vermehrt hatten. Das lag aber daran, daß Frankreich nur 36 Proz. seines Marinebudgets
auf den
Schiffbau verwendete,
Deutschland
[* 2] z. B. über 50 Proz. Erfolgreicher war die rastlose
Thätigkeit der
Regierung für das Landheer. Der Kriegsminister
Freycinet führte eine wichtige
Reform durch, indem er die Befugnisse
des
Chefs des
Generalstabs derArmee erheblich erweiterte, so daß er eine selbständige
Stellung neben dem
Kriegsminister erhielt, und zum
Chef des
Generalstabs den
GeneralMiribel ernannte, welcher für den fähigsten
General der französischen
Armee galt.
Nachdem die außerordentlichen
Ausgaben des Kriegsbudgets 1871 bis 1890 die
Höhe von 2764 Mill.
Fr. erreicht hatten, wurde
für 1891 beschlossen, künftig das außerordentliche Kriegsbudget abzuschaffen und die Mehrkosten durch
die Mehrerträge der
Zölle und
Steuern zu decken. Um dies zu erleichtern, nahm der Budgetausschuß bei den außerordentlichen
Ausgaben des Kriegsbudgets erhebliche Abstriche vor und erzielte dadurch eine Verminderung des Regierungsansatzes um 77 Mill.
Fr., während die laufenden
Ausgaben sich erhöhten, da der Präsenzstand der
Armee 1891 um 10,000 Mann
vermehrt wurde.
Der
PräsidentCarnot und die
Regierung betonten bei jeder Gelegenheit, daß Frankreich nur den
Frieden wolle und seine Aufrechterhaltung
hoffe. Ohne
Zweifel meinten sie es aufrichtig, und auch die überwiegende Mehrheit der
Bevölkerung
[* 3] war gewiß friedliebend.
Nicht wenig trug dazu der bedeutende Aufschwung von
Gewerbe und
Handel seit 1889 bei. Aber trotz des Zusammbruches
des Boulangismus und der
Patriotenliga wurden immer wieder Äußerungen der Revanchelust in der
Presse
[* 4] und in öffentlichen
Reden offizieller Persönlichkeiten, besonders aus den
Kreisen der
Armee und
Marine, laut, welchen die
Regierung nicht entgegentreten
wollte oder konnte.
Außer gegen
Deutschland richtete sich der französische
Neid und die altgewohnte Anmaßung gegen
Italien,
[* 5] dessen
Beitritt zum
Dreibund als eine
BeleidigungFrankreichs angesehen wurde, während man den erhofften
Bundesgenossen im
Kampfe gegen
Deutschland,
Rußland, mit Schmeicheleien und Zuvorkommenheiten in einer
Weise überhäufte, die schließlich selbst in Frankreich Mißbilligung
fand, zumal der
Zar und die russische
Regierung sie in keiner
Weise erwiderten. Rußland zuliebe wurde Frankreich sogar seiner frühern
Orientpolitik ungetreu.
In dem Wetteifer der europäischen Mächte, sich möglichst großen
Besitz in
Afrika
[* 6] zu sichern, wollte auch Frankreich nicht zurückbleiben.
Das deutsch-englische
Abkommen vom gab ihm
Anlaß, einzugreifen, indem die in diesem
England zugestandene
Schutzherrschaft über
Sansibar
[* 7] einem
Vertrag zwischen und
England vom widersprach, welcher die Unabhängigkeit
Sansibars
für alle Zeit verbürgte.
England verstand sich zu
Verhandlungen, welche 5. Aug. zu einem
Abkommen führten, wonach Frankreich die Schutzherrschaft
Englands überSansibar, dieses die französische über
Madagaskar
[* 8] anerkannte und die
Ausdehnung
[* 9] des französischen
Einflußgebiets von
Algier bis zum
Niger und dem Tsadsee zugestand; über
Ägypten,
[* 10] auf welches Frankreich nicht verzichten wollte,
wurde nichts ausgemacht. Mit dem König von
Dahomé, mit welchem im
Sommer 1890 ein
Krieg ausgebrochen war, wurde im
OktoberFrieden geschlossen und der
Besitz von Hotonu sowie das Protektorat über
Porto novo gesichert.
Die
Kammer beschäftigte sich nach ihrem Wiederzusammentritt im
Herbst 1890 mit der Beratung des
Budgets für 1891 und des neuen
Zolltarifs, der nach
Kündigung aller
Handelsverträge bis Frankreich seine volle wirtschaftliche
Unabhängigkeit verbürgen
sollte. Bei der Festsetzung der
Sätze desselben ging die Mehrheit der
Kammer vielfach weit über die
Vorschläge
der
Regierung in schutzzöllnerischem
Sinne hinaus. Das
Budget bewilligten diesmal auch mehrere
Konservative, die sich damit
auf den
Boden der republikanischen
Verfassung stellten. Ja sogar mehrere
Bischöfe, namentlich der
Erzbischof von
Algier,
KardinalLavigerie, erklärten sich für die
Republik, da der monarchische
Geist in Frankreich nun einmal erloschen sei,
nachdem die Vertreter der
Monarchie, besonders die
Orléans,
[* 11] sich so unfähig und unentschlossen gezeigt und durch den
Bund
mit
Boulanger ihre
Sache unheilbar kompromittiert hatten.
Die gemäßigten
Republikaner sahen darin ein gutes Zeichen für die
Befestigung der französischen Zustände,
und die
Neuwahlen für den
Senat Anfang
Januar 1891 fielen zu gunsten der
Republik aus. Die
Radikalen freilich fühlten sich dadurch
nur ermutigt, ihre extremen Ansprüche auf ausschließliche Herrschaft zu erneuern, wie ein
Vorfall im
Théâtre-Français
Ende
Januar zeigte. Als hier ein
DramaSardous,
»Thermidor«, aufgeführt wurde, welches die Schreckensherrschaft
mit ihren Greueln schilderte (s. unten, S. 309), verlangten sie das Verbot desselben und setzten
es durch.
Dieser Erfolg ermutigte die Boulangisten, sich wieder einmal bemerkbar zu machen. Mehrere französische
Maler hatten sich
bereit erklärt, die internationale
Kunstausstellung in
Berlin
[* 12] 1891 zu beschicken, und dieKaiserinFriedrich
besuchte im
FebruarParis,
[* 13] um für diese Beschickung weiter zu wirken. Da berief
Deroulède die Anhänger der aufgelösten
Patriotenliga
zu einer Versammlung, die gegen die Beschickung einer
Berliner
[* 14]
Ausstellung durch französische
Künstler und den Besuch der
Kaiserin protestierte. Zu
Insulten gegen die
Kaiserin, die 27. Febr. ihre
Reise nach
London
[* 15] fortsetzte, kam es
nicht, aber die
Künstler beugten sich dem
Verdikt der Versammlung und zogen ihre Zusage zurück. Wiederum zeigte es sich,
daß alles Entgegenkommen
Deutschlands,
[* 16] um ein freundlicheres
Verhältnis zu ermöglichen, vergeblich war und das Geschrei
einiger Fanatiker der
Revanche genügte, um die
Regierung und die verständigen, friedliebenden
Kreise
[* 17] einzuschüchtern.
Zur Litteratur: Levasseur,
Histoire de la population avant 1789 et démographie de la
France comparée à celle des autres nations
au XIX. siècle (Par. 1889-91,3 Bde.);
Litteratur1889-90.Auf dem Gebiet des
Romans behauptete unstreitig den Vortritt
Zolas
»Bête humaine«,
eine gewaltige Eisenbahntragödie, welche außer der ganzen
Technik des Betriebs auf der viel befahrenen
Linie zwischen
Paris und
Havre
[* 21] eine
Reihe von Männern und
Frauen vorführt, bei denen der
Instinkt der Geschlechtsliebe
¶
mehr
zugleich die wilde Bestie im Menschen, einen atavistischen Trieb, zu vernichten und zu töten, weckt. Damit langt der Dichter,
dessen Arbeitsweise schon genugsam bekannt ist, beim Ausbruch des deutsch-französischen Krieges an: auf der letzten Seite
des Buches rast ein mit betrunkenen, johlenden Soldaten vollgepfropfter Zug
hinter einer führerlosen Lokomotive
[* 23] her,
deren Maschinist und Heizer sich unterwegs umgebracht haben, dem Verhängnis auf blutigen Schlachtfeldern entgegen.
Der nächste Band
[* 24] wird nun selbstverständlich ein Kriegsbild bringen, ein so unparteiisches, verspricht Zola, wie noch keins
dagewesen ist. Neben seiner ungeschlachten Titanenthat nehmen sich die beiden Romane, welche mit der »Bête humaine« den Vorzug
teilten, die meist gelesenen zu sein, »Cœur de femme« von PaulBourget und »Notre cœur« von Guy deMaupassant,
fast wie Miniaturen aus, und das sind sie auch gewissermaßen mit ihrer Kleinmalerei von Empfindungen und Dingen.
In dem »Frauenherzen« will der Liebling der Salonwelt den Beweis erbringen, daß ein tief angelegtes, geistig
und seelisch vornehmes Wesen zwei Männer zugleich lieben kann, ein niedergehendes und ein aufgehendes Gestirn. Das Ende ist
tragisch: die Heldin erkennt zu spät ihren Irrtum und büßt ihn mittelalterlich, aber darum nicht minder »fin de siècle«,
im Kloster ab. »Notre cœur« zeigt ebenfalls ein Frauenbild, welches dieser seit kurzem erfundenen Kategorie
angehört, aber im Rahmen der aristokratischen Gesellschaft, während es bei Bourget in die große Finanzwelt hinüberragen
muß.
Die geistig vielgeschäftige Kokette will nur Liebe wecken, selbst jedoch nichts geben, und macht damit einen naiven jungen
Mann unglücklich, bis er durch ein schlichtes Naturkind geheilt wird. So geht es fort mit den psychologischen
Studien ohne äußere Handlung und einer mehr konventionellen als wahren Vertiefung. Hierin erreicht Edouard Rod das äußerste
mit »Les trois cœurs«, einem der traurigsten Selbstbekenntnisse in Romanform,
welches in seinem Egoismus nicht grausamer und in seiner Grübelei nicht gewundener sein könnte. Dieser »Intuitivismus«,
wie Rod seine und seiner Mitstrebenden Manier getauft hat, ist fürchterlich und kann durch die Sucht, alle
Regungen zu belauschen und pessimistisch zu zerlegen, unerquicklicher werden als der derbste Realismus. Nach seiner Entstehung
noch jung, aber alt und flügellahm in seinem innersten Wesen, weiß er nur noch über die Fatalität der menschlichen
Anlagen zu stöhnen und leitet daraus seine laxe Moral und die Ereignisse ab.
Daneben bewährte sich der alte Weltmann Octave Feuillet noch immer in »Honneur d'artiste«, dem letzten Werk vor seinem Tode,
indes FerdinandFabre in seinem »Abbé Roitelet« und in »Xavière« wieder sehr anmutige Geschichten aus Pfarrhaus und Cevennenwildnis,
in »Un Illuminé« einen mystisch-aristokratischen Roman erzählte und Emile Pouvillon in »Chante-Pleure« nach vielen das Beste
lieferte, was man bisher von diesem Idyllendichter kannte. Hector Malot bleibt in »Mère« seiner Gewohnheit treu, Vorkommnisse
aus dem bürgerlichen Alltagsleben künstlerisch zu verwerten.
Dieses Bild aus der reichen Geschäftswelt erinnert mit der Zuziehung des Irrenarztes gegen den Hausherrn,
welcher sich den Launen der Seinigen nicht fügt, an einen öffentlichen Skandal der letzten Jahre und beleuchtet die Irrengesetzgebung
von ihrer schwächsten und darum gefährlichsten Seite. An einen ähnlichen Stoff tritt AlexanderHepp in »Chaos« heran, aber
mit mehr Schärfe; denn während in »Mère« die Gerechtigkeit schließlich obsiegt, geht der rechtschaffene
Vater in »Chaos« unter und schnellt sein Sohn, ein Jobber und Betrüger, nach kurzem Verschwinden wieder an die Bildfläche empor.
»Cadet« von JeanRichepin ist ebenfalls eine Familiengeschichte dunkelster Art, eine bäuerliche Schicksalstragödie, verfaßt
in einer malerisch mit Provinzialismen aus der Picardie, wo die Handlung spielt, durchzogenen Kraftsprache.
Ein neuer Roman des Akademikers Jules Claretie: »Puyjoli«, scheint aus alten Schubladen hervorgekramt zu
sein, »PortTarascon« von A. Daudet, das Ende seines »Tartarin«, bleibt weit hinter dem Anfang,
»Tartarin de Tarascon«, zurück, wie anderseits »Dernier amour« von GeorgesOhnet sich durch kein Merkmal von der sonstigen
Vielschreiberei dieses Glückskindes auszeichnet.
Obwohl die Produktion niemals stockt und jeder Tag mehrere Romane, nach einer kürzlich aufgestellten Statistik 20, auf den Markt
wirft, so war das Jahr an hervorragenden Werken entschieden arm. Manche der jungen Schriftsteller hielten weniger, als man
von ihnen erwarten durfte, vielleicht weil sie sich für ihre Schöpfungen nicht die nötige Muße gönnen;
so Abel Hermant in »Cœursà part«, Robert de Bonnières in »Le
[* 25] petit Margemont«, Paul Hervieu in »Flirt«, während andre wiederum
in ihren wahr sein wollenden Schilderungen weit über das Ziel hinausschossen, wie Octave Mirbeau in »Sébastien Roch«, Rosny
in »Le Termite«, Hugues Le Roux in »Les larrons«, PaulAlexis in »Madame Meuriot«, Edgar Monteil in »Une tournée
dramatique«, Maurice de Fleury in »Amours de savants«, Dubut de Laforest in »Colette et Renée«.
Diesen sind die Militärschriftsteller Lucien Descaves, Reibrach, Draux anzureihen, welche es darauf anzulegen scheinen,
die Kaserne und den Militärdienst bei der wehrpflichtigen Jugend verhaßt zu machen (»Sousoffs«, »La
Gamelle«, »Le soldat Chapuzot«). Nur als Kuriosum sei noch des »Magiers« Joséphin Péladan erwähnt, eines Jüngers des verstorbenen
Barbey d'Aurévilly, welcher es dem Meister noch weit zuvorthut an Absonderlichkeit in seiner Litteratur, aber ebensoweit hinter
ihm zurückbleibt, wo es sich um wahres Talent und auch um die Würde seines bürgerlichen Daseins handelt.
Der Magier hat schon eine ganze Reihe haarsträubender Romane geschrieben, deren erster »Le vice suprême« war, und deren
letzter, der 14., »La vertu suprême« heißen soll. Die Titel der Zwischenglieder sind: »Curieuse«, »L'initiation
sentimentale«, »A cœur perdu«, »Istar«, »La victoire du mari«, »Cœur en peine«, »L'Androgyne«, »La
Gynandre«, »Le Panthée«, »Typhonia«,
»Le dernier Bourbon«, »La lamentation d'Ilou«. Die sieben ersten Bände liegen schon fertig vor, die übrigen harren der Vollendung.
Péladan, der sich als Rosenkranzritter Sar Merodack nennt, will Frankreich umgestalten durch einen Katholizismus, der mit
der Kabbala verschweißt wäre, dem einzig Guten, was das ihm verhaßte Judentum auf die Jetztzeit herübergebracht
hat, und predigt daneben die wunderlichsten Liebestheorien, welche ein zerrüttetes Nervensystem je erträumte.
Es ist sehr bezeichnend, wenn auch keineswegs erfreulich, daß die »freie Bühne« mit den Werken, die sie zur Aufführung
brachte, im verflossenen Jahre eine Beachtung fand, die ihre Förderer selbst kaum erwartet hatten. Vielleicht
lag dies an der Nichtigkeit der dramatischen Arbeiten, mit denen die meisten
¶