Poësīe
(griech., von poiēĭn, »machen, schaffen, dichten«),
als schöne Kunst die schöne sprachliche Darstellung einer ästhetischen Gedankenwelt. Dieselbe hat als schaffende Kunst mit der Heuristik (der wissenschaftlichen Erfindungskunst) das erfindende Element, mit der Wissenschaft die Darstellung einer (durch Worte darstellbaren) Gedankenwelt, mit den redenden Künsten (Prosa, Beredsamkeit) das Darstellungsmittel der Sprache [* 3] gemein. Sie unterscheidet sich von der erstgenannten dadurch, daß ihre erfindende Thätigkeit auf ästhetische, die der Heuristik dagegen auf wahre Gedanken gerichtet ist;
von der Wissenschaft dadurch, daß sie Darstellung einer ästhetischen (d. h. nicht für wahr angegebenen, obgleich innerlich wahrscheinlichen, d. h. poetisch wahren), diese dagegen Darstellung einer für wahr gehaltenen (nicht bloß dafür ausgegebenen, in welchem Fall sie Lüge wäre) Gedankenwelt ist;
von der prosaischen Redekunst (Prosa) endlich dadurch, daß nicht nur ihre Gedankenwelt, sondern auch ihre Sprache ästhetisch (d. h. durch die Rücksicht auf Rhythmus und Wohlklang »gebunden«, poetische Sprache) ist;
von der schönen Redekunst (Beredsamkeit),
deren
Sprache gleich der ihrigen »poetisch« ist,
dadurch, daß diese (wie die
Wissenschaft) eine (vom Redner) für wahr gehaltene oder (vom
Sophisten) wenigstens für wahr
ausgegebene, die Poësie
dagegen eingestandenermaßen eine »poetische«
Gedankenwelt darstellt.
Dieselbe setzt, wie jede
Kunst, eine spezifische
Anlage (poetisches
Talent,
Genie), ihre Ausübung, wie
die jeder
Kunst, eine spezifische
Stimmung (poetische
Stimmung) voraus, deren
Charakter der Eigentümlichkeit
der Poësie
als
Kunst entspricht. Dieselbe setzt als erfindende
Kunst Erfindungskraft oder
Phantasie (s. d.), als
Darstellung einer
durch
Worte darstellbaren Gedankenwelt (im
Gegensatz zur musikalischen und bildnerischen) poetische
Phantasie, als rhythmisch-musikalische
sprachliche
Darstellung nicht nur ein rhythmisch-musikalisches Sprachmaterial, sondern auch vollkommene
Herrschaft nicht nur über die logischen, etymologischen und grammatischen, sondern auch über die rhythmischen und musikalischen
Elemente der
Sprache voraus. In ersterer Hinsicht besteht die poetische
Anlage in einem erhöhten
Grade der Beweglichkeit der
Vorstellungen, welcher stets neue
Verbindungen der
Elemente des Vorstellungskreises und dadurch neue
Vorstellungen schafft.
Als poetische Phantasie (im Gegensatz zur musikalischen oder bildnerischen) besteht die poetische Anlage nicht nur in einem Übergewicht der Gedanken (Begriffe und Anschauungen) über Tonvorstellungen (deren Übergewicht die musikalische) oder Farben- und Formenvorstellungen (deren Übergewicht die bildnerische Anlage ausmacht), sondern noch überdies der sinnlichen (konkreten, anschaulichen) über die nichtsinnlichen (abstrakten, unanschaulichen) Gedanken (der Bilder über die Begriffe) im Vorstellungsvorrat. In sprachlicher Hinsicht begreift die poetische Anlage neben dem Sinn für korrekten und genauen Gedankenausdruck durch das Wort auch noch den Sinn für die rhythmische Schönheit des Zeit- und Silbenmaßes sowie für die musikalische Schönheit des Wohlklanges und der melodischen Lautfolge der Sprachzeichen. In diesem Punkt kommen Sprachen, welche wie das Sanskrit, die griechische, die lateinische samt ihren romanischen Tochtersprachen ein von Natur wohlklingendes Lautmaterial besitzen, der poetischen Anlage zu Hilfe.
Die poetische Stimmung zeigt sich im Hinblick auf die Erfindung als »Lust zu fabulieren« (Goethe),
in Hinsicht auf die poetische
Phantasie als Ergriffensein von einer anschaulichen und das
Gemüt zur
Darstellung in
Worten drängenden Bilderwelt, in Hinsicht
auf die
Sprache als unbestimmt »rhythmisch-musikalische
Stimmung« (nach
Schiller), die der Ausfüllung der Form durch
Worte vorhergeht.
Die
Einteilung der Poësie
kann entweder von dem Gegenstand, der darstellenden Gedankenwelt, oder von dem Darstellungsmittel,
der
Sprache, ausgehen. In ersterer Hinsicht wird sie in
¶
mehr
subjektive und objektive, in letzterer in Dichtkunst in gebundener (metrischer) und solche in ungebundener Rede unterschieden.
Subjektiv heißt die Poësie
, wenn die darzustellende Gedankenwelt auf das Subjekt, den Dichter, selbst bezogen, diese als dessen
eigne dargestellt wird. Dieselbe führt, da das Subjekt als in lyrischer, d. h. sein Inneres in Worte ausströmender,
Stimmung befindlich gedacht wird, den Namen der lyrischen Poësie
(s. Lyrik). Objektiv heißt die Poësie
, wenn die darzustellende Gedankenwelt
auf ein vom Dichter verschiedenes Objekt bezogen, eine Begebenheit oder Handlung eines solchen dargestellt wird.
Wird dabei das Objekt als vergangen (Geschehendes als geschehen, eine »Handlung als Begebenheit«) gedacht, so
entsteht die epische Poësie
(s. Epos); wird dasselbe als gegenwärtig (Geschehenes als geschehend, eine »Begebenheit
als Handlung«) gedacht, so entsteht die dramatische Poësie
(s. Drama). Hinsichtlich der Beschaffenheit der Darstellungsmittel pflegt
man die metrische Dichtkunst vorzugsweise (mit Unrecht, wie die »Streckverse« Jean Pauls, der Roman und zahlreiche in Prosa verfaßte
Dramen, z. B. Lessings »Emilia Galotti«, Schillers »Räuber«, »Fiesko«, »Kabale und Liebe« u. a., beweisen) Poësie
zu nennen.
Die Einteilung in Kunst- und Natur- sowie jene in gelehrte und Volkspoesie gehen nicht sowohl die Poësie
als vielmehr den Poeten
an, je nachdem derselbe entweder mit oder ohne Bewußtsein, entweder als individuelle Persönlichkeit
oder als namenloses Glied
[* 5] einer gleichartigen Genossenschaft (einer Sängerzunft, eines Standes, eines Volkes) schafft. Die Gegensätze
der »naiven und sentimentalischen« (Schiller),
»klassischen und romantischen Poësie«
(Romantiker),
»antiken und modernen Poësie«
etc.
fallen mit jenen der bewußtlosen (Natur-) und bewußten (Kunst-) Poësie
zusammen, wenn mit diesen der (mystische) Glaube an die
Unfehlbarkeit des Bewußtlosen und der (pessimistische) Unglaube an die Verwirklichung des Ideals durch das Bewußte verbunden
wird. Geschichtlich ist der Poësie
als Darstellung einer weder für wahr gehaltenen, noch für wahr angegebenen Gedankenwelt sowohl
die Wissenschaft als die Mythendichtung, dagegen der Prosa als der schmucklosen Darstellung einer für wahr gehaltenen
Gedankenwelt sowohl die Lehrdichtung (in gebundener und ungebundener Rede) als die Poësie
vorangegangen.
Anderseits hat sich von den drei Hauptgattungen der Poësie
nach dem Grundsatz, daß die eignen Zustände (Gefühle, Affekte, Begierden
und Leidenschaften) unmittelbar, die Wahrnehmungen von uns verschiedener Objekte nur mittelbar, durch Übertragung unsers eignen
Gemütslebens auf jene, zur sprachlichen Darstellung antreiben, die lyrische Poësie
vor der epischen und die
dramatische Poësie
am spätesten entwickelt, womit die geschichtliche Zeugnisse übereinstimmen. Vgl. Poetik.