Mittelalter
(lat. Medium aevum, franz. Moyen-âge, engl. Middle-age), der große Zeitraum der Geschichte, welcher zwischen dem klassischen Altertum und der neuern Zeit liegt, und dessen Dauer vom Untergang des weströmischen Reichs (476) oder schon vom Beginn der Völkerwanderung (375) an bis zur Entdeckung von Amerika [* 3] (1492), wohl auch bis zum Beginn der deutschen Reformation (1517) angenommen wird. Der Name ist als die Bezeichnung einer Übergangsperiode von der antiken Welt mit ihrer großartigen geistigen Kultur und der Schöpfung des römischen Weltreichs zu der modernen Kultur und dem jetzigen Staatensystem aufzufassen.
Als allgemeines geschichtliches Merkmal des Mittelalters
tritt uns zunächst die beginnende
Entwickelung der
Germanen und
Slawen
in
Europa
[* 4] und der morgenländischen Völkerstämme in
Asien
[* 5] und
Afrika
[* 6] auf den Trümmern der römischen
Macht vor
Augen, dort unter dem
Geleit des
Christentums, hier des
Islam, die an die
Stelle des untergehenden
Heidentums treten.
Die Geschichte der Menschheit erweitert ihren Schauplatz nach
Norden
[* 7] und
Osten, verlegt aber zugleich ihren
Schwerpunkt,
[* 8] indem
nach wechselvollen
Kämpfen schließlich der
Orient dem religiös-kriegerischen
Despotismus der
Osmanen erlag,
welcher alles geistige und materielle
Leben ertötete, während im
Westen, im
Abendland, unter dem Einfluß des
Christentums
und der erwachenden antiken
Kultur aus der romanisierten alten
Bevölkerung
[* 9] und den frischen Kernvölkern der
Germanen neue
Nationen sich bildeten und eine neue
Bildung erwuchs. Dies Eintreten der
Germanen in die Geschichte und
die Verschmelzung ihres Volkstums mit den vorgefundenen
Formen des
Lebens zu neuen
¶
mehr
Schöpfungen nimmt vorzugsweise unser Interesse in Anspruch. In den einzelnen Perioden des Mittelalters
treten verschiedene eigentümliche
Richtungen hervor. Die erste Periode, von dem Umsturz des weströmischen Reichs bis zur Teilung der fränkischen Monarchie (843),
zeigt uns noch den gewaltigen Kampf zwischen den alten römischen und den neuen germanischen Elementen des
Lebens, aber auch bereits die Anfänge des mittelalte
rlichen Staatswesens. Die zwei größten Bildungen, welche hieraus hervorgegangen,
sind das Kaisertum mit dem damit zusammenhängenden Lehnswesen und das Papsttum mit seiner vielgegliederten, mächtigen Hierarchie.
Beide Bildungen gingen von der Idee politischer und kirchlicher Einheit aus. Die bald folgenden Übergriffe der Hierarchie in
das Gebiet des Staats führten aber zu langen, heftigen Kämpfen zwischen Kaisertum und Papsttum, welche den ganzen zweiten
Zeitraum (bis gegen das Ende des 13. Jahrh.) ausfüllen. In diese zweite Periode fallen die bedeutendsten Gestaltungen des
mittelalte
rlichen Lebens. Aus der Umgestaltung des Heerwesens bildete sich das Ritterwesen, dessen Blüte
[* 11] in
die Zeit der Kreuzzüge, eine der eigentümlichsten Erscheinungen des Mittelalters
, fällt.
Schiffahrt und Handel erhielten durch die Kreuzzüge neuen Aufschwung. Der Reichtum, welcher dadurch in die Städte floß, erhöhte das Selbstgefühl der Bürger, und während dieselben den Bedrückungen der Ritter entgegentraten, erwachte in ihnen, zuerst in den lombardischen, das Streben nach größerer Freiheit und Selbständigkeit. So trat in den Städten ein bedeutsames Element neben die feudalistische Aristokratie, und es entstand ein gewisses Gleichgewicht [* 12] der Gewalt und der Macht zwischen Königtum, Aristokratie und Volk, welch letzteres indes fast ausschließlich durch die Städte repräsentiert wurde.
In den letztern herrschte aber ebenfalls noch das aristokratische Element vor, und nur sehr allmählich errangen sich die Zünfte eine Stimme in den städtischen Angelegenheiten. Es entstanden Städtebündnisse (Hansa), Landfriedensgesetze und Femgerichte. Mit der fortschreitenden Bildung des Zeitalters begann auch die Kultur der Nationalsprachen, und namentlich wandte sich das Rittertum der Poesie und dem Gesang (Troubadoure, Minnesänger) zu. Zugleich entstand eine neue bildende Kunst; namentlich war es die Baukunst, [* 13] welche am Ausgang dieses Zeitraums in ihrer schönsten Blüte stand.
Die geistige Thätigkeit auf den Gebieten der Religion, Geschichte, Philosophie (Scholastik) der Naturkunde und Mathematik war auf die Geistlichkeit, namentlich einige Mönchsorden, beschränkt. Alle freiern Regungen unter dem Volk wurden dagegen von der Hierarchie unterdrückt (Inquisition). In der dritten Periode, bis zu Ende des 15. oder zu Anfang des 16. Jahrh., bildeten sich die Nationen als selbständige Individualitäten und ständische Staatsformen zu höherer und allgemeiner Freiheit aus, und es begann, wie in Frankreich, über den Gegensatz zwischen Aristokratie und Ständen das autokratische Königtum sich zu erheben. Im allgemeinen sank der überwiegende Einfluß der feudalistischen Aristokratie, und der Bürgerstand trat in den Vordergrund.
Aus den alten Gewohnheitsrechten entstanden allmählich geschriebene Gesetzbücher, wie der Sachsenspiegel und der Schwabenspiegel,
und mit dem Eindringen des römischen Rechts bildete sich ein ganz neuer Rechtszustand heraus. Die Entdeckung
und immer allgemeiner sich verbreitende Anwendung des Schießpulvers, die Erfindung der
Buchdruckerkunst und die Entdeckung von
Amerika und des Seewegs nach Ostindien
[* 14] trugen wesentlich zu diesen Umwandlungen bei. In der Kirche aber riefen die schreienden
Mißbräuche eine immer mächtiger werdende Opposition hervor, welche endlich in der Reformation ihren Gipfelpunkt
fand, mit der die Neuzeit und die aus der Verschmelzung des Christentums mit dem Wesen der nordischen Völker und den Resten
der alten Bildung hervorgegangene moderne Kultur beginnt. Das griechische Kaisertum kennt kein Mittelalter
in dem angegebenen Sinn; im
Orient läßt sich der Zeitraum bis zum Sturz des Kalifats und dem Aufkommen der Osmanen nur entfernt damit
vergleichen.
Selbständige Darstellungen der Geschichte des Mittelalters
schrieben unter andern Rühs (Berl. 1816), Rehm
(Marb. 1820-34, 3 Bde.), Tillier (2.
Aufl., Frankf. 1833), Leo (Halle
[* 15] 1830, 2 Bde., und in Bd. 2 seiner
»Universalgeschichte«, 3. Aufl., das.
1851), Kortüm (Bern
[* 16] 1836, 2 Bde.),
H. Rückert (Stuttg. 1853),
Aßmann (2. Aufl., Braunschw. 1875-80, 2 Bde.),
H. Prutz (Berl. 1885 ff.).
Vgl. Chevalier, Repertoire des sources historiques du moyen-âge, Teil 1: »Bio-Bibliographie« (Par. 1877-83, 4 Bde.);
Osterley ^[richtig: Oesterley], Historisch-geographisches Wörterbuch des deutschen Mittelalters
(Gotha
[* 17] 1883);
Ebert, Allgemeine Geschichte der Litteratur im M. (Leipz. 1874-87, 3 Bde.);
Reuter, Geschichte der religiösen Aufklärung im M. (Berl. 1875-77, 2 Bde.);
v. Eicken, Geschichte und System der mittelalter
lichen Weltanschauung (Stuttg. 1887);
»Archiv für Litteratur und Kirchengeschichte
des Mittelalters«
(hrsg. von Denifle und Ehrle, das. 1885 ff.).