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Sollte die Bevölkerungsgeschichte [* 2] ihre Aufgabe ganz erfüllen, so müßte es möglich sein, sowohl den Stand als auch die Bewegung der Bevölkerung, [* 3] d. h. der einzelnen Völker und der Völkersysteme, im ununterbrochenen geschichtlichen Zusammenhang zu erfassen. Davon ist die heutige Forschung noch weit entfernt. Ja, es kann sogar wohl auch gesagt werden, daß die Forschung niemals dazu gelangen wird, dieser Aufgabe nach allen Richtungen gerecht zu werden. Denn in der Entwickelung der Menschheit und der Völker gibt es große Epochen, für welche alle jene Behelfe fehlen, welche zur bevölkerungsgeschichtlichen Erforschung notwendig sind, und vermutlich werden diese Lücken nie ausgefüllt werden. Es beschränkt sich daher die Bevölkerungsgeschichte im allgemeinen darauf, den Gang [* 4] der populationistischen Erscheinungen der Völker und Völkersysteme im großen und ganzen zu skizzieren und zu umschreiben, ohne dabei auf ziffermäßige Fixierungen allzu tief einzugehen.
Aber auch hier sind gewisse Grenzen [* 5] gezogen. So beginnt die Forschung im wesentlichen erst bei der griechisch-römischen Epoche. Weiter zurück liegen nur bruchstückweise Nachrichten, z. B. über die uralte Kultur der Chinesen oder über das Volk der Juden, vor. Aber auch während der antik-klassischen Zeit ist es nur ein begrenzter Erdstrich, nämlich die Gegend des Mittelmeers, [* 6] über welche wir genauere Nachrichten besitzen, während über die übrigen europäischen, einige wenige asiatische und afrikanische Gegenden nur vage Vermutungen möglich sind und über die übrigen Teile Asiens und Afrikas sowie über Amerika [* 7] und Australien [* 8] begreiflicherweise die Nachrichten vollkommen fehlen.
Übrigens ist diesbezüglich auch in der Folge bis heute noch die Kenntnis höchst lückenhaft. Die gesamte Zeit des Mittelalters bleibt bis in das 13. oder 14. Jahrh. hinein im großen und ganzen vom populationistischen Standpunkt auch bezüglich Europas ein dunkles Gebiet, das kaum durch ganz vereinzelte Notizen bevölkerungsgeschichtlich erhellt wird. Erst um die Wende des Mittelalters und der Neuzeit gelangen wir zu festern Anhaltspunkten, die anfangs sehr unvollständiger Natur sind, sich aber mit jedem Jahrhundert erweitern.
Zunächst treten die städtischen Verhältnisse aus dem Dunkel in ein helleres Licht, [* 9] dann erst folgen in viel weiterm Abstande die Daten über größere Landstriche oder ganze Völker. Mit der allgemeinen Einführung der Volkszählungen, etwa zu Beginn des 19. Jahrh., kommen wir endlich zu deutlichen Zahlenvorstellungen über die Völker Europas (ausschließlich einiger Gebiete, wie Rußland, Türkei), [* 10] über Nordamerika [* 11] und die meisten übrigen amerikanischen Staaten, über die Kolonien in allen Weltteilen und vereinzelte außereuropäische Völker mit einigermaßen europäischer Kultur, z. B. Ägypten. [* 12]
Der Umkreis der Erkenntnis ist somit, wenn wir Nordamerika und die Kolonien hinzufügen, eigentlich auf Europa [* 13] und kulturell zugehörige Gebiete benachbarter Kontinente beschränkt. Abgesehen von diesem Mangel ist aber die auch insofern lückenhaft, als sie durchaus nicht im stande ist, die Phänomene aller Kategorien historisch zu erfassen. Sie ist vornehmlich nicht im stande, die Bewegungserscheinungen zu ermitteln, und auch von den Erscheinungen des Zustandes der Völker gelangt sie kaum zu etwas mehr als zur Feststellung der einfachen Volkszahl. Glücklicherweise ist aber damit auch die Hauptsache gegeben. Gemäß dem heutigen Zustande der Bevölkerungsgeschichte beschränken sich also ihre zahlenmäßigen Resultate höchstens auf die Feststellung der Größe einzelner Völker, städtischer oder Staatsbevölkerungen zu einzelnen markanten Epochen der geschichtlichen Entwickelung.
Demzufolge kann sich auch die vorliegende Skizze nur darauf beziehen, einerseits die Entwickelung der Volkszahl der wichtigsten Kulturvölker seit der antik-klassischen Zeit bis auf unsre Tage im allgemeinen zu umschreiben und anderseits für einige wichtigere Epochen Zahlenbelege beizubringen. Als solche sollen vorwiegend die Verhältnisse der griechisch-römischen Welt, der alten und mittelalterlichen deutschen Städte und des französischen Volkes seit den Zeiten der Gallier gelten. Zuvor aber ist es erforderlich, die Hilfsmittel der bevölkerungsgeschichtlichen Forschung zur Sprache [* 14] zu bringen.
I. Quellen und Methode.
Die vollkommenste Art der Ermittelung der Größe eines Volkes oder eines Teiles desselben ist die Zählung, in deren Wesen es liegt, daß jedes einzelne Individuum zur Verzeichnung gelangt, und daß die Absicht der Vornahme einer solchen Operation direkt auf die Erfassung der Volkszahl abzielt. Sie ist stets eine von der Obrigkeit ausgehende Maßregel. Im Effekt stimmen mit der eigentlichen Zählung solche Maßnahmen überein, welche eine Verzeichnung aus irgend einem speziellen administrativen Grunde darstellen, wenn diese auch alle Individuen umfaßt, wie z. B. die Anlegung der Heberollen der allgemeinen Personalsteuer, des Peterspfennigs im Mittelalter etc. Die ältesten Volkszählungen sind wohl jene in China [* 15] und jene der Juden, von denen die Bibel [* 16] berichtet, dann die ägyptischen, welche durch die jüngste Forschung bekannt wurden.
Was die antik-klassische Zeit anbelangt, so haben wir Nachrichten von einer Volkszählung des Demetrios von Phaleron, welche in Athen [* 17] in der Zeit zwischen 317 und 307 v. Chr. vorgenommen wurde und sich zwar auf alle Gesellschaftsklassen, aber nur auf die Männer und vermutlich nur auf die rechtliche, d. h. staatszugehörige, Bevölkerung erstreckte. Über etwanige sonstige gleichzeitige oder spätere Volkszählungen der griechischen Zeit fehlen Nachrichten, wohl aber ist bekannt, daß solche in der hellenistischen Zeit in den Großstaaten vorgenommen und auf die Gesamtbevölkerung ausgedehnt wurden; es ist dies dieselbe Epoche, in welche auch die Ausbildung des römischen Zensus fällt: der wichtigsten Quelle [* 18] für die Erkenntnis der Bevölkerungsverhältnisse in den Mittelmeerländern zur ersten römischen Kaiserzeit.
Dieser Zensus verband mit dem Zweck der Volkszählung jenen der Vermögenseinschätzung und reicht in eine sehr frühe Zeit zurück (Servius Tullius). Eine eigne Behörde hierfür, die Zensoren, wurde im J. 443 v. Chr. eingesetzt. Die Perioden der Einschätzung, des Lustrums, sind sehr ungleichmäßig. Man unterscheidet einerseits den republikanischen Zensus und seinen Nachfolger, den kaiserlichen Zensus, welcher die römischen Bürger umfaßte, und anderseits den Provinzialzensus, welcher seit dem 3. Jahrh. v. Chr. vorgenommen wurde.
Ähnliche Einrichtungen wurden auch auf die Bundesgenossen etc. übertragen. Verzeichnet wurde jeder Selbständige mit den Familiengliedern und dem Vermögen, wozu auch die Sklaven gehörten. Der letzte Zensus der Republik wurde in den Jahren 70-69 v. Chr. und der erste in der Kaiserzeit von August 28 v. Chr. durchgeführt. Derselbe Monarch ordnete noch Zählungen in den Jahren 8 v. Chr. und 14 n. Chr. an, während der letzte italische Zensus unter Vespasian 72 n. Chr. abgehalten wurde. Nun dauert es wohl an 1½ Tausend Jahre, ehe Nachrichten über Volkszählungen von neuem vorliegen. Erst nach der Reformation, ¶
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zur Zeit der zahlreichen Landteilungen, treten derartige Aufnahmen vereinzelt wieder auf, welchen wir auch und zwar schon etwas früher in Städten begegnen (Nürnberg [* 20] 1449). Als eigentliche beabsichtigte und allmählich immer systematischer ausgebildete Administrativmaßnahme findet die Volkszählung doch erst mit der Mitte und dem Ende des 18. Jahrh. (Friedrich II., Maria Theresia) Eingang und wird mit Beginn des 19. Jahrh. nach und nach in allen Kulturstaaten auf im wesentlichen übereinstimmende Basis gestellt. Aus diesem kurzen Überblick ist zu ersehen, wie ganz lückenhaft die auf Zahlungen beruhenden Quellen der Bevölkerungsgeschichte sind. Dabei ist aber noch zu bemerken, daß nicht alle historisch beglaubigten Zählungen in einem solchen Zustand überkommen sind, daß sie auch brauchbare Daten liefern, und daß es meist schwieriger historischer und statistischer Forschung bedarf, um solche Zahlen sprechen zu lassen.
Deshalb sieht man sich oft genötigt, zu solchen Zahlen zu greifen, welche zwar nicht die Bevölkerungszahl unmittelbar enthalten, wohl aber einen Schluß auf dieselbe mittels Berechnung gestatten. Das ist dann der Fall, wenn Dinge oder Thatsachen ziffermäßig bekannt sind, welche im allgemeinen mit der Größe eines Volkes oder Volksbestandteils in einem bekannten Verhältnis stehen. Nur in geringem Maße ist dies bezüglich der Häuser der Fall, indem deren Bewohnungsziffer zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ortschaften eine allzu verschiedene ist; dies gilt vornehmlich von den städtischen Wohnhäusern, während das gewöhnliche ländliche Haus doch im allgemeinen als von einer einzigen Familie bewohnt angenommen werden kann.
Besser sind schon solche Berechnungen, welche in einem Schluß von bestimmten Bevölkerungsschichten auf das Ganze des Volkes bestehen; solche Bestandteile einer Bevölkerung sind z. B. die Zahl der Erwachsenen, welche etwa durch die Eidespflichtigen oder die Waffenfähigen ersichtlich wird, oder die Zahl der Steuerpflichtigen, der Bürger etc. So gab es in Attika in jeder politischen Gemeinde (Demos) eine Liste, in welche jeder gemeindezugehörige Athener mit Erreichung eines bestimmten Alters verzeichnet wurde; an diese Eintragung knüpften sich die bürgerlichen und politischen Rechte, und mit deren Hilfe wurde die Liste der zur Volksversammlung berechtigten Bürger zusammengestellt.
Ebenso gab es in den griechischen Staaten Listen der in das kriegspflichtige Alter eintretenden Jünglinge, aus denen der (Militär-) Katalog verfaßt wurde. Diese Rollen [* 21] sind zum Teil bis heute erhalten und auch schon von verschiedenen antiken Historiographen zu Berechnungen benutzt worden. Mit anbrechende Neuzeit, besonders im 16. Jahrh., werden Anhaltspunkte ähnlicher Art immer häufiger. Im Mittelalter selbst vermissen wir sie so ziemlich ganz, denn es ist doch sehr gewagt und schwierig, aus den Domanialverzeichnissen, wie solche z. B. aus der karolingischen Zeit vorliegen, weitergehende Schlüsse ziehen zu wollen. Zu solchen Quellen der anbrechenden Neuzeit gehören z. B. die sogen. Landesteilungen, aus welchen die Zahlen der Häuser, steuerpflichtigen Personen, Ortschaften etc. entnommen werden können; man hat solche benutzt, um die Bevölkerung ganzer Landstriche aus ihnen zu ermitteln.
Ähnlichen Charakters sind die gleichfalls aus derselben Zeit datierenden Mannschaftsmusterungen und dann die sich mit Ausbildung des Steuerwesens immer mehrenden Steuerrollen, Steuerkataster u. dgl. Doch treten alle diese Berechnungsbehelfe zurück gegenüber denjenigen Quellen, in denen die Elemente der Bevölkerungsbewegung, die Geburten, Sterbefälle und Trauungen, enthalten sind. Hier kommen einfache, in ihrer Gesetzmäßigkeit bereits ziemlich erforschte, populationistische Erscheinungen in Betracht, bei welchen die Berechnung der Bevölkerungssumme aus den Bewegungselementen im Lauf der Zeit nur geringfügigen Modifikationen unterliegt.
Wir begegnen solchen Registern schon im griechischen und lateinischen Altertum. In Athen führten die Phratrien Geburtsregister, und wir begegnen denselben auch in Italien [* 22] und den Provinzen, während Sterbelisten viel später üblich wurden. Ihre eigentliche Bedeutung erlangen die Register der Bevölkerungsbewegung erst mit den Matriken und Standesbüchern der christlichen Staaten Europas. Wann die Kirchenbücher zuerst üblich oder vorgeschrieben wurden, ist heute noch nicht mit Bestimmtheit zu sagen; erhalten sind nur wenige aus dem 15. Jahrh. (vereinzelte gehen allerdings weiter zurück), während sie ihre Ausbreitung erst mit der Reformation finden und da auch kirchlicherseits eingeführt werden (Concilium Tridentinum). Im Dreißigjährigen Kriege gingen dann mit den zahlreichen Bränden der Ortschaften und Kirchen ungemein viele dieser Bücher verloren, so daß sie in größerer Zahl und zusammenhängender Reihenfolge eigentlich erst seit Ende des 17. Jahrh. vorgefunden werden.
Aber auch von da ab sind die Serien häufig noch lückenhaft, indem auf die Erhaltung und Konservierung lange nicht das nötige Interesse verwendet wurde. Erst als mit Ende des 18. Jahrh. die staatlichen Vorschriften über die Führung solcher Kirchenbücher allgemeiner und nachdrücklicher wurden, sind fortlaufende Reihenfolgen keine Seltenheit mehr. Gegenwärtig erkennt man den hohen Wert dieser Kirchenbücher und sucht dieselben der Wissenschaft dienstbar zu machen. So ließ England gelegentlich der ersten Volkszählung die Populationsdaten der Matriken für ein (das 18.) Jahrhundert zurück aufarbeiten und traf Vorsorge, daß Duplikate derselben in einem Zentralamt, dem General Register office, gesammelt und aufbewahrt werden. In andern Staaten (Österreich, [* 23] Belgien, [* 24] Baden) [* 25] wurde eine allgemeine Inventarisierung der Matriken angeordnet, welche gegenwärtig mehr oder weniger beendet ist, und durch welche künftigen Verlusten vorgebeugt werden soll.
Durch diese Kirchenbücher erscheint die Hoffnung ziemlich begründet, daß es gelingen wird, die Bevölkerung großer Gebiete Europas für den Verlauf etwa der letzten drei Jahrhunderte nicht nur in allgemeinen Zügen, sondern auch in ziemlichem Detail zu ermitteln und zu fortlaufenden Zifferreihen der Geburten, Sterbefälle und Trauungen zu gelangen. Allerdings würde die Kraft [* 26] privater Forscher an der Riesenarbeit, welche mit der Ausarbeitung dieser Kirchenbücher verbunden ist, scheitern; dagegen dürfte es als Aufgabe der ja so weitverzweigten historischen Vereine bezeichnet werden, hier kräftig einzutreten, ebenso wie sich auch die statistischen Ämter den Aufgaben der historischen Statistik nicht auf die Dauer verschließen dürfen. Man nennt nun jene auf historischer und statistischer Methode und Berechnung basierende Ermittelung der Volkszahl früherer Zeiten aus den bisher genannten Quellen und Anhaltspunkten: die Rekonstruktion der Bevölkerung, und es hat diese überall dort einzutreten, wo nicht einfache und konzise Zählungsdaten überliefert sind.
Fehlen sowohl Zählungen als auch Anhaltspunkte der Berechnung, so erübrigt für die Ermittelung der Volkszahl nur noch der Weg der Schätzung. Kennen wir z. B. für eine Bevölkerung und einen ¶