Titel
Arbeiterwo
hnungen.
Da die Gestaltung der Wohnung einen tiefgehenden Einfluß auf das Familienleben und das gesamte Wohlbefinden des Menschen ausübt, so bildet die Wohnungsfrage auch einen wichtigen Bestandteil der ganzen Arbeiterfrage. Mit zunehmender Dichtigkeit der Bevölkerung [* 2] in Industriebezirken und in großen Städten waren die Arbeiter, welche ihre Wohnung nicht allzuweit entfernt von der Fabrik nehmen können, vielfach gezwungen, bei hohen Mietpreisen mit kleinen und unbequemen Wohnungen vorlieb zu nehmen, welche wegen Mangels an Luft und Licht, [* 3] wegen hoher Lage etc. sich als der Gesundheit schädlich, wegen allzu gedrängten Zusammenlebens als der Sittlichkeit gefährlich erwiesen.
Nachdem schon vor längerer Zeit in England diese Übelstände erkannt worden waren, machte sich bald eine Bewegung zur Reform dahin geltend, daß man suchte, den Arbeitern billige, gesunde und dabei behagliche Wohnungen zu verschaffen, welche sie durch kleine ratenweise Zahlungen allmählich zu eigen erwerben könnten. Dem gegebenen Beispiel folgte später das Festland nach. Eine Besserung kann auf dem genannten Gebiet erzielt werden 1) durch Wohlthätigkeitsvereine, 2) durch die Arbeiter selbst, 3) durch die Arbeitgeber, 4) durch Staat und Gemeinde.
Gemeinnützige Gesellschaften, welche der Wohnungsfrage ihre Fürsorge widmeten, bildeten sich in größerer Zahl in den 40er Jahren in England, so in London [* 4] seit 1842 die Association for improving the dwellings of the industrial classes, seit 1844 die Society for improving the condition of the labouring classes, die Improved industrial dwellings company limited u. a. Dieselben bauten neue Häuser, kauften alte zur Umwandlung, vermieteten Wohnungen gegen niedrigen Mietpreis, gaben Darlehen für Erbauung von Wohnhäusern und ermöglichten deren allmähliche Erwerbung durch kleine Abzahlungen. Ähnliche Gesellschaften bildeten sich auch in andern Städten und Ländern. Den gleichen Zweck können die Arbeiter selbst durch Errichtung von Baugenossenschaften erreichen, indem sie Beiträge zahlen und sammeln, Darlehen aufnehmen und in gleicher Weise wie die Baugenossenschaften überhaupt (s. d. ¶
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im Art. »Genossenschaften«) Wohnungen erstellen und ihren Mitgliedern zugänglich machen. Legt eine solche Arbeitergesellschaft durch festes korporatives Zusammenhalten und Sparsamkeit einen Beweis ihrer sittlichen Kraft [* 6] ab, so wird es ihr auch am nötigen Kredit nicht fehlen. Meist treffen jedoch nicht alle für Bildung und Bestand solcher Genossenschaften erforderlichen Vorbedingungen zusammen, wie insbesondere der Besitz der nötigen Mittel, um rasch den Bedürfnissen aller Mitglieder zu genügen, dauernder Aufenthalt an einem Ort, ohne welchen das Interesse am Wohnungserwerb überhaupt entfällt, etc.
Bessere Erfolge können die Arbeitgeber (Grundeigentümer, Fabrikanten) erzielen, da sie nicht allein die zum Bau von Häusern erforderlichen Mittel leichter beschaffen können, sondern auch in der Lage sind, die erstellten Wohnungen für die Dauer durch Verkauf gegen allmähliche Abzahlung oder durch Vermietung zu verwerten. Dieselben erfüllen damit nicht allein einen humanen Zweck, sondern sie dienen auch, indem sie dem Arbeiter eine bessere Existenz schaffen, ihrem eignen Vorteil, da ihnen die Vermietung oder der Verkauf der Wohnung die Heranziehung eines soliden Arbeiterstamms ermöglicht.
Ein solches Vorgehen erscheint insbesondere bei Unternehmungen als zweckmäßig, welche weit von bewohnten Orten entfernt liegen, und bei denen es dem Arbeiter schwer fällt, eine geeignete Wohnung zu finden. Am Platz ist es allerdings nur bei fest begründeten Unternehmungen, welche die nötige Sicherheit für den Arbeiter wie für die Verwertung des Baukapitals bieten. Durch den Erwerb eines Hauses gerät freilich der Arbeiter leicht in größere Abhängigkeit vom Arbeitgeber, wie auch umgekehrt dem letztern durch eine vertragsmäßige oder auch nur thatsächliche Bindung mancherlei Verdrießlichkeiten und Verlegenheiten erwachsen können.
Aus diesem Grund ziehen es viele Arbeitgeber vor, die von ihnen erbauten Arbeiterwo
hnungen nur zu vermieten, während
unzufriedene Arbeiterkreise das System, einen Teil des Lohns durch Gewährung von Wohnungen zu entrichten (in England Kottagesystem
genannt), als ihrer Unabhängigkeit gefährlich überhaupt verwerfen. Die bekanntesten von Arbeitgebern erbauten Arbeiterwo
hnungen sind
die zu Mülhausen
[* 7] i. E. Hier bildete sich 1853 unter der Leitung von Dollfus eine ursprünglich aus zwölf
Fabrikanten bestehende Aktiengesellschaft, die mit einem Aktienkapital von 300,000 Frank (ebensoviel gab noch Napoleon III.
dazu) bis 1862 bereits 618 Einfamilienhäuser mit je einem Gärtchen in einem besondern Arbeiterquartier (cité ouvrière)
erbaut hatte.
Hiervon waren in 16 Jahren 538 Häuser zum Selbstkostenpreis (2600-3600 Fr.) gegen eine Anzahlung von 300 Fr.
und eine monatliche Abzahlung von 25 Fr. verkauft. Nur ausnahmsweise fand Vermietung statt. Zu der ersten Cité kam bald noch
eine neue hinzu. Gegenwärtig (1884) bestehen etwa 1020 Arbeiterwo
hnungen mit 7500 Bewohnern,
die sämmtlich verkauft sind. Dieses Beispiel wurde 1858 von Köchlin, Baumgartner u. Komp. in Lörrach nachgeahmt,
welche bis 1884: 140 zweistöckige Arbeiterhäuser mit 4-5 Wohnräumen und Gärtchen erbauten.
Auch in andern Orten, wie Pforzheim,
[* 8] Lüdenscheid,
[* 9] Bremen
[* 10] etc., erstand bald auf diesem Weg eine Reihe von Arbeiterwo
hnungen, ohne daß jedoch,
insbesondere wegen der oben erwähnten Umstände, alle diese Unternehmungen von gleich günstigem Erfolg
begleitet waren. Staat und Gemeinde sollten nur im Notfall daran denken, Wohnungen zum Verkauf oder zur Vermietung an Arbeiter
herzustellen. Häufig würde, wenn auf anderm Weg dem Bedürfnis
nicht genügt werden könnte, die Übernahme einer Zinsgarantie
ausreichen. Im übrigen kann die öffentliche Verwaltung durch zweckmäßige Bauordnungen, richtige Handhabung
der Baupolizei und Durchführung größerer, allgemein nützlicher Unternehmungen (Kanalisation, Wasserleitung,
[* 11] Beleuchtung
[* 12] etc.)
wesentlich zur Verbesserung auch der Wohnungszustände der arbeitenden Klassen beitragen.
Über die innere Einrichtung der Arbeiterwohnungen
lassen sich keine allgemein zutreffenden schablonenmäßigen Vorschriften
geben, da für dieselbe auch örtliche Verhältnisse entscheidend sind. Im allgemeinen sollen die Wohnungen
den Anforderungen an Gesundheit, Sittlichkeit, Sicherheit und Behaglichkeit entsprechen und dabei möglichst billig sein. Allen
diesen Anforderungen kann nicht überall gleichzeitig in gleichem Maß entsprochen werden. Wo Grund und Boden nicht teuer und
die Baukosten nicht hoch sind, kann man einstöckige Einfamilienhäuser mit Mansarde und Gärtchen erstellen.
Im entgegengesetzten Fall muß man durch Vereinigung einer größern Zahl von Wohnungen auf kleiner Fläche möglichst zu sparen
suchen.
Ist man aber auch wirklich infolgedessen zur Erbauung von sogen. Arbeiterkasernen (großen Häusern, welche viele Familien unter einem Dach [* 13] vereinigen) gezwungen, welche freilich die Durchführung vieler gemeinschaftlich zu benutzender zweckmäßiger Einrichtungen, wie Heizungs-, Beleuchtungs-, Badeanstalten etc., erleichtern, so sollte man doch darauf bedacht sein, die Wohnungen der einzelnen Familien möglichst getrennt zu halten, damit nicht durch die schädlichen Nachteile des Zusammenlebens die erstrebten Vorteile wieder aufgewogen werden.
Kann der einer leistungsfähigen Kasse (Kranken-, Alters- etc. Versicherung) angehörige Arbeiter in einem behaglichen Heim einer gesicherten Zukunft entgegensehen, so ist für ihn ein Hauptteil der sozialen Frage gelöst.
Vgl. V.
Arbeiterwohnungen
Huber, Reisebriefe aus Belgien,
[* 14] Frankreich und England (Hamb. 1855);
Fabri, Die Wohnungsnot der Arbeiter in den Fabrikstädten (Elberf. 1862);
Hoffmann, Die Wohnungen der Arbeiter und der Armen (Berl. 1852);
Emile Müller, Les habitations ouvrières en tous pays, situation 1878 (Par. 1879);
Véron, Les institutions ouvrières de Mulhouse (das. 1866);
Penot, Les cités ouvrières de Mulhouse (2. Aufl., Mülhaus. 1867);
»Les cités ouvrières de Mulhouse. Leurs bains et lavoirs« (3. Aufl., das. 1882; enthält Nachträge zu vorigem);
Roberts, The dwellings of the labouring classes (3. Aufl., Lond. 1850);
Sax, Die Wohnungszustände der arbeitenden Klassen (Wien [* 15] 1869);
Schall, [* 16] Das Arbeiterquartier in Mülhausen (Berl. 1877);
Manega, Die Anlage von Arbeiterwohnungen
(Weim. 1882);
Klasen, Die Arbeiterwohnhäuser in ihrer baulichen Anlage (Berl. 1879);
Schmölke, Das Wohnhaus [* 17] des Arbeiters (Bonn [* 18] 1883).