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Wiewohl der Reichskanzler Graf Caprivi die Vor- lage mit der Notwendigkeit, die bisherigen Mängel der Organisation abzustellen und die Streitkräfte Deutschlands [* 1] angesichts der stetig wachsenden Heere Rußlands und Frankreichs zu verstärken, ausführ- lich im Reichstage motivierte fand er in der ersten Lefung wenig Beifall. Die Frei- sinnigen, die Socialdemokraten, das Centrum und zum Teil die Nationalliberalen scheuten die großen Ausgaben, die Konservativen wollten von der zwei- jährigen Dienstzeit nichts wissen, und auch Fürst Vismarck verurteilte sie als eine Abweichung von altbewährten preuß. Traditionen.
Auch in der Armee ließen sich Stimmen in diesem Sinne vernehmen, doch brachte eine scharfe Neujahrsrede des Kaisers an die gratulierenden Generale diese Opposition zum Schweigen, und hierauf gaben auch die Konserva- tiven und nach ihnen die Nationalliberalen ihren Widerstand auf. Eine Mehrheit war jedoch damit nicht geschaffen, das Gros des Centrums und der Freisinnigen blieb unerschütterlich. Ein von der Re- gierung gebilligter Vermittelungsvorschlag des Cen- trumsabgeordneten Freiherrn von Huene, wonach die Mehreinstellung um 12800 Mann und 1100 Unter- offiziere und die Kosten um 9 Mill. M. verringert werden sollten, wurde mit 210 (Centrum, Freisin- nige, Socialisten) gegen 162 Stimmen (beide konser- vative Fraktionen, Nationalliberale, Polen, Anti- semiten, einige Freisinnige und Centrumsmitglieder) abgelehnt Unmittelbar darauf wurde der Reichstag aufgelöst.
Die Neuwahl fand 15. Juni, die Wiedereröffnung 4. Juli statt, und bereits 15. Juli wurde die Heeresverstärkung nach dem Vorschlag Huenes mit 201 gegen 185 Stimmen angenommen Die durch die Militärvorlagc veranlaßte Reichs- tagswahl brachte große Veränderungen in der Zu- sammensetzung der Parteien hervor. Das Centrum verlor zwar nur wenig Mandate (9), stieß aber die Elemente, die für den Antrag Huene gestimmt hat- ten, bis auf wenige Ausnahmen aus. Die Frei- sinnige Partei spaltete sich sogleich nach der Auf- lösung in die Freisinnige Vereinigung unter Führung Rickerts, die später den Antrag Huene genehmigte, und in die Freisinnige Volkspartei unter Führung Richters.
Bei den Wahlen erlitten beide Parteien große Verluste, von den gemeinsamen 70 Mandaten erlangte die Vereinigung nur 13 und die Volks- partei 23. Den Vorteil hatten in erster Reihe die Antisemiten, die Nationalliberalen und die Neichs- , Partei, die ihre Sitze von 6, 42 und 18 auf 18, 52 und 27 vermehrten, endlich die Socialdemokraten, die fast 1787000 Stimmen aufbrachten und 8 Man- date eroberten. Mit großen Hoffnungen waren die Konservativen in den Wahlkampf gezogen, da sie in einer starken agrarischen und antisemit.
Bewegung kräftige Bundesgenossen gefunden zu haben glaub- ten. Die Unzufriedenheit der Landwirtschaft mit den niedrigen Getreidepreisen, die 1892 stark ge- fallen waren, nahm so zu, daß ein Aufruf eines schles. Pächters Ruprecht an die Landwirte, unter die Socialdemokraten zu gehen, wenn die Regierung ihren Klagen nicht abhelfen wolle, begeisterten An- klang fand (Jan. 1893). Ein Bund der Landwirte (s. d.) wurde gegründet der in seinem Programm jede weitere Ermäßigung der Zölle, ins- besondere einen Handelsvertrag mit Rußland, un- bedingt verwarf und neben andern Maßregeln, wie Schutz gegen Seuchenemschleppung, Errichtung von Landwirtschaftskammern, vor allem die Herbeifüh- rung der internationalen Doppelwährung als wirk- samstes Schutzmittel gegen den Rückgang der Preise verlangte, alles Forderungen, die sich mit den Grund- sätzen der Konservativen aufs engste berührten.
Aber obwohl der Bund bald viele Mitglieder zählte und eine rührige Agitation entfaltete, brachte diese Be- wegung den Konservativen bei den Wahlen keinen Gewinn; ihr Besitzstand blieb fast unverändert (70 Mandate). Der Antisemitismus endlich wurde den Konservativen bald ein gefährlicher Konkurrent. Die antisemit. Agitation war in den letzten Jahren sehr erfolgreich gewesen. Ein Symptom dafür war die Wahl des Berliner [* 2] Rektors Ahlwardt, eines Mannes ohne moralische und intellektuelle Quali- täten.
Wenn nun schon vorher in den Reihen der Konservativen starke Sympathien für die Antisemi- ten geherrscht hatten, so traten diese nach Ahlwardts Erfolge noch stärker hervor, und auf einem Partei- tage in Berlin [* 3] fand dieser nicht nur vielen Beifall, sondern auch das Parteiprogramm wurde in ent- schieden antisemit. Sinne abgeändert Aber bei den Wahlen schieden sich dennoch die Wege der beiden Parteien, und die reinen Antisemiten, die ihrerseits wieder in mehrere Gruppen zerfielen, ent- rissen den Konservativen einige Sitze, ja im Laufe des 1.1893 proklamierte gar einer ihrer Führer, Abgeordneter Boeckel, den Kampf gegen christl. Ka- pital und Junker ebenfo wie gegen Juden. Im Okt. 1894 schlössen sich die verschiedenen Gruppen zu einer Reichstagsfraktion, der «Deutsch-socialen Reform- Partei», zusammen, in die Ahlwardt nicht aufge- nommen wurde.
In das 1.1893 fällt ferner die Versöhnung des Kaisers mit dem Fürsten Bismarck (s. d.), ein Er- eignis, das zwar ohne unmittelbare polit. Folgen blieb, aber einen Lieblingswunsch der patriotischen Kreise [* 4] erfüllte. In der auswärtigen Politik erhielten die Friedens- bestrcbungcn der deutschen Regierung durch die An- nahme der Heeresverstärkung eine neue Stütze, und innerhalb des Dreibundes blieb das Verhältnis zu den Bundesgenossen unverändert, wie unter andern die Reisen des Kaisers nach Rom [* 5] zur Feier der silber- nen Hochzeit des ital. Königspaares, der Aufenthalt in Ungarn [* 6] und die Ernennung des Erzherzogs Al- brecht zum preuß. Feldmarschall beweisen.
Die Kolonialpolitik von 1893 bis 1895 wird durch eine Reihe Verträge mit England und Frankreich charakterisiert. Die Abkommen mit England be- trafen Grenzregulierungen in Ostafrika, im Kamerun- und Olflußgebict, am Binuefluß und die Einführung eines gemeinsamen Zollsystems für die östlich vom Volta belegencn brit. Gebiete und die deutschen Be- sitzungen an der Gold- und Sklavenküste. In dem Vertrage mit Frankreich verzichtete Deutschland [* 7] auf das seit 1885 streitige Hinterland von Kamerun und auf die Verbindung mit dem Centralfudan, erhielt aber dafür einen Zugang zum Sanga und einen Teil des Oberlaufs vom Schari. Wenn dieses Abkommen die Kolonialfreunde nicht durchweg befriedigte, so fand die Haltung der Re- gierung bei einer andern Gelegenheit um so mehr Beifall. England schloß einen Vertrag mit dem Kongostaate der ihm einen Land- strich zwischen dem Tanganika- und Albertsee ein- räumte und damit eine Verbindung zwischen seinen südafrik. Besitzungen und dem Nillande ermöglichte. Deutschland, das die Nachbarschaft des ¶