mehr
Reicher und mannigfaltiger an Trachten als das Wallis war der weitverzweigte Kanton Graubünden mit seinen isolierten, oft völlig abgeschlossenen Thälern. Das meiste ist freilich verschwunden, vergessen. Wenn alle Trachten des Kantons beisammen wären, würden sie eine eigene kleine Sammlung für sich bilden, wie aus dem Album für rätische Trachten ersichtlich ist. Die Leiter der im Jahr 1899 stattgehabten Calvenfeier hatten sich grosse Mühe gegeben, die Darsteller in möglichst getreuen Trachten auftreten zu lassen. Manch' vergessene Truhe und manch' dunkler Winkel wurden deshalb durchsucht und förderten Originalstücke Tageslicht.
Im südlichen Tessin findet sich eine Tracht, die stark an Italien erinnert. Die Frauen der Brianza stecken rund herum in die Zöpfe des Hinterkopfes mehr als zwanzig silberne Löffelpfeile, die wie ein Strahlenkranz in der Sonne blitzen. Die Hirtinnen des Maggia- und Verzascathales haben ein so kurzes Mieder, dass die Schnürung oberhalb der Brust sich befindet. Der Rock ist aus 16 je 20 cm breiten Streifen von dickem, haarigem Wollenstoff zusammengesetzt. Die Füsse stecken in Zoccoli, und die Waden werden durch dicke Wollstoffrohre geschützt.
Im Jahr 1896 verfiel der Lesezirkel Hottingen-Zürich auf die Idee, ein schweizerisches Trachtenfest, verbunden mit Vorführung alter Spiele, Tänze, Gesänge und sonstiger Gebräuche, zu veranstalten. Jedes Thal wurde durchstöbert; alte Leute wurden ausgefragt, alte Bilder besehen; man suchte das Verborgene, das Vergessene hervor. Dies gelang vortrefflich, so dass die ganze Veranstaltung zu einem geradezu vaterländischen Fest wurde. Aus allen Gauen kamen Leute, mit alten Schätzen beladen, herbei, um mitzumachen.
Der Direktor des damals im Bau begriffenen Schweizerischen Landesmuseums benutzte freudig die Gelegenheit, für eine Trachtensammlung zu erwerben, was irgendwie erhältlich war. Als dann zwei Jahre später zur Eröffnung des Landesmuseums nochmals ein Trachtenfest arrangiert wurde, war es möglich, so zu sagen in zwölfter Stunde noch mehr Erwerbungen zu machen. Das Landesmuseum besitzt heute die weitaus reichhaltigste und interessanteste Trachtensammlung der Schweiz. Von grosser Bedeutung ist nun, dass auch die kantonalen Museen angeregt wurden, ihr Augenmerk den Trachten zu schenken. Somit bleiben die verschwindenden Trachten doch nicht nur in Bildern, sondern auch in Originalen der Nachwelt erhalten.
Der Lesezirkel Hottingen hat aber durch das Fest noch eine andere wertvolle Anregung gegeben, diejenige zur Erstellung eines Prachtwerkes für Schweizertrachten des 18. und 19. Jahrhunderts. 36 Tafeln zeigen in vortrefflich ausgeführten Farbenbildern fast ausnahmslos Originaltrachten, die jetzt meistens im Besitz des Landesmuseums sind. Als man sich bewusst wurde, dass nicht blos in der Schweiz, sondern auch in andern Ländern die charakteristischen Volkstrachten zu verschwinden drohen, wurden vielerorts Anstrengungen gemacht, dies zu verhindern, denn nicht nur die Trachten verschwinden, sondern mit ihnen auch die alten Bräuche und alten Sitten.
Man glaubte, dem Verschwinden der Trachten dadurch am ehesten Einhalt tun zu können, dass man ländliche Feste veranstaltete und die Träger und Trägerinnen der besten Trachten auszeichnete. Wie es aber Bräuche gibt, die nicht mehr in die fortschreitende neue Zeit hineinpassen, so passen auch die Trachten nicht mehr hinein. Sie haben ihre Entwicklung durchgemacht, ihre Blütezeit überschritten und sind im Zerfall. Ihre längere oder kürzere Lebenszeit ist einzig von der Abgeschlossenheit der Bewohner von der übrigen Welt abhängig. Je mehr sich entlegene Thäler und Gegenden dem Verkehr, den fremden Menschen öffnen, desto schneller verschwindet alles Eigenartige, alles Originelle der Einheimischen.
[Frau Julie Heierli].
D. SPRACHEN UND MUNDARTEN.
Die kleine Schweiz besitzt nicht nur eine reich entwickelte Fauna und Flora, eine Mannigfaltigkeit landschaftlicher Bilder, die jährlich Tausende von Fremden in unser Land locken, sondern ihr vornehmster Reichtum besteht in der zu einer festen Einheit gefügten Verbindung germanischer und romanischer Sitte. Die Romanen wiederum spalten sich auf Grund alter ethnischer Unterschiede und geschichtlicher Vorgänge in ein französisches, italienisches und rätisches Kulturgebiet. Die deutschen Schweizer fühlen sich kulturell eins mit ihren germanischen Stammesbrüdern, die Westschweiz hängt nach Frankreich hinüber, der Tessin und einige Bündner Thäler gravitieren nach Italien, und das Rätische ist heute auf einen Teil Graubündens beschränkt. Das Alpenmassiv, besonders der Gotthard, bildet den natürlichen Scheide- und Schutzwall dieser Sprachgebiete.
Als die örtlichen Mundarten mit dem Fortschreiten der Kultur durch Schriftsprachen zurückgedrängt oder sogar ersetzt wurden, griffen der Norden und die Innerschweiz naturgemäss zum Hochdeutschen, der Westen zur Sprache von Paris, die italienischen Landesteile zum Gemeinitalienischen. Nur das Rätische wurde selber zur Schriftsprache erhoben, offiziell gedruckt und in den Schulen gelehrt. Es zeigte sich aber, dass in dieser Stärkeeine Schwäche lag: die dialektische Spaltung, sowie der Mangel eines grossen internationalen Verbandes ermöglichte der rätischen Schriftsprache nur eine bescheidene und temporäre Existenz.
Im Folgenden sollen in raschen Zügen die Geschicke und die charakteristischen Merkmale der deutschen, französischen, italienischen und rätischen Sprache und Mundarten auf Schweizerboden beleuchtet werden.
I. Deutsch.
Die letzte eidgenössische Volkszählung vom ergab für die Schweiz bei einer Gesamtbevölkerung von 3315443 Seelen 2312949, d. h. annähernd 70% Deutsch-sprechende. Davon bewohnen etwa 2 1/5 Millionen ein geschlossenes Gebiet, das ungefähr zwei Dritteile des gesamten schweizerischen Territoriums ausmacht: es umfasst die ganze Nord-, Ost- und Mittelschweiz, reicht im Süden, sich stark verengernd, bis zur schweizerisch-italienischen Landesgrenze und schiebt sich so gleichsam als trennender Keil zwischen die romanischen Landesteile im Westen einerseits, im Süden und Südosten anderseits. Längs der Nord- und zum grössten Teil auch der Ostgrenze hängt es unmittelbar mit dem übrigen deutschen Sprachgebiet zusammen, dessen südwestlichen Ausläufer es bildet.
1. Sprachgrenze.
Die heutige Westgrenze gegen das französische Sprachgebiet setzt ein in der Nordostecke des bernischen Amtsbezirkes Pruntrut, durchzieht den Norden des Amtes Delsberg, überschreitet zwischen Liesberg und Soyhières das Birsthal und folgt, vorerst noch in östlicher Richtung, dann nach Südwesten zurückweichend, der bernisch-solothurnischen Kantonsgrenze, weiterhin dem Höhezuge westlich von Biel und vom Bielersee, steigt südlich von Ligerz zum See hinunter und geht diesem und dem Zihlkanal nach zum Neuenburgersee.
Dann springt sie zum Nordrand des Murtensees über, verlässt den See mit der waadtländischen Grenze nördlich von Faoug und zieht sich in südöstlicher Richtung mit zahlreichen Ausbuchtungen nach links und rechts erst quer durch den freiburgischen Seebezirk, nachher längs der Grenze zwischen dem Saane- und Sensebezirk (doch Pierrafortscha dem deutschen Gebiet überlassend) bis zur Berra im Norden des Greierzerlandes, wendet sich eine Strecke östlich, dann wieder südlich zwischen Jaun und Charmey hindurch zur Dent de Ruth und weiter, mit der bernisch-waadtländischen Kantonsgrenze zusammenfallend, zum Oldenhorn. Von hier an begleitet sie die Grenze zwischen Bern und Wallis bis zum Wildstrubel, steigt dann der Ostgrenze des Bezirkes Siders nach bis zur Rhone hinunter, die sie östlich von Siders überschreitet, und streicht jenseits über den Gebirgskamm zwischen dem Eifischthal (Val d'Anniviers) und dem Turtmanthal zur Dent d'Hérens, wo sie auf die schweizerisch-italienische Landesgrenze trifft.
Die Südgrenze folgt dieser zunächst bis gegen den Lyskamm, biegt dann nach Süden in italienisches Gebiet aus, um die am Süd- und Südostfuss des Monte Rosa gelegenen deutschen Gemeinden (Gressoney und Issime im Lysthal, Alagna im Sesiathal, Rima und Rimella im Sermenta- und Mastalonethal, Macugnaga im Anzascathal) aufzunehmen, und kehrt beim Monte Moro zur Schweizergrenze zurück. Südlich vom Ofenhorn tritt sie neuerdings auf italienischen Boden über, umfasst südlich die isolierten Bergdörfchen Agaro (Ager) und Salecchio (Saley),