1861 verschmolzen mit der »Bibliothèque
universelle«) für den protestantischen. Aus der neuern Zeit ist Pierre Sciobéret (1830-1876) zu erwähnen, ein guter Märchenerzähler,
dessen »Scènes de la vie champêtre« in 2 Bänden von Ayer
mehr
(1882 u. 1884) veröffentlicht wurden, und Etienne Eggis, ein phantasievoller, graziöser Dichter, der wie ein Barde Deutschland
durchwandert und Gedichte in der Art unsrer Burschenlieder gedichtet hat (»Poesies«, hrsg. von Godet, 1885); er starb 1867 in
Berlin.
Vgl. Senebier, Histoire littéraire de Genève (Genf
1786,3 Bde.);
Sayous, Histoire de la littérature française
à l'étranger (das. 1853-61,2 Bde.);
Amiel, Coup d'œil sur le mouvement littéraire de la Suisse romande (das. 1849);
Gaullieur, Études sur l'histoire littéraire
de la Suisse française au XVIII. siècle (das. 1856);
Secrétan, Galerie suisse.
Biographies nationales (Lausanne 1875,2 Bde.);
Rambert, Écrivains nationaux (das. 1874; als Fortsetzung erschienen
die Einzelbiographien von A. Vinet und Juste Olivier, 1879);
Semmig, Kultur- und Litteraturgeschichte
der französischen Schweiz (Zür. 1882);
V. Rossel, Histoire littéraire de la Suisse romande (Genf
1889-90,2 Bde.);
Godet, Histoire littéraire de la Suisse française (Par. 1890); A. de Montet,
Dictionnaire biographique des Genevois et des Vaudois (Lausanne 1878,2 Bde.).