in welchem man die Mißwirtschaft verkörpert sah, so groß, daß Celman, nachdem es ihm nicht gelungen war, ein neues Ministerium
zu bilden, 6. Aug. seine Entlassung einreichte, die von den Kammern angenommen wurde. Der bisherige Vizepräsident Pellegrini
wurde zum Präsidenten gewählt und General Roca mit der Bildung eines neuen Ministeriums beauftragt, das
aus den verschiedenen Parteien zusammengesetzt wurde. Der neue Finanzminister Vicente F. Lopez beantragte sofort die Ausgabe
von 60 Mill. Schatzscheinen und die Ausnahme einer auswärtigen Anleihe von 20 Mill. Pesos Gold, um die fälligen Schuldenzinsen
bis Ende 1891 voll bezahlen zu können. Dafür versprach er, im Budget beträchtliche Ersparnisse durchzuführen
und die Einnahmen durch hohe Schutzzölle zu steigern. Der Kongreß genehmigte seine Vorschläge. Der Wohlstand des Landes hatte
einen schweren Schlag erlitten, die Einwanderung und der Schiffsverkehr gingen stark zurück.
Neuere Litteratur: Latzina, Géographie de la République Argentine (Par. 1890);
Lehmann, Die Rechtsverhältnisse der Fremden
in Argentinien (Hamb. 1890);
Alcorta, La Republica Argentina en la Esposicion universal de Paris de 1889 (Par.
1890);
G. Modrich, Repubblica Argentina, note di viaggio da Buenos Aires alla Terra del fuoco (Mail. 1890);
Karte von Argentinien
von Duclout, Karte der Provinz Buenos Ayres von demselben (beide Hamb. 1890).
(Dithymoldijodid), von Messinger und Vortmann dargestellte Verbindung, welche durch Versetzen einer Lösung von
Jod in Jodkalium mit einer alkalischen Thymollösung entsteht und als amorphes, äußerst zartes, rötlichbraunes, geruchloses
Pulver mit 45,8 Proz. Jod erhalten wird. Es ist leicht in Äther, auch in fetten Ölen, wenig in Alkohol,
nicht in Wasser und Glycerin löslich und wird durch Licht, in Lösungen auch durch Wärme leicht zersetzt. Man benutzt Aristol gegen
Hautkrankheiten und rühmt seine vollkommene Unschädlichkeit, so daß üble Nebenwirkungen ausbleiben.
Als arm bezeichnet man denjenigen, der nicht so viel an wirtschaftlichen Gütern besitzt,
als zur Deckung des zur Lebenserhaltung notwendigsten Bedarfs erforderlich ist. Das Maß dieser notwendigsten Güter bestimmt
sich entweder durch die menschliche Natur (Nahrung, Kleidung, Wohnung), oder durch außerhalb des Individuums liegende Anschauungen
sozialer Art; so kann man z. B. heute die elementare Bildung zu solchen notwendigen Lebensgütern zählen.
Es dürfte wohl mit jeder Gesittung oder Kultur von jeher die Neigung vorhanden gewesen sein, den Mitmenschen solche fehlende
notwendigste Güter aus freiem Antrieb zukommen zu lassen.; die Anschauung von einer Pflichtmäßigkeit einer solchen Überführung
der notwendigsten Lebensgüter von den sie Besitzenden zu den sie Entbehrenden oder Armen entstand aber
in ausgesprochenerm Maße erst durch die christliche Religion.
Seit der Christianisierung Europas bildete die Sorge für die Armen eine wesentliche Aufgabe der Klöster und Stifte, und mit
Entstehung der Städte entstand fast gleichzeitig eine auf religiösem Motiv beruhende Fürsorge für die verarmten Gemeindegenossen,
welcher die zahlreichen Bürger-, Geistspitäler u. dgl.
ihre Entstehung verdanken. Nach der Kirchenspaltung war es insbesondere die helvetische Konfession, welche diesen Inhalt der
katholischen Religion als wesentlichen Bestandteil
übernahm.
Bis heute noch lebt dieses Prinzip der religiösen Pflichtmäßigkeit der Fürsorge für die Armen, allerdings wesentlich an
Intensität und Umfang geschwächt, fort. Neben dasselbe und vielfach an dessen Stelle trat, vornehmlich
in der sogen. Aufklärungszeit, das humanitäre Prinzip, welches die Pflichtmäßigkeit der Sorge für die Armen in dem Gedanken
der allgemeinen Menschlichkeit begründet findet. Dessen Bedeutung war verhältnismäßig ziemlich gering und seine praktische
Ausführung infolge der Verschwommenheit des Begriffs eine meist unmögliche; wir sehen es heute noch
vorwiegend z. B. in den freimaurerischen humanitären Vereinigungen und Anstalten und dann
in den nichtkonfessionellen Vereinen zur Abhilfe gegen die Armut nachwirken. Im laufenden Jahrhundert macht sich ein neues Prinzip
der Pflichtmäßigkeit der Fürsorge für die Armen geltend.
Dieses beruht einerseits aus der Erkenntnis des sozialen Zusammenhanges der Menschen in Volk, Staat, Gemeinde
und der Bedingtheit der Existenz dieser Verbande durch die Individuen, deren Erhaltung somit durch die erstern zur Notwendigkeit
wird, und anderseits in der Erkenntnis des Umstandes, daß die Armut in erster Linie eine Folge der gegenwärtigen wirtschaftlichen
Organisation der menschlichen Gesellschaft ist und demgemäß, falls diese Einrichtung der Gesellschaft
als berechtigt angesehen wird, aus derselben heraus ihre Abhilfe finden muß; dieses Prinzip läßt sich als das sozial-ökonomische
bezeichnen.
Allerdings wird die Wirksamkeit dieses modernen Prinzips vornehmlich von dem religiösen, dann aber auch von dem humanitären
gestützt, begleitet und durchkreuzt. Die wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft sieht ihre letzte Wurzel
darin, daß jedes Individuum sich die Lebensgüter selbst zu beschaffen habe, wozu im allgemeinsten Sinne die Arbeit dient.
Die Fürsorge für die Armen muß daher zunächst dahin gerichtet sein, die Individuen in stand zu setzen, entlohnte Arbeit,
die Grundbedingung der Existenzmöglichkeit, in zureichendem Maße vorzufinden und erst in zweiter Linie,
falls dies infolge von in der Gesellschaft oder im Individuum liegenden Gründen unmöglich ist, die Erhaltung der Individuen
schlechthin vorzunehmen.
Dieser Gedanke, der sich in der heutigen bürgerlichen und in der jüdisch-konfessionellen Armenfürsorge in ausgesprochenem
Maße vorfindet, hat in der christlichen Anschauung keine zureichende Ausgestaltung erfahren, und es ist dies
einer der Hauptumstände, welche dieselbe auf dem Gebiet der Armenfürsorge zu Falle brachten. Im allgemeinen handelt es sich
dabei um Zuführung von so viel entlohnter Arbeit, resp. Lebensgütern, daß die dringendsten Bedürfnisse befriedigt werden
können. Die Gesellschaft sieht hierin eine Notwendigkeit, woraus sich für die öffentlich rechtliche Organisation derselben,
den Staat und den Inbegriff seiner Organe, eine administrative Pflicht ergibt. Derselben steht jedoch ein
Recht des Individuums nicht gegenüber. Damit ist unleugbar eine Lücke der öffentlichen Organisation gegeben, welche zu überbrücken
erst versucht werden müßte.
Man nennt nun den Inbegriff aller derjenigen von der öffentlich organisierten Gesellschaft ergriffenen Maßregeln, welche
auf die Aufhebung der Armut abzielen, die Armenverwaltung; dieselbe ist ein Teil der innern Verwaltung und zwar derjenigen,
welche sich auf das gesellschaftliche Leben, die Klassenbewegung, bezieht. Der Inbegriff der auf die
mehr
Armenverwaltung gerichteten staatlichen und Selbstverwaltungsgesetze, Verordnungen und Statuten bildet das Armenrecht. Innerhalb
des Gebietes der Armenverwaltung ist das Gebiet der Armenpolizei zu unterscheiden, welche in einem zweifachen besteht. Erstlich
in der Vorbeugung gegen Verarmung durch gewisse Beschränkungen der persönlichen Freiheit (bezüglich Freizügigkeit, Eheschließungen,
Hasardspiel, Genuß geistiger Getränke etc.) und zweitens in der Beseitigung solcher Armutserscheinungen,
welche eine Gefahr oder einen Nachteil für die Gesellschaft darstellen (Bettelei, Landstreichertum etc.). Mit der Armenpolizei
begann die öffentliche Armenverwaltung, und die Zeit seit Mitte des 16. Jahrh. bis tief in
das 19. Jahrh. hinein ist z. B. mit sogen.
Bettlerordnungen reichlich gesegnet. Es ist jedoch leicht ersichtlich, daß eine einfach vorbeugende
und negativ-repressive Thätigkeit, welch letztere vornehmlich in der Polizeipraxis der Abschiebung bis heute sehr verbreitet
ist, nicht zureichen konnte, und zwar dies selbst dann nicht, wenn man die außerordentlich ausgebreitete konfessionelle
Fürsorge für die Armen zu jener Zeit mit in Betracht zieht.
Die Armenverwaltung mußte einen positiven Inhalt bekommen, und denselben kann man am besten als Armenpflege
bezeichnen, welche nun mit der Armenpolizei das Gebiet der Armenverwaltung erschöpft. Die Armenpflege beugt nicht vor, sondern
beschäftigt sich mit der vorhandenen Armut, und sie will nicht die Gesellschaft durch Beseitigung der Armutssymptome schützen,
sondern sie will die Armut aus der Gesellschaft durch Beseitigung der Verarmungsursachen entfernen.
Die Armenpflege hat also im Gegensatz zur Armenpolizei einen wesentlich positiven Inhalt; ihr gegenüber ist die Armenpolizei
heute weit in den Hintergrund getreten. Allerdings ist die Stellung der Armenverwaltung zur Polizei und Pflege in den verschiedenen
Staaten sehr verschieden. Während die Armenpolizei wohl überall als notwendiges Element der Verwaltung
angesehen wird, ist dies bezüglich der Armenpflege nicht so allgemein der Fall. Man spricht hier von einer fakultativen und
einer obligatorischen Armenpflege, was ziemlich, wenn auch nicht vollkommen, zutreffend ist.
Eine fakultative Armenpflege besitzen jene Staaten, welche keine Verpflichtung von öffentlichen Verbanden
zur Versorgung etc. kennen, sondern diese von Stiftungen und ähnlichem abhängig machen (Frankreich); allerdings gilt dies
nicht bezüglich aller Zweige der Armenpflege. In den Ländern der obligatorischen Armenpflege (England, Deutschland, Österreich)
besteht eine Verpflichtung öffentlicher Verbände, als Gemeinden, Genossenschaften etc., zur Fürsorge für die Armen wohl als
administrative Pflicht, wenn auch eine Geltendmachung derselben seitens des Bedürfenden kaum einen Erfolg
haben dürfte. Im letzten Effekt dürften beide Systeme übereinstimmen, indem eben immer nur jene Mittel aufgewendet werden,
welche nicht etwa den Bedürfnissen der Armenpflege, sondern den Finanzen der Verbande entsprechen.
Wenn aber nun die Armenpflege doch schon ihre Stellung in der öffentlichen Verwaltung gefunden hat, so
geht lange noch nicht alle Armenpflege von der öffentlichen Gewalt aus. Es wird vielmehr von der Gesellschaft selbst, unmittelbar,
d. h. ohne Vermittelung ihrer öffentlichen Organisation, für die Armen Sorge getragen. Geschieht dies aus rein religiösen
oder humanitären Motiven an sich, so spricht man von wohlthätigkeit, welcher planmäßiges Vorgehen nicht
wesentlich innewohnen muß.
Dagegen
kann auch die unmittelbare Fürsorge der Gesellschaft dieselben Grundsätze befolgen wie die öffentliche, und man spricht
dann von einer öffentlichen und von einer privaten Armenpflege, wodurch der letztgenannte Ausdruck doppeldeutig wird. Was
nun die Subjekte der Armenpflege und zwar zunächst der öffentlichen Armenpflege anbelangt, so wird die
letztere nur zum geringsten Teile und meist nur in Zwergstaaten von der Staatsgewalt im engern Sinne, vielmehr fast ausschließlich
von den Organen der Selbstverwaltung, früher geradezu nur den Gemeinden, jetzt auch von größern Verbanden ausgeübt; dabei
übernehmen die größern Verbande (meist Provinzen, selten Bezirke) gewöhnlich die kostspieligern Arten
der Armenkranken-Versorgung u. dgl., die subsidiarische
Beihilfe, Dotationen und ähnliches, während der ordentliche Gang der Verwaltung ganz auf den Schultern der Gemeinden liegt.
Die private Armenpflege geht von religiösen Organen, von privaten Vereinigungen und endlich von Einzelpersonen aus. Die letztgenannte
Form stellt sich meist als das planlose Almosen dar, welches als Ausfluß religiöser oder humanitärer
»Wohlthätigkeit« nicht selten mit der planmäßigen sozial-ökonomischen Armenpflege in direktem Gegensatz steht und die letztere
sehr behindert. Von enormer Wichtigkeit ist dagegen jene Spendung von Mitteln, welche seitens der Einzelpersonen nicht direkt
an den Bedürftigen, sondern an die Organe der Armenpflege erfolgt und deren Thätigkeit häufig überhaupt
erst möglich macht.
Die Armenpflege der kirchlichen Organe ist heute sehr eingeschränkt, da in mehreren katholischen Staaten (z. B. Frankreich,
Österreich) deren diesbezügliche Thätigkeit durch das Eingreifen der öffentlichen Gewalt fast ganz beseitigt wurde und
eine solche in andern Staaten allmählich außer Übung kam oder, wie in den Gegenden augsburgischen Bekenntnisses,
nie recht in Übung stand. Was die weiten Gebiete der griechisch-orthodoxen Religion anbelangt, so entbehren diese der Armenpflege
überhaupt fast ganz und auch vollkommen einer kirchlichen Organisierung derselben.
Somit stellt sich als der einzig belangreiche Zweig der privaten Armenpflege die Vereinsarmenpflege heraus, welche
im 19. Jahrh. zu einer großen Blüte anwuchs, nachdem die kirchliche Vereinsthätigkeit, die Brüderschaften und ähnliches
mit Ende des 18. Jahrh. ihre Bedeutung allmählich eingebüßt hatten. Die dem Zwecke der Armenpflege gewidmeten Vereine scheiden
sich in konfessionelle und bürgerliche oder weltliche. Unter den konfessionellen ragen vornehmlich die katholischen Vinzenzius-Vereine
hervor, welche eine großartige, in einem Einheitspunkt zusammenlaufende Organisation besitzen; ferner
sind verschiedene konfessionelle Frauenvereine, die protestantischen Gustav-Adolf-Vereine und die zahlreichen jüdisch-konfessionellen
Vereine zu nennen.
Überhaupt entstanden die Vereine auf dem Boden der Armenpflege zuerst als konfessionelle, und ziemlich spät, meist erst in der
zweiten Hälfte des laufenden Jahrhunderts, folgten ihnen, sie vielfach ablösend, die bürgerlichen oder
nichtkonfessionellen. Die bedeutendste Rolle unter diesen letztern spielen die Vereine gegen Verarmung und Bettelei, welche
nach dem Muster des Berliner Vereins sich allmählich, vornehmlich über die deutschen und deutsch-österreichischen Länder
verbreiteten. Sie stehen vollkommen auf sozial-ökonomischem Boden und operieren mit allen Mitteln der rationellen
Pflegethätigkeit. Auch auf dem Boden der bürgerlichen Vereine sind, wie auf dem
mehr
konfessionellen, die Frauenvereine stark emporgeblüht. Dabei aber hat sich dann in den bürgerlichen Vereinen eine Spaltung
in diejenigen vollzogen, welche dem Armenpflegezweck schlechthin dienen, die sogen. allgemeinen,
und in jene, welche nur speziellen Zweigen desselben gewidmet sind; zu diesen letztern gehören vornehmlich die Armenpflegevereine
für Zwecke der Schule und Erziehung (Schul-, Kinderfreunde, Beteilungen mit Büchern, Kleidung, Schulspeiseanstalten,
Krippen, Besserung verwahrloster Armenkinder etc.), dann die Weihnachtsbaum-Vereine, die Volksküchen-Vereine, die Vereine für
Thee- und Suppenanstalten, ferner für Wärmestuben, die Asylvereine für Obdachlose, für Werkhäuser, die Vereine für Arbeitsvermittelung.
Eine ganz besondere Stellung nimmt der Deutsche Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit ein, der sich
mit der Ausgestaltung der Armenpflegemethoden befaßt und seine Thätigkeit in jährlichen, von Ort zu Ort wechselnden Zusammenkünften
der Mitglieder sowie durch Veröffentlichung von einschlägigen Schriften, Diskussionen, Referaten, Statistiken etc. ausübt.
Nun ist es begreiflich, daß ein Nebeneinandergehen von öffentlicher und privater, vornehmlich also Vereinsarmenpflege
nicht ungeregelt erfolgen dürfe, soll der Zweck der Armenverwaltung auf die beste Art erreicht werden.
Die Beziehungen, welche sich aus der Erwägung dieses Umstandes ergeben, führen zunächst zu den ganz freien Vereinen, bei
denen das bemerkte Moment nicht beachtet wird, und welche demgemäß ganz unabhängig, oft durchaus nicht zur Förderung des
Zweckes, neben der öffentlichen Armenpflege einherschreiten; dann zu den mit öffentlichen Elementen versetzten
Vereinen, bei welchen die Verknüpfung der privaten mit der öffentlichen Armenpflege als notwendig erkannt und in verschieden
intensivem Maße auch durchgeführt ist. Es muß nun als einer der wesentlichsten Fortschritte in der Armenpflege bezeichnet
werden, daß die Spaltung in zwei ganz unabhängige Durchführungsgebiete fallen gelassen werde. Dies
kann natürlich nur so erfolgen, daß die Vereine ihren Zweck nur im Rahmen der öffentlichen Armenpflege, in steter Fühlung
und Unterordnung unter die letztere, zur Durchführung bringen. In dieser Hinsicht ist allerdings noch sehr viel zu thun.
Die gegenwärtige Armenpflege wird in methodischer Beziehung von Prinzipien regiert, von welchen keines
übersehen werden darf, soll der Erfolg mit den geringsten Mitteln und größtem Nutzen erreicht werden. Das erste ergibt
sich schon aus dem sozial-ökonomischen Charakter des heutigen Armutsbegriffs und verlangt, daß jeder Arme zunächst in stand
gesetzt werde, durch Arbeit selbst seine Existenz zu wahren; nur im Falle der Arbeitsunmöglichkeit erfolgt
die Erhaltung durch die organisierte Gesellschaft.
Das zweite Prinzip steht in vollkommenem Gegensatz zu der echt individualistischen Auffassung des Almosens, welches nur einzelne
Arme kennt, und besteht in der Wahrung der Familie. Jede rationelle Armenpflege muß den einzelnen, der ihr Anlaß zum Einschreiten
gibt, aus dem Rahmen seiner Familie heraus beurteilen; danach ist immer das Familienhaupt (Vater, Witwe)
das nächstliegende Angriffsobjekt, und daraus ergibt sich auch rein der Begriff der Waisenpflege.
Das dritte Prinzip, dasjenige der Individualisierung, verlangt, daß jeder Einzelfall einer Verarmung mit seinen Ursachen und
allen Begleitumständen klargestellt werde, und daß das Eingreifen der Pflege sich genau an diese Eigenart
des Falles anschließe; es ist gerade dieses
mit dem kritiklosen Almosengeben gleichfalls in vollstem Widerspruch stehende
Prinzip, dem die Armenpflege heute ihre größten Erfolge verdankt. Übrigens ist klar, daß mit der Notwendigkeit der Individualisierung
der so enorm zahlreichen Armutsfälle nicht nur eine kolossale Anzahl von Pflegepersonen, sondern auch
eine ungemeine Verfeinerung des Vorgangs bedingt ist.
Der vierte und letzte Grundsatz endlich ist jener der Konzentration, d. h. jeder Armenpflegevorgang muß mit allen übrigen
im Zusammenhang stehen und alle von einem gemeinschaftlichen Punkte aus ihre Leitung empfangen. Die beiden Vorteile, welche
sich aus einer konzentrierten Armenpflege ergeben, sind einerseits Geld- und Kraftersparnis und anderseits,
was noch wichtiger ist, Vermeidung von vervielfachter Beteiligung und damit vollständige Verhinderung der Professionsbettelei.
Die Forderung nach Konzentration kommt vornehmlich rücksichtlich der Scheidung in die öffentliche und private Armenpflege und
innerhalb aller der an einem Orte (z. B. Großstadt) wirkenden Organe der letztern untereinander in Betracht.
Sie hat ihren bisher besten Ausdruck in der auch bereits anderwärts nachgeahmten Zentralstelle des Verbandes der Wohlthätigkeitsvereine
in Dresden (gegründet 1883) gefunden, ersetzt aber natürlich nicht eine Organisation, welche etwa in der stärkern oder schwächern
Verschmelzung aller Armenpflegeorgane zu einem einheitlichen Organ bestehen würde.
Gehen wir nun auf den technischen Prozeß der Armenpflege selbst ein, so begegnet uns zunächst der durchgreifende
Unterschied zwischen der offenen und geschlossenen Durchführung der Armenpflege. Die letztere erfolgt in Anstalten, wie z. B.
Armen-, Waisen-, Krankenhäusern, Naturalverpflegestationen u. dgl.,
während der Arme bei der erstern in seinem eignen Heim verbleibt. Die Vorzüge oder Nachteile jeder der
beiden Arten sind bei den einzelnen Gebieten der Armenpflege verschieden und die ganze Frage nach der Zweckmäßigkeit des einen
oder des andern noch nicht entschieden.
Was die Geldbeteilung und Naturalverpflegung anbelangt, so hat die erstere mit der offenen Durchführung sowie die Naturalverpflegung
mit der geschlossenen engere Fühlung, obgleich damit keine Übereinstimmung der Gebiete gesagt ist. Bis
heute wurde die Geldbeteilung in Gemäßheit des geldwirtschaftlichen Charakters unserer Zeit auffallend und nicht zum Vorteil
der Durchführung bevorzugt; erst in der allerjüngsten Zeit beginnt die Naturalbeteilung, welche in den ersten Tagen der Armenpflege
die vorwaltende war, wieder ihren wohlverdienten Platz einzunehmen.
Der Haupterfolg, der mit ihr zu erzielen ist, ist die Vermeidung von leichtfertiger Verwendung der Geldspenden, aber auch
die Erzielung einer größern Billigkeit bei der Massenanschaffung oder Selbsterzeugung durch die Gemeinden. Der Gegensatz von
vorübergehender und dauernder Verpflegung findet sich nahezu in allen Armenordnungen in irgend einer
Weise ausgeprägt. Für gewöhnlich stehen den Pfründen u. dgl. sogen.
außerordentliche Unterstützungen etc. gegenüber. In jüngster Zeit beginnt man aber (ob ganz
mit Recht, ist noch zu entscheiden) an der Berechtigung einer solchen Zweiteilung zu zweifeln, indem man von dauernder Verpflegung
überhaupt absehen will und jede Armenpflege als eine vorübergehende Hilfe ansieht; in ältern Systemen
steht dagegen dieser Gegensatz in voller Kraft. Die Scheidung in volle und teilweise Verpflegung kann unter Umständen von Bedeutung
werden, ebenso
mehr
wenn es sich um die endgültige administrative Verpflichtung der öffentlichen Organe handelt, der Gegensatz von provisorischer
und definitiver Pflege, der speziell für die gegenseitige Stellung und Verrechnung der Gemeinden in Deutschland und Österreich
von großer Wichtigkeit ist. Was die viel gebrauchte Unterscheidung in die städtische und ländliche Armenpflege anbetrifft,
so verdient dieselbe deshalb Beachtung, weil mit Rücksicht auf die eigenartige Gestaltung des Armenwesens
in den Städten, besonders den Großstädten, einerseits gegenüber den Landorten nicht nur eine quantitativ erhöhte, sondern
auch qualitativ ganz eigenartige Thätigkeit erforderlich wird.
Was nun endlich die einzelnen Bethätigungsgebiete der Armenpflege anbelangt, so haben sich hier im Laufe
der Zeit einige empirisch herausgebildet, ohne daß etwa mit denselben der Kreis der Armenpflege geschlossen sein müßte oder
daß nach allgemeiner Anschauung alle erforderlich wären. Insbesondere sind dies die folgenden: Die wichtigste Stelle nimmt
die vollständige oder teilweise permanente oder vorübergehende Fürsorge für verarmte Personen, resp. Familien ein, welche
man als Armen-Versorgung, Verpflegung, Beteilung etc. mit Pfründen und Unterstützungen etc. bezeichnet.
Für die Minderjährigen oder überhaupt noch Alters wegen unselbständigen Personen nimmt diese Fürsorge die Gestalt der Waisenpflege
an. Die Fürsorge für wegen und während einer Krankheit Arme bezeichnet man als Armenkrankenpflege, an welche sich dann die
Armenbegräbnisbesorgung anschließt. Eine besondere Ausgestaltung hat die Fürsorge für wandernde Arme
in letzter Zeit erhalten, welche in den Zehrgeldern und noch mehr in den Naturalverpflegestationen ihre beste Ausbildung gefunden
hat. Eine ganz selbständige Beachtung verdient dann die Hilfe in außerordentlichen Notfällen, welche bei infolge von Elementarereignissen
etc. eintretender Massenverarmung notwendig wird und gegenwärtig noch ganz
im argen liegt. Kleine Spezialgebiete endlich treten in großer Mannigfaltigkeit auf, wie z. B. Fürsorge für arme Schulkinder,
Weihnachtsbeteilungen, Rettungsanstalten, Speise- und Wärmanstalten etc.
Die Armenverwaltung im Deutschen Reich und in Österreich.
Deutsches Reich. Die Länder des Deutschen Reichs bilden (abgesehen von Bauern und Elsaß-Lothringen, wovon später zu
sprechen ist) vom Standpunkt der Armenverwaltung ein einheitliches Gebiet, in welchem die Regelung derselben zum größten
Teil durch das nach preußischem Vorbild verfaßte Gesetz über den Unterstützungswohnsitz vom erfolgte. Durch dasselbe
wurde in Anlehnung an lange bestehende Einrichtungen eine obligatorische Armenpflege der territorialen öffentlichen Verbände
eingeführt, welch letztere sich zum Teil in die Aufgaben der Pflege teilen, zum Teil sich bei der Durchführung
unterstützen.
Die bezüglichen Organe, welche durch dasselbe eingeführt wurden, sind die Ortsarmenverbände, die Landarmenverbände und die
Bundesstaaten als Armenverbände. Von diesen bestehen die ersten aus einer oder mehreren Gemeinden; die zweiten sind in den
einzelnen Bundesstaaten verschiedenartig angeordnet und fallen mit den (kleinern) Staaten, den Provinzen (im allgemeinen Preußen),
kleinern Distrikten oder endlich dem Gebiet einiger größerer Städte zusammen.
Die Bundesstaaten selbst kommen nur in Ausnahmefällen (bei Überweisungen aus dem Ausland oder bei Ausländern) in Betracht.
Die Fürsorgepflicht scheidet
sich in die vorläufige und in die endgültige. Zur vorläufigen Fürsorge
ist jener Ortsarmenverband verpflichtet, in welchem sich der Hilfsbedürftige bei Eintritt der Hilfsbedürftigkeit gerade
aufhält. Dies bildet eine administrative Pflicht der Verbande gegen den Staat und kommt dabei eine etwanige sonstige Beziehung
des Bedürftigen zum Ortsarmenverband oder des Verbandes zu einem andern gar nicht in Betracht.
Diese Momente werden erst bei der endgültigen Fürsorgepflicht von Belang. Die endgültige Pflicht der Fürsorge richtet sich
nun nach dem Unterstützungswohnsitz. Jeder Ortsarmenverband ist verpflichtet, für jene Hilfsbedürftigen endgültig Sorge
zu tragen, welche in demselben den Unterstützungswohnsitz erworben haben. Dieser letztere wird entweder selbständig durch
gewöhnlichen ununterbrochenen Aufenthalt in der Dauer von 2 Jahren, oder abgeleitet durch Familienzugehörigkeit
erworben; ebenso geht auch der Unterstützungswohnsitz durch zweijährige ununterbrochene eigentliche Abwesenheit oder durch
Erwerbung eines neuen Unterstützungswohnsitzes verloren.
Hat ein Hilfsbedürftiger keinen Unterstützungswohnsitz, oder läßt sich ein solcher nicht nachweisen, so tritt der Landarmenverband
des Aufenthaltsortes in die Pflicht ein. Überdies liegt den Landarmenverbänden auch ob, solche Ortsarmenverbände
zu unterstützen, deren Kräfte für die Armenpflege nicht ausreichen, und ferner steht ihnen die Übernahme kostspieliger
Zweige der Armenpflege, von Siechen-, Blinden-, Irren-, Taubstummenhäusern etc. entweder frei oder zu. Es ist begreiflich,
daß eine solche Scheidung in vorläufige und endgültige Fürsorge und Abgrenzung der Pflichten der Orts-
und Landverbände eine sehr komplizierte Geschäftsführung, insbesondere auch hinsichtlich der einzelnen Ortsverbände untereinander,
herbeiführen muß, wofür sehr ausführliche Vorschriften erforderlich sind; auch sind Durchführungen der Angelegenheiten
im Streitweg sehr häufig.
Dieser Umstand sowie die Frage, ob gerade ein zweijähriger Termin angemessen, ferner, ob nicht das Eintreten
größerer Verbände in erhöhtem Maße zweckmäßig sei, bilden neben der Frage über die Berechtigung des Instituts der Landarmenverbände
die Angelpunkte der Reformbewegung auf diesem Gebiet der Verwaltung. Die Gesetzgebung steht dem Reiche zu, während von den
Ländern Ausführungsgesetze erlassen werden. Die Organisation der Ortsarmenverbände ist sehr verschieden, wenn man
auch durchgreifend die sogen. Armenkommissionen antrifft, welche in einigen Ländern geradezu vorgeschrieben sind. In Bayern
besteht immer noch die Fürsorgepflicht der Heimatsgemeinde, zu welcher die Zugehörigkeit eine viel festere ist als bei
dem Unterstützungswohnsitz.
Dabei aber besteht auch das Verhältnis einer vorläufigen und endgültigen Fürsorgepflicht, und liegt die Sorge für
Heimatlose und Nichtbayern endgültig dem Staat ob. Die Distrikts- und Kreisarmenpflege besteht einerseits in der Unterstützung
schwächerer Gemeinden und anderseits in der Errichtung kostspieliger Anstalten, wie solche soeben aufgezählt wurden. Die
Schwäche dieses bayrischen Systems besteht vornehmlich darin, daß die Heimatsgemeinden oft für Personen aufzukommen haben,
deren Zugehörigkeit sozial eigentlich gar nicht mehr besteht. Man könnte das bayrische System als ein
Mittelding zwischen dem deutschen und dem westösterreichischen Pflegesystem bezeichnen, während endlich die Verhältnisse
in Elsaß-Lothringen mit
mehr
denjenigen in Frankreich übereinstimmen. Auch diese Spaltung des deutschen Armenpflegegebiets ist ein der Abhilfe bedürftiger
Punkt. Dieser feinern Ausbildung eigentlicher Armenpflege gegenüber ist die Armenpolizei verhältnismäßig in den Hintergrund
gedrängt worden und gipfelt zumeist in einigen Paragraphen der Strafgesetzbücher, welche sich mit Bettel, Landstreichertum,
Verbot von Sammlungen u. dgl. befassen.
Die materiell einschneidendste Maßregel vorbeugender Natur ist die Berechtigung der Gemeinden, die Erwerbung des Unterstützungswohnsitzes
durch wirtschaftlich haltlose Personen zu verhindern. Die strafgesetzlichen Bestimmungen über Spiel, Trunk u. dgl. sind von
minderer Bedeutung. Auf eine spezielle Gestaltung des Finanzwesens nimmt die Armenverwaltung so gut wie gar keinen Einfluß,
denn die geringfügigen Bestimmungen über die Verwendungen von gewissen, luxussteuerartigen Charakter
tragenden Abgaben (Hundesteuer etc.) sind für die Struktur des Budgets von wenig Belang.
Österreich. Die westlichen Länder Österreichs (ohne den Osten und Süden) tragen vom Standpunkt der Armenpflege aus übereinstimmenden
Charakter, trotzdem deren gesetzliche Regelung in die Kompetenz der einzelnen Landtage fällt. Es ist eben
die Nachwirkung der gleichmäßigen historischen Ausgestaltung, welche auf die zu Ende des vorigen Jahrhunderts unter Joseph II.
nach Graf Bouquoys Beispiel allgemein errichteten Pfarrarmeninstitute zurückgeht.
Mit Beginn der konstitutionellen Zeit, etwa zu Beginn der 70er Jahre, erschienen in fast allen Ländern Gesetze, welche diese
Pfarrarmeninstitute aufhoben und die Armenpflege den Gemeinden unterstellten, und in der Gegenwart erfährt
diese Gemeindearmenpflege durch zahlreiche Landesgesetze ihre in wesentlicher Übereinstimmung mit den deutschen Erfahrungen
stehende Ausbildung. Im übrigen ist nur noch das Heimatsgesetz vom als reichsgesetzliche Grundlage zu erwähnen.
Die Fürsorgepflicht ist ebenso wie im Deutschen Reiche und in Fortsetzung derselben geschichtlichen Entwickelung
gleichfalls eine für gewisse territoriale Verbände obligatorische. Diese Verbande sind in erster Linie die Gemeinden und nur
in sehr zurücktretendem Maße die Länder oder Bezirke. Die Fürsorge steht ebenso wie auch in Bayern der Heimatsgemeinde zu,
falls nicht Stiftungen u. dgl. in erster Linie in Betracht kommen; nur im Falle außerordentlichen und plötzlichen
Bedürfnisses muß die Gemeinde die dringlichste Hilfe auch den Gemeindefremden angedeihen lassen, wofür sie dann bei der
Heimatsgemeinde Kostenersatz beanspruchen kann.
Wenn man nun bedenkt, daß besonders in größern Gemeinden der Prozentsatz der Zuständigen unter den Anwesenden ein geringer
ist (⅓-½), und daß anderseits die Heimatsgemeinde den sozialen Zusammenhang mit ihren auswärts befindlichen
Angehörigen zumeist ganz verloren hat, so ergibt sich diese Armenpflicht der Heimatsgemeinden als ein wesentlich reformbedürftiger
Punkt. Die Bezirke üben nur in einigen Ländern und zwar meist nur eine fakultative Armenpflege aus, welche wenig erheblich
genannt werden kann.
Wichtiger ist dagegen die Stellung der Länder. In erster Linie sind die Lander (neben wenigen Beispielen von Bezirken) jene Verbande,
von denen, wie dies auch im Deutschen Reiche vielfach der Fall ist, die größern und kostspieligern Anstalten, wie Siechen-,
Blinden-, Taubstummen-, Heil-, Verpflegungs-, Besserungs-, Arbeits-, Rettungsanstalten, erhalten werden, wobei die
Gemeinden für ihre untergebrachten
Zuständigen zu Beiträgen verpflichtet sind. Daneben besteht noch eine, jedoch verschiedenartig
angeordnete Verpflichtung der Länder zur Bestreitung von gewissen uneinbringlichen Krankenverpflegekosten ganz oder zum Teil,
von uneinbringlichen Heilkosten der Ausländer und Heimatlosen, von Armenkosten für zwangsweise an Gemeinden heimatsrechtlich
Zugewiesene etc. Überdies unterstützen die Länder und Bezirke häufig die Gemeinden bei Aufbringung der
Mittel für die Armenpflege, wobei sich der Staat nur im Falle außerordentlicher, durch Elementarereignisse verursachter Massenverarmung
durch größere Spenden beteiligt.
Ein Landarmenverband nach deutschem Muster wurde mit Landesgesetz vom in Niederösterreich errichtet und sorgt vornehmlich
für die von der Heimatsgemeinde lange (10 Jahre) abwesenden, verarmten landesangehörigen Personen. Was
die andern Gebiete Österreichs anbelangt, so stimmen die Verhältnisse in den südlichen Ländern im wesentlichen mit dem
italienischen System der Armenverwaltung überein, und es mußte sich auch die Armengesetzgebung der Länder an die überkommenen
Einrichtungen der Brüderschaften in Istrien und der Commissioni di pubblica beneficenza in Dalmatien anschließen,
um wirkungsvoll sein zu können; insoweit sie dies nicht that, blieb sie meist nur auf dem Papier.
In den östlichen Ländern fehlte es von jeher an indigenen Organisationen, namentlich ganz in der Bukowina, da die griechisch-orthodoxe
Kirche der Verbindung mit der Armenpflege ganz entbehrt, aber auch in Galizien, wo die katholischen Einrichtungen
einer Armenpflege aus verschiedenen Gründen, zumeist wegen der allgemeinen Armut des Landes und seines administrativen Verfalls,
entweder ganz verfielen oder überhaupt nie Eingang gefunden hatten. In diesen Ländern bestehen daher auch gar keine Landesgesetze
für Armenpflege, sondern gelten nur neben den alten, auf Grundlage des frühern Systems erschienenen Verordnungen
die wenigen Bestimmungen der Gemeindeordnungen.
Vom Standpunkt der Armenpolizei kommt sowohl die Reichs- als auch die Landesgesetzgebung in Betracht. Erstere, neben den auch
in deutschem Rechte zu findenden allgemein strafgesetzlichen Bestimmungen, durch das sogen. Vagabundengesetz
vom Die Zwangsarbeitsanstalten, welche durch dieses Gesetz in besonderer Weise erforderlich
geworden sind, fallen in die Sphäre der Wirksamkeit der Länder, obgleich aus Staatsmitteln erhebliche Kostenbeiträge geleistet
werden.
Auch die Errichtung der Naturalverpflegestationen ist Sache der Länder, und zwar besteht eine derartige Institution nach preußischem
Muster bereits in Niederösterreich (1886), Mähren (1888), Steiermark (1888), Oberösterreich (1889), Kärnten.
Sonst existieren selbstverständlich noch polizeiliche Bestimmungen über Bettelei u. dgl.
Bezüglich des Finanzwesens auf dem Gebiet der Armenverwaltung sind nur jene Bestimmungen zu erwähnen, welche schon seit
langer Zeit rücksichtlich der Einnahmen der Pfarrarmeninstitute, resp. jetzt der Lokalarmenfonds gelten. Diese sind in
erster Linie die Erträgnisse der lokalen Armenstiftungen und Zweckvermögen, dann, ähnlich wie in den
deutschen Ländern, einige kleinere Abgaben (Bürgerrechtstaxen, Hundesteuer etc.), ferner leider die Einnahmen aus einer großen
Menge von Geldstrafen etc. Im Vergleich zu dem Gesamterfordernis spielen aber auch hier die Spezialeinnahmen keine Rolle. Überhaupt
müßte man entweder die gesamten Erfordernisse der
mehr
Armenverwaltung auf Spezialeinnahmen basieren, oder die Armenpflege als ungeschiedenen Teil der Verwaltung betrachten und ihr
Erfordernis in den öffentlichen Budgets ungeschieden aufgehen lassen.
Die kommunale Armenpflege.
Aus der vorstehenden Übersicht ergibt sich, daß zwar auch die größern territorialen Verbände, als Provinzen, Landarmenverbände
etc., mit der eigentlichen Verwaltung des Armenwesens beschäftigt sind, doch kommen sie nur bezüglich
ganz spezieller und auch im allgemeinen weniger relevanter Zweige in Betracht. Die eigentliche Armenpflege lastet, und zwar
infolge teils der politisch-rechtlichen Entwickelung, teils der Ausgestaltung von Wirtschaft und Verkehr, doch immer auf den
Gemeinden und zwar ganz vornehmlich auf den städtischen, während in den Landgemeinden, wo überhaupt
die ganze Angelegenheit weniger Beachtung erheischt, überdies noch von größern Verbänden erhaltene Institutionen, als Naturalverpflegestationen,
Arbeiterkolonien etc., in Betracht kommen.
Dazu kommt, daß gerade in den städtischen Gemeinden wegen der Eigenart der sozialen Verhältnisse, z. B. der ökonomischen
Bedingungen, das Armutsproblem eine ganz exzeptionelle Bedeutung erhält. Aus diesen Gründen hat auch
die sogen. kommunale Armenpflege, unter welcher man gewöhnlich die Armenpflege der größern städtischen Gemeinden versteht,
eine besondere Ausbildung erfahren, und geradezu zu einer befriedigenden Lösung des Problems rücksichtlich einer gewissen
Größenkategorie von Städten geführt.
Aus den Überresten der Gemeindeverwaltung zur Zeit des absolutistischen Staates, dann infolge der Übernahme
der Armenpflege aus den Händen kirchlicher und halbkirchlicher Organe ergab sich für die öffentliche Armenpflege der Städte
Deutschlands und Österreichs bei Erlangung der modernen Selbstverwaltungsbefugnis in den ersten und spätern Dezennien des
laufenden Jahrhunderts eine im allgemeinen und wesentlichen bis heute beibehaltene Gestaltung, welche man als die magistrale
bezeichnen kann.
Damit ist gesagt, daß die Armenpflege den Typus der Gemeindeverwaltung überhaupt trug, den büreaukratischen, schriftlichen
Charakter, daß sie von den bestellten Verwaltungspersonen der Gemeinde ausging und im großen und ganzen nur jenem alten reichsrechtlichen
Grundsatz gerecht wurde, welcher die Versorgung der Armen durch die Heimatsgemeinden verlangte, was durch eine
Beteilung derselben mit Geldbeträgen erfolgte, ohne daß auf das Wesen der Sache weiter eingegangen wurde.
Für gewöhnlich führte eine Armenkommission mit dem Armenbüreau die Geschäfte, wobei bezüglich der erstern die ehrenamtlichen
Dienste herangezogen wurden, welchen Charakter auch die Stellung der sogen. Armenpfleger oder Armenväter (Armenräte) an sich
trug. Doch blieb unter diesem System die Thätigkeit dieser ehrenamtlichen Hilfspersonen nicht nur rücksichtlich
der Zahl der letztern, sondern auch rücksichtlich deren Befugnissen unzulänglich. Es ist begreiflich, daß die Gemeinden
besonders mit Hinsicht auf ihr enormes Anwachsen im 19. Jahrh. mit diesem administrativen
Zustand ein Auskommen nicht finden konnten, daß die Gemeindearmenpflege geradezu unzulänglich wurde,
und es dort, wo diese Verhältnisse noch bestehen, auch heute thatsächlich ist.
Das Problem der Reform der kommunalen Armenpflege bestand also darin, die magistrale Armenpflege den mittlerweile enorm angewachsenen
Bedürfnissen der Pflegethätigkeit gemäß umzuwandeln, resp. fortzubilden. In diesem Zustand
der Reform befinden sich nun die Städte Deutschlands seit einigen Dezennien,
wobei aber die Bewegung eigentlich
erst in dem letzten Jahrzehnt lebhaft geworden ist; in den österreichischen Städten kann man erst von einem Beginn der Bewegung
seit einigen Jahren sprechen. In dem letztgenannten Staate ist noch fast alles, in Deutschland auch noch sehr viel zu thun.
Das Reformproblem zerfällt in zwei Teile. Zunächst handelt es sich in organischer Hinsicht darum, die
mit der Pflege betrauten Organe, Körperschaften und Personen in derartiger Weise zu gestalten, daß sie nicht nur zureichen,
sondern auch genügend wirksam ihre Thätigkeit ausüben können, wobei besonders zu beachten ist, daß die mannigfachen
Subjekte der Armenpflege, als Gemeinde, Kirche, Vereine etc., in die entsprechende gegenseitige Beziehung
gebracht werden.
Zweitens ist es erforderlich, den Gang der Pflegethätigkeit in methodischer Hinsicht in wirksamster Weise durchzubilden, so
daß nicht nur der größte Effekt mit den geringsten Mitteln erreicht, sondern auch die Stellung des Armenproblems zur gesellschaftlichen
Verwaltung überhaupt richtig aufgefaßt werde. Es ist nun im allgemeinen zu sagen, daß die richtige
oder beste Lösung nach beiden Richtungen in verschiedener Weise erfolgen könne, und daß überdies spezielle Kommunalverhältnisse
auch eine besondere Art der Lösung bedingen können, daß also von einer an sich besten oder allgemein mustergültigen Anordnung
nicht gesprochen werden kann. Was die methodische Seite anbelangt, so ist deren Lösung mustergültig
von dem Elberfelder System der Armenpflege erfolgt, während bezüglich der organischen Seite noch andre, auf österreichischem
Boden emporgewachsene Systeme zu nennen sind.
Das Elberfelder System der städtischen Armenpflege verdankt seine Begründung dem Oberbürgermeister Daniel von der Heydt und
geht in das Jahr 1853 zurück. Die Grundsätze dieses Systems sind in Kürze die folgenden: Jeder Armenpflegefall
wird individualisiert, d. h. nach allen seinen Eigentümlichkeiten ermittelt und für sich
behandelt;
dabei bildet die Familie stets den Angriffspunkt.
Die Armenväter sind unbedingt zur persönlichen Überwachung
sowie zur fortgesetzten Kontrolle und persönlichen Übermittelung der Spenden verpflichtet. Diese Spenden
werden durch die Armenpfleger, resp. deren Kollegium unmittelbar bewilligt, so daß das vorgesetzte Verwaltungskollegium nur
kontrollierende Funktionen ausübt. Die Zahl der je einem Armenpfleger zugewiesenen Pflegeposten ist so klein zu bemessen,
daß die Beschäftigung mit jedem Einzelfall gründlich erfolgen kann; in der Regel entfallen auf je einen
Armenpfleger höchstens vier Pflegeposten.
Die Bewilligungen sind keine dauernden, sondern erfolgen stets nur für kurze Termine (14 Tage); dabei sind die Portionen so
zu bemessen, daß nur der notwendigste Unterhalt, dieser aber auch effektiv ganz bestritten werden kann. Der Bewilligung
von Unterstützungen geht in allen Fällen zuerst die Zuweisung von Arbeit voraus, wenn eine solche nach
der Individualität des Hilfsbedürftigen möglich ist. Die Organe bestehen in einer kontrollierenden und normierenden Armenkommission,
dann aus den einzelnen sehr zahlreichen Pflegern und endlich aus den Bezirksversammlungen derselben. Die Anforderungen, welche
dieses Armenpflegesystem an das Ehrenamt stellt, sind höchst bedeutende. Das Geldbedürfnis für Anschaffung
des zum Unterhalt unabweislich Notwendigen, d. h. Nahrung, Kleidung, Obdach und Hausrat, wird in den Städten Elberfelder Systems
im allgemeinen auf folgende Summen pro Woche veranschlagt:
mehr
3 Mark - Pf. für das Familienhaupt,
2 Mark - Pf. für die beim Mann lebende Ehefrau,
2 Mark - Pf. für ein Kind von 15 Jahren und darüber,
-
Mark 80. Pf. für ein Kind von weniger als einem Jahr,
demnach z. B. auf 12 Mk. für eine aus den genannten Personen bestehende Familie und auf 3 Mk. für eine einzelstehende Person.
Nach der ganzen Anordnung des Systems ist ein bedeutender Apparat von Personen, Instruktionen und Formularen,
dann Arbeitsvermittelung, Armenküchen, Vorsorge für ärztliche Materialien, Naturalien überhaupt: als Bekleidungs- und
Bettwerksgegenstände, Hausrat etc., erforderlich. Dafür ist allerdings zu sagen, daß der
Erfolg bei Befolgung dieses Systems nicht ausbleiben kann.
Deshalb ist es als sehr erfreulich zu bezeichnen, daß sich der Kreis der Städte, welche dieses System
acceptieren, immer mehr erweitert; bis jetzt sind bereits zu nennen, der Größe nach gereiht: Dresden (eingeführt 1880),
Leipzig (1881), Frankfurt a. M. (1883), Bremen (1875), Düsseldorf (1883), Barmen (1862), Krefeld (1862), Dortmund (1874), Essen
(1864), Kiel (1871), Potsdam (1882), Duisburg (1862), Darmstadt (1876), Rostock (1881), Zwickau (1883), Elbing
(1875), Halberstadt (1863), Hildesheim (1882), Stralsund (1882), Gotha (1884), Guben (1882), Landsberg (1878), Mülheim (1880),
Meerane (1881), Greifswald (1885), Oldenburg (1877), Lüneburg (1882), Quedlinburg (1884), Siegen (1877), Kolberg (1885), Luckenwalde
(1886), Eilenburg (1883), Neuwied (1870), Ruhrort (1867). Die größte dieser Städte umfaßt ¼ Mill. und die kleinste ca.
10,000 Einw., und nahezu überall hat sich das System vortrefflich bewährt.
Seit 1889 hat es nun auch in Österreich, und zwar speziell in den deutschen Städten Böhmens, Eingang gefunden, zuerst in
Trautenau, dann noch in Reichenberg, Pilsen, Warnsdorf etc. Speziell in Trautenau fanden die Prinzipien sinngemäße Anwendung
auf die Weihnachtsbescherungen, welche hier auch nach dem Grundsatz der Individualisierung der Fälle erfolgen;
eine eigenartige Einrichtung hat dann hier auch das Arbeitshaus gefunden, indem der Verdienst von dessen Insassen den letztern
nicht in Geld ausgezahlt, sondern von der Armenverwaltung zur Verbesserung der Existenz in Naturalien verwendet wird.
Wenn nun auch, wie bemerkt, in methodischer Beziehung das Elberfelder System eine endgültige Lösung der
Frage nach der Gestaltung der Armenpflege enthält, so läßt sich doch in organischer Beziehung eine andre Gestaltung als
ebenso berechtigt denken. Die Schwierigkeit, welche hier zu überwinden ist, ist die Spaltung in die öffentliche (städtische)
und Vereinsarmenpflege. Schon im Elberfelder System ist dieser Punkt in trefflicher Weise zum Ausbau der Struktur
verwendet worden, indem sich die privaten Kräfte in einem Hauptverein, dem Elberfelder Frauenverein, konzentrieren, der in
engster Fühlung und Unterordnung unter die städtische Armenpflege seine Thätigkeit ausübt.
Gerade rücksichtlich dieser Spaltung von öffentlicher und privater Armenpflege liegen in den österreichischen
Städten zwei Beispiele vor, welche eine durchgreifende Lösung dieses immerhin sehr hemmenden Umstandes versuchen. Das erste
besteht in dem sogen. Gablonzer System. In der Stadt Gablonz in Nordböhmen wird der Versuch gemacht, die gesamte Armenpflege
durch den Verein gegen Verarmung und Bettelei durchführen zu
lassen, dem die Stadtverwaltung verschiedene
Attribute ihrer öffentlichen Funktion zur Verfügung stellt, indem sie sich selbst der eigentlichen Armenpflegethätigkeit
enthält. Der Bedarf dieses Vereins, damit der gesamten Armenpflege, wird einfach als Steuer umgelegt. In den südlichen Städten,
welche mit italienischen Einrichtungen Verwandtschaft zeigen, entfällt häufig diese Spaltung in die öffentliche und private
Armenpflege ganz, indem dieselbe ausschließlich von der Congregazione di carità oder von der Commissione
di beneficenza ausgeübt wird.
Was nun die Frage anbelangt, nach welcher Richtung die organische Reform der Armenpflege der noch im Zustand sogen. magistraler
Verwaltung dieses Zweiges befindlichen Städte erfolgen soll, muß unterschieden werden, welche Ausdehnung die Städte besitzen.
Die Elberfelder Armenpflege paßt für den Hauptstamm der Städte von der Untergrenze von 10-15,000 Einw.
bis zu den Städten mit 100,000 Einw. Für die kleinern Städte dürfte die doch immer komplizierte Gestalt des Elberfelder
Systems bei der Geringfügigkeit der Verhältnisse weniger erforderlich sein, vornehmlich wenn die industrielle Entwickelung
wenig intensiv ist.
Dagegen dürfte in organischer Beziehung die Gablonzer Einrichtung eher anzuempfehlen sein. In den Großstädten aber, besonders
in den Millionenstädten, ist vorläufig die Einführung des Elberfelder Systems als kaum möglich anzusehen; hier sind eben
die Verhältnisse so ungemein kompliziert, daß die Lösung des Problems der Armenpflegeorganisierung immer lückenhaft bleiben
wird, ebenso wie dies bei andern Zweigen der Kommunalverwaltung der Fall ist. Jede der wahren Großstädte
bildet eine Individualität für sich, und für gewöhnlich ist auch eine ganz individuelle Gestalt der Armenpflege mit der
Großstadt selbst emporgewachsen. Dagegen ist der Hauptkern des Elberfelder Systems in methodischer Beziehung, die Individualisation
nebst der Konzentrierung, absolut nirgends zu entbehren.
Armenstatistik.
Auf dem Gebiet der Armenpflege kämpft die Statistik mit so bedeutenden Schwierigkeiten, daß deren Überwindung bisher noch
nirgends gelungen ist. Verhältnismäßig noch am besten ist die Erhebung der Verarmungsverhältnisse im Deutschen Reiche und
zwar für das Jahr 1885 erfolgt. Den Weg hatte der oben genannte deutsche Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit
gewiesen, dessen Vorschläge in statistischer Hinsicht sehr weitgehende Berücksichtigung fanden.
Von demselben Verein stammt bekanntlich auch die Anregung zu der statistischen Erhebung Böhmerts über die Armenverhältnisse
in den deutschen Städten. Auf diesen Quellen fußen die folgenden tabellarischen Übersichten, welche die Hauptresultate zur
Darstellung bringen sollen. Aus der Tabelle I ergibt sich, daß die Armenziffer für die Gebiete ganzer
Staaten (resp. Provinzen) des Deutschen Reiches wohl in den Grenzen von ca. 1,8 bis 9,7 Proz. schwankt, sich
jedoch weitaus am häufigsten in den Grenzen von 3-4 Proz. bewegt.
Hohe Zahlen (über 6 Proz.) weisen die Städte Berlin, Lübeck, Bremen und Hamburg, dann aber auch noch Mecklenburg-Strelitz
auf. Erheblich unter dem Durchschnitt stehen die Zahlen für einige kleinere Länder. Die Gesamtziffer der Armen im Deutschen
Reiche beträgt 887,000 Parteien oder über 1½ Mill. Einzelpersonen, und der Gesamtaufwand pro Jahr 90 Mill. Mk., somit
im Durchschnitt 50-60 Mk. für je einen Armen und je ein Jahr. Wenn auch der auf den Kopf enthaltende Jahresbetrag
recht bescheiden ist, so müssen doch die Gesamtziffern als höchst
mehr
bedeutende bezeichnet werden und auf die Wichtigkeit dieses Verwaltungsgebiets klar hinweisen.
Vergleichen wir mit den Ziffern der Tabelle I jene, welche die Böhmertsche Armenerhebung über die deutschen Städte für 1883 ergeben
hat, so fällt sofort der Umstand auf, daß die Armenziffern in den Städten im Verhältnis zur Bevölkerung erheblich höher
sind; die Hauptmenge bewegt sich nicht mehr in den Grenzen von 3-4 Proz., sondern etwa in jenen von 6-8 Proz.; im
allgemeinen kann somit gesagt werden, daß die Zahl der Armen in den Städten etwa doppelt so groß sei als im Gesamtorganismus
eines Landes, oder da die absoluten Ziffern im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung doch weniger in Betracht
kommen, mindestens doppelt so groß sei als auf dem flachen Lande. Die Städte sind in der Tabelle II der Größe nach gereiht;
es geht dabei nicht an, einen strengen Zusammenhang der Größe der Stadt mit der Armenziffer anzunehmen, so daß etwa beide
parallel wachsen und sinken, dennoch ist unverkennbar, daß die Armenziffer in den größern Städten
im allgemeinen höher steht als in den kleinern.
I. Hauptergebnisse der Armenstatistik im Deutschen Reich für das Jahr 1885.
Staaten und Provinzen
Unterstützte pro Jahr
Jahresaufwand der Armenverbände
Parteien in Tausenden
Personen in Tausenden
auf 100 Einw.
in Mill. Mark
für je eine unterstützte Person
in Mark
Prov. Ostpreußen
45
78
4.01
2.9
35.9
- Westpreußen
31
53
3.87
3.0
44.7
Stadt Berlin
55
87
6.63
7.3
91.5
Prov. Brandenburg
37
63
2.65
4.1
59.4
Pommern
28
50
3.34
2.7
51.6
Posen
27
51
2.97
1.9
35.2
Schlesien
75
128
3.12
4.7
34.1
Sachsen
33
58
2.40
2.4
41.0
Schles.-Holst.
25
43
3.73
3.2
73.2
Hannover
31
54
2.46
3.8
67.5
Westfalen
32
65
2.92
3.6
53.9
Hessen-Nassau
26
44
2.75
3.0
68.4
Rheinland
83
177
4.07
10.8
61.4
Königreich Preußen:
528
953
3.37
53.4
54.8
Hohenzollern
1.1
2
3.01
0.1
38.7
Königreich Sachsen
53
88
2.78
5.4
60.2
Württemberg
38
63
3.17
3.5
53.2
Baden
40
68
4.27
3.5
49.0
Hessen
16
30
3.16
1.4
46.9
Mecklenburg-Schwerin
15
23
4.04
1.3
55.3
Sachsen-Weimar
4
7
2.17
0.3
51.3
Mecklenburg-Strelitz
4
8
8.12
0.2
24.6
Oldenburg
8
12
3.73
0.9
62.0
Braunschweig
8
14
3.90
0.5
38.2
Sachsen-Meiningen
3
5
2.16
0.2
38.7
Sachsen-Altenburg
2
3
1.81
0.2
43.8
Sachsen-Koburg-Gotha
4
4
2.29
0.2
37.7
Anhalt
0.8
8
3.12
0.5
50.3
Schwarzbg.-Sondersh.
0.8
1.4
1.88
0.1
41.9
Schwarzbg.-Rudolstadt
0.8
1.6
1.87
0.1
34.7
Waldeck
1
1.6
2.90
0.0
17.9
Reuß ältere Linie
0.7
1.3
2.40
0.1
30.7
Reuß jüngere Linie
1.5
2.5
2.32
0.1
45.9
Schaumburg - Lippe
0.3
0.6
1.77
0.0
42.1
Lippe
2
4
2.94
0.1
31.3
Lübeck
2
4
6.17
0.2
34.2
Bremen
5
11
6.84
0.6
50.2
Hamburg
23
50
9.66
3.0
60.4
Zusammen:
762
1367
3.43
75.9
54.0
Bayern
86
152
2.80
10.1
64.1
Elsaß-Lothringen
39
73
4.70
4.3
53.3
Deutsches Reich:
887
1592
3.40
90.3
55.0
II. Die Armenziffern für die deutschen Städte.
Ortsarmenverbände (* Nur offene Pflege.)
Einw. (1880) in Tausenden
Unterstützte Personen überhaupt
Unterstützte Personen auf 100 E.
Berlin
1122
68754
6,12*
Dresden
221
12311
5.58
Leipzig
149
8846
5.93
Königsberg i. Pr
141
11783
8.36
Frankfurt M
137
9707
7.09
Stuttgart
117
6021
5.13
Bremen
112
8490
7.55
Straßburg i. E
104
10645
10,19*
Magdeburg
98
5042
5.17
Barmen
96
6990
7.29
Düsseldorf
95
4224
4.42
Elberfeld
94
7221
7.72
Krefeld
74
3797
3.79
Halle armenwesen S.
71
4782
6.69
Dortmund
67
3892
5.84
Posen
66
7031
10.70
Kassel
58
3240
5.56
Essen
57
4115
7.23
Erfurt
53
3359
6.31
Lübeck
51
3479
6.81
Potsdam
48
2126
4,39*
Kiel.
44
2606
5.98
Duisburg
41
2347
5.69
Darmstadt
41
891
2.18
Rostock
37
2244
6.07
Elbing
36
2361
6.59
Zwickau
35
1230
3.51
Halberstadt
31
819
2,62*
Stralsund
29
1457
4.94
Brandenburg armenwesen H.
29
1552
5.34
Gotha
27
1273
4.80
Hagen i. W.
26
1800
6.84
Hildesheim
26
1759
6.79
Guben
26
1411
5.46
Trier
24
751
3.10
Landsberg armenwesen W
24
900
3.81
Dessau
23
1556
6.69
Hanau
23
1565
6.78
Meerane
22
567
2.54
Schweidnitz
22
364
1.64
Mülheim armenwesen R.
22
650
2.93
Tilsit
21
1532
7.16
Mülheim armenwesen Rh
20
1256
6.15
Weimar
20
763
3.83
Greifswald
20
1518
7.62
Weißenfels
20
513
2.61
Lüneburg
19
1223
6.43
Glogau
19
1270
6.82
Bernburg
19
958
5.15
Quedlinburg
18
1495
8.11
Oldenburg
18
414
2.25
Naumburg armenwesen S
18
731
4.09
Solingen
17
611
3.61
Reichenbach i. V
16
551
3.34
Köthen
16
1079
6.68
Ludwigsburg i. W.
16
388
2.41
Koburg
16
464
2.94
Wismar
15
1335
8.60
Gleiwitz
15
901
5.98
Siegen
15
585
3.88
Luckenwalde
15
459
3.12
Stendal
14
556
3.86
Bremerhaven
14
578
4.06
Hörde i. W.
12
557
4.46
Anklam
12
486
3.93
Schönbach
12
574
4.65
Baden
12
864
7.25
Neumünster
12
617
5.31
Sagan
11
216
1.90
Meiningen
11
492
4.38
Burtscheid
11
438
3.99
Eilenburg
11
517
4.85
Jena
10
341
3.90
Neuwied
10
619
6.41
Ruhrort
9
427
4.68
mehr
Die wichtigste Frage, welche die Armenstatistik außer der fundamentalen und so schwierigen nach der Zahl der Armen zu beantworten
hat, ist die ebenso schwierig zu stellende wie zu beantwortende nach den Ursachen, welche zur Verarmung geführt haben (Tabelle
III). Das Schema, welches die deutsche Reichsstatistik diesbezüglich angenommen hat, ist zwar ziemlich
kurz, liefert aber doch höchst charakteristische Ergebnisse. Sie lehrt, daß, wenn man die Ziffern für das ganze Reich beachtet,
die Hauptursachen der Verarmung Verwaisung, Verwitwung und Krankheiten nebst Altersschwäche sind; auf alle andern Ursachen
entfallen nicht einmal ganz ein Viertel aller Fälle.
Wenn es gelingt, mittels der Unfall-, Kranken- und Altersversicherung diesem Hauptstamm der Verarmungsursachen,
diesen drei Vierteln aller Fälle beizukommen, dann wird die Armut in dem heutigen Sinne bedeutend zurückgedämmt werden. Ferner
wird die Form der Armenpflege eine wesentlich andre werden, indem an Stelle der heutigen Pflegeorgane die Einrichtung des Hilfskassenwesens
tritt. Ob dabei die Armut im eigentlichen Sinn, d. h. das Angewiesensein auf das denkbar niedrigste Existenzminimum
beim Mangel an selbst unumgänglich notwendigen Gütern, geringer wird, das allerdings hängt von den Leistungen des Hilfskassenwesens
ab, und es müßten, um diesen Effekt zu erreichen, die auszuzahlenden Quoten höher sein, als sie es jetzt sind. Auf jeden
Fall aber wird eine größere Ordnung in das Gebiet der Armenverwaltung hineingetragen und überdies auch
in gewissen Grenzen eine Eindämmung der Verarmung herbeigeführt werden.
III. Die Verarmungsursachen im Deutschen Reich und in den Städten (1885, resp. 1883).
Verarmungsursachen
Deutsches Reich (ohne Bayern u. Els.-Lothr.) 77 Städte (nach Böhmert)
Zahl der Unterstützten überhaupt
auf jede Ursache entfallen Prozente
Auf 1000 Einw. entfallen Ursachen
Zahl der Unterstützten überhaupt
auf jede Ursache entfallen Prozente und zwar bei den Selbstunterstützten
Eigne Verletzung
29330
2.1
0.7
1948
1.1
Verletzung des Ernährers durch Unfall
2623
0.2
0.1
109
0.0
Tod des Ernährers durch Unfall
11801
0.9
0.3
↗
0.0
Tod des Ernährers nicht durch Unfall
239644
17.5
6.0
5337
5.6
Krankheit der Unterstützten nicht durch Unfall
388363
28.4
9.7
75714
45.7
Körperl. od. geistige Gebrechen der Unterstützten nicht durch Unfall
167947
12.3
4.2
7338
5.9
Altersschwäche
204078
14.9
5.1
16956
15.7
Große Kinderzahl
96832
7.1
2.4
25173
5.0
Arbeitslosigkeit
74077
5.4
1.9
30874
12.5
Trunk
28638
2.1
0.7
2611
1.3
Arbeitsscheu
16336
1.2
0.4
1978
1.4
Andre bestimmt angegebene Ursachen
106309
7.8
2.7
11339
5.8
Nicht angegebene Ursachen
1369
0.1
0.3
109
↗
Gehen
wir auch rücksichtlich der Verarmungsursachen auf den Unterschied von Stadt und Land ein,
so sehen wir, daß dieser ebenso charakteristisch wie erheblich ist. In der Stadt ist die Erkrankungsziffer weit größer
und die Krankheit weit mehr Verarmungsursache, ebenso wie die Altersschwäche früher eintritt und verderblicher wirkt; alles
Folgen der größern Abnutzung und hygienisch ungünstigern Position der Arbeiter in den Städten, endlich
aber auch ihrer isoliertern Stellung. Auch die Arbeitslosigkeit tritt weit häufiger auf und ist nicht selten Ursache momentan
eintretender Verarmung, und zwar dies um so mehr, je mehr der Arbeitslohn nur ein Fortfristen des Lebens von Tag zu Tag ermöglicht,
ohne das Zurücklegen eines Notpfennigs zu gestatten.
IV. Die offene u. geschlossene Pflege im Deutschen Reich 1885 (ohne Bayern und Elsaß-Lothringen).
Gattung der Armenverbände
Offene Pflege
Geschlossene Pflege
Personen in Tausenden
Anteil in Prozenten
Personen in Tausenden
Anteil in Prozenten
Städtische Gemeinden
626
78.9
167
21.1
Ländliche Gemeinden
332
80.5
81
19.5
Gutsbezirke
50
92.1
4
7.9
Gemischte Bezirke
55
79.6
14
20.4
Ortsarmenverbände zus.:
1063
80.0
266
20.0
Landarmenverbände zus.
16
41.3
22
58.7
Totalsumme:
1079
78.9
288
21.1
Was endlich den Unterschied von offener und geschlossener Pflege anbelangt, so läßt sich sagen, daß im Deutschen Reich etwa
ein Fünftel aller verarmten Personen in Anstalten untergebracht werden, während vier Fünftel ihre Versorgung
in offener Pflege finden. In dieser letzten Ziffer sind aber auch alle jene zahlreichen Fälle enthalten, in welchen die Beteilung
nur einen vorübergehenden Charakter hat. Das Detail ist aus der nebenstehenden Tabelle IV zu entnehmen.
Litteratur. Sammelwerke: Emminghaus, Das Armenwesen und die Armengesetzgebung in den europäischen Staaten (Berl.
1870);
die bezüglichen Abschnitte in Schönbergs »Handbuch der politischen Ökonomie« und im »Handwörterbuch der Staatswissenschaften«
(Jena).
Einzelne Länder: »Schriften des deutschen Vereins für Armenpflege u. Wohlthätigkeit«, 1886 ff.;
E. Münsterberg, Die deutsche
Armengesetzgebung und das Material zu ihrer Reform (in Schmollers »Forschungen«, Leipz. 1887);
Rocholl, System des deutschen Armenpflegerechts (Berl. 1873);
Böhmert, Das in 77 deutschen Städten (Dresd.
1886);
Mischler, Die Armenpflege in den österreichischen Städten und ihre Reform (Wien 1890);
Derselbe, Das Gablonzer System
der Armenpflege (in »Deutsche Worte« 1890);
Reitzenstein, Die Armengesetzgebung Frankreichs (Leipz. 1881);
Kries, Die englische
Armenpflege (Berl. 1863);
Aschrott, Das englische (in Schmollers »Forschungen«, Leipz. 1885);
Statistik: Statistik des Deutschen Reichs, Erhebung
für 1885, und zahlreiche Erhebungen in den Einzelstaaten. Italien: »Atti della Commissione Reale per l'inchiesta sulle opere
pie I-VIII« (Rom 1886-89);
»Statistique de la France, etc.« Geschichte:
mehr
Ratzinger, Geschichte der kirchlichen Armenpflege (2. Aufl., Freiburg
1884); Uhlhorn, Die christliche Liebesthätigkeit (Stuttg. 1882-90,3
Bde.).