Titel
Dingelstedt
,
1) Franz, deutscher Dichter, geb. zu Halsdorf in Oberhessen, besuchte das Gymnasium zu Rinteln, studierte 1831-35 Theologie und Philologie in Marburg, [* 2] ward dann auf kurze Zeit als Lehrer der deutschen Sprache [* 3] an der Erziehungsanstalt für junge Engländer zu Ricklingen bei Hannover [* 4] angestellt, aber schon 1836 an das kurfürstliche Lyceum zu Kassel [* 5] berufen. Von hier ward er 1838 nach Fulda [* 6] versetzt, da man höchsten Orts an seinen poetischen Bestrebungen Anstoß nahm. Obschon er sich den Aufenthalt in Fulda durch häufige Ferienreisen und fleißige litterarische Arbeiten erträglich zu machen suchte, so ward ihm weder unter dem Hassenpflugschen Regiment noch in der Enge des Schuldienstes wohl, und nachdem er mit seinem »Wanderbuch« (Leipz. 1839-43, 2 Bde.),
seinem Roman »Unter der Erde« (das. 1840) und den »Liedern eines kosmopolitischen Nachtwächters« (Hamb. 1841),
namentlich aber mit den letztgenannten, zu einem gewissen litterarischen Erfolg gelangt war, nahm er seinen Abschied, ließ sich zunächst, an der Redaktion der »Allgemeinen Zeitung« beteiligt, in Augsburg [* 7] nieder, ging dann als Korrespondent derselben nach Paris, [* 8] London [* 9] und Wien, [* 10] verheiratete sich 1843 mit der berühmten Sängerin Jenny Lutzer (s. unten) und ward vom König von Württemberg [* 11] mit dem Titel eines Hofrats, später eines Legationsrats, als Kabinettsbibliothekar berufen. Von 1844 bis 1850 lebte er in Stuttgart; [* 12] 1851 ward er, nachdem seine ¶
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Tragödie »Das Haus der Barneveldt« ungewöhnliche Wirkung gethan, von König Maximilian II. zum Intendanten des bayrischen Hof-
und Nationaltheaters zu München
[* 14] ernannt. Hier bildete er eins der hervorragendsten Glieder
[* 15] der poetisch-gelehrten Tafelrunde
und der »norddeutschen Kolonie«, welche der König um sich versammelt hatte, erzielte mit seiner Bühnenleitung glänzende
Resultate, unter denen das große, in den Annalen der deutschen Theatergeschichte unvergeßliche Gesamtgastspiel
vom Jahr 1854 in erster Linie stand, zog sich aber den bittersten Haß der ultramontanen bayrisch-nativistischen Partei zu.
Den Intrigen derselben gelang es 1856, seine plötzliche Entlassung zu bewirken. Im nächstfolgenden Jahr schon ward Dingelstedt
als
Generalintendant der großherzoglichen Hofbühne nach Weimar
[* 16] berufen, deren Leitung er bis 1867 behielt,
und auf der er nach eigner Bearbeitung den ganzen Cyklus der Shakespeareschen »Historien« zuerst zur Aufführung brachte.
Im Herbst 1867 ward er zum artistischen Direktor des Wiener Hofoperntheaters ernannt, 1872 mit der Direktion des Hofburgtheaters
betraut, die er bis an seinen Tod führte. Er starb in Wien.
Schon 1867 durch den bayrischen Adel ausgezeichnet, war Dingelstedt
vom Kaiser von Österreich
[* 17] 1876 in den Freiherrenstand erhoben worden,
wie es ihm denn das Geschick an äußern Erfolgen und Ehren nicht fehlen ließ. Dingelstedt
ist in seinem gesamten Schaffen ein
poetischer Repräsentant der Übergänge, welche von der gestaltlosen Geistreichigkeit der jungdeutschen Belletristik zu einem
kräftig-anschaulichen Realismus, von der rhetorisch-politischen Lyrik zum vollen Lebensbild, zu Gestalten, in denen politische
Leidenschaft lebt, herüberführen. Er nahm als Lyriker seinen Ausgangspunkt zu gleicher Zeit von der naiven subjektiven Lyrik,
deren Töne er, wie seine »Gedichte« (Stuttg.
1845, 2. Aufl. 1858) erweisen, immer wieder zu treffen wußte, und von der politischen Poesie der 40er Jahre, deren Durchschnittsleistungen
er in den heißblütigen, kräftigen und anschaulichen besten »Liedern des kosmopolitischen
Nachtwächters«, in den Meisterstücken: »Aus der Nordsee«, »Die Flüchtlinge« etc.
weit hinter sich ließ. Die Lebensbilder der nichtpolitischen Gedichte, der leidenschaftliche und dabei
plastische und farbenvolle Cyklus »Ein Roman« und die »Bilder aus dem Münchener Totentanz« verraten ein unausgelebtes episches
Talent. Die Gedichtsammlung »Nacht und Morgen« (Stuttg. 1851) schloß sich an die Nachtwächterlieder an, ohne jedoch einen
dichterischen Fortschritt zu bekunden.
Als Erzähler bethätigte sich Dingelstedt
durch zwei größere Werke, den schon erwähnten Roman »Unter der Erde«
und »Die Amazone«
[* 18] (Stuttg. 1868, 2. Aufl. 1869),
letzteres ein echt modernes Produkt, welches ein ernstes Problem und tiefe Empfindungen in keck spielender, frivol-humoristischer Weise behandelt. Unter seinen Novellen, die in verschiedenen Sammlungen, wie: »Licht [* 19] und Schatten [* 20] in der Liebe« (Kassel 1838),
»Frauenspiegel« (Nürnb. 1838),
»Heptameron« (Magdeb. 1841, 2 Bde.),
»Sieben friedliche Erzählungen« (Stuttg. 1844, 2 Bde.),
»Novellenbuch« (Leipz. 1856),
erschienen, sind einzelne, wie: »Das Mädchen von Helgoland«,
[* 21] »Deutsche
[* 22] Nächte in Paris«, von
seltener Farbenfülle und Energie der Darstellung, während viele andre matter und farbloser erscheinen und sich nur durch
größere Schärfe des Stils über gewöhnliche belletristische Produktion erheben. Einen sehr bedeutenden dramatischen Anlauf,
[* 23] dem er leider keine Folge gab, nahm Dingelstedt
mit dem Trauerspiel »Das Haus der Barneveldt« (1850), das noch immer
den besten dramatischen
Dichtungen der Periode nach 1848 hinzugezählt werden muß.
Daß ein Autor von so großer Weltbildung und mannigfachen Lebenserfahrungen, von so ausgeprägter Lust des Schauens und Schilderns sich in der Wiedergabe äußerlich und innerlich erlebter Dinge mit Glück bewegt, erweisen die Reiseskizzen »Jusqu'à la mer. Erinnerungen an Holland« (Leipz. 1847),
die Essays seines »Litterarischen Bilderbuchs« (Berl. 1880),
vor allem das prächtige, hochinteressante Fragment einer Selbstbiographie unter dem Titel: »Münchener Bilderbogen« (das. 1879). Aus seiner langjährigen und erfolgreichen dramaturgischen Thätigkeit erwuchsen die »Studien und Kopien nach Shakespeare« (Wien 1858),
die Bühnenbearbeitung der Shakespeareschen »Historien« (Berl. 1867, 3 Bde.),
die Übertragung einer Reihe Shakespearescher Dramen (»Der Sturm«, »Was ihr wollt«, »Wie es euch gefällt«, »Die Komödie der Irrungen«) für die Hildburghäuser Shakespeare-Ausgabe sowie eine Übertragung von Beaumarchais' »Figaros Hochzeit« (Hildburgh. 1865),
endlich die dramaturgische Studie »Eine Faust-Trilogie« (Berl.
1876). In den Jahren 1859-65 fungierte Dingelstedt
als Präsident der Schiller-Stiftung; auch war er Mitbegründer der Deutschen Shakespeare-Gesellschaft.
Die Ausgabe seiner »Sämtlichen Werke« (Berl.
1877, 12 Bde.) erwies sich als eine vortreffliche
Auswahl.
Vgl. Ad. Stern, Zur Litteratur der Gegenwart (Leipz. 1880);
Rodenberg, Heimaterinnerungen an F. Dingelstedt
und Fr. Ötker (Berl.
1882).
2) Jenny, geborne Lutzer, Bühnensängerin, Gattin des vorigen, geb. zu Prag, [* 24] machte ihre Gesangstudien am dortigen Konservatorium und begann ihre Bühnenlaufbahn, nachdem Ciccimara in Wien ihre musikalische Ausbildung vollendet hatte, zu Prag im Mai 1832 in der Titelrolle von Rossinis »Fräulein vom See«. Einem Ruf nach Wien Folge leistend, verließ sie Prag und gehörte bis 1845 (1844 ausgenommen), zur Kammersängerin ernannt, dem Wiener Kärntnerthor-Theater an. Sie erhielt die für die damalige Zeit ungemein hohe Gage von 16,000 Gulden pro Jahr.
Durch Gastspiele errang sie sich während der Ferien auf den meisten großen Bühnen außerhalb Wiens ebenfalls verdienten Ruhm
und wurde besonders 1842 in London gefeiert. 1843 verheiratete sie sich mit Franz Dingelstedt
und zog sich bald darauf von der Bühne
zurück, was in Wien Anlaß gab, ihr zu Ehren eine Medaille zu schlagen. Sie starb in der Nacht vom 2. zum in
Wien. Das Beste, was sie als Sängerin leistete, war die Prinzessin in »Robert der Teufel« und die Königin in den »Hugenotten«,
wenn auch im allgemeinen die Rollen
[* 25] heitern Genres ihrem Künstlernaturell besser zusagten als die der
großen Oper.