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bündnerischen Hochlandes, dem auch das Ober Engadin angehört, bedingen das hier herrschende kontinentale Klima, das sich vor demjenigen aller andern Teile der Schweizer Alpen durch hohe Trockenheit und grosse Lichtfülle auszeichnet. Immerhin bedingt der die ganze Thalschaft umrahmende Gürtel von Hochgipfeln und Gletschern die Bildung einer zwischen 1600 und 1800 m Höhe gelegenen Zone, längs der sich der Wasserdampfgehalt der Luft gerne zu Regen verdichtet.
Daher die wunderbare Frische und der ausserordentlich üppige Wuchs der subalpinen Wiesen und Weiden des Engadin. Während im Winter das Temperaturmittel hier weit unter diejenigen der übrigen Abschnitte der Alpenländer sinkt, steigt es im Sommer doch bis zu Beträgen an, wie sie andernorts in den Alpen nur um 500-600 m tiefer gelegene Gebiete erreichen. Im Engadin schwankt die mittlere Januar- und Julitemperatur zwischen den Extremen von 20° unter und über Null. Da die Hauptmasse der Wärme dem Frühjahr und Sommer zu Gute kommt, entfaltet sich das Pflanzenleben hier schon bemerkenswert früh, so dass man die zarten Blumenkronen der Enziane, Potentillen, Anemonen, Krokus und des roten Heidekrautes zu seiner grossen Ueberraschung z. B. bei Sils und St. Moritz, in einer Höhenlage von nahe an 1800 m, schon zu Ende März und gegen Mitte April sich entfalten und die ganze Frühjahrsflorula in vollem Blütenschmuck prangen sieht zu einer Zeit, da die gleich hoch gelegenen Gebiete der zentralen Alpen noch in ihren winterlichen Schneemantel gehüllt sind. Es macht sich diese rasche Wärmezunahme im Frühjahr, die zugleich die Dauer der vegetativen Periode der Pflanzenwelt verlängert, besonders in dem nach oben bis zu etwa 2400 m ansteigenden Baumwuchs geltend.
Der Hochwald besteht der Hauptsache nach aus Lärchen und Arven. Die Arve findet sich längs der hochgelegenen Berghänge ununterbrochen auf eine Strecke von mehreren Kilometern Länge und steigt am Wormserjoch in vereinzelten Gruppen sogar bis 2426 m an, womit sie die von ihr im Wallis erreichte obere Höhengrenze noch überschreitet. Nirgends in der Schweiz entwickeln sich Lärche und Arve schöner als hier im Ober Engadin, wo sie die zu ihrem gemeinsamen Gedeihen günstigsten Bedingungen zu finden scheinen. Es spielt denn auch im Engadin die Arve im Haushalt der Bewohner eine wichtige Rolle; ihr im Kern rotes und eigenartig frisch duftendes Holz wird mit Vorliebe zur Verkleidung der Zimmerwände verwendet, während ihre Nüsse, im Romanischen nuschells geheissen, als gesuchte Leckerbissen gerne gegessen werden. In seinem Pflanzenleben der Schweiz (S. 229) sagt Hermann Christ: «Mit den leichten, anmutigen Lärchen zusammen bildet die Arve einen seltsamen Kontrast und erscheint als eine vorweltliche Gestalt. Und doch sind beide aufs innigste verschwistert und folgen genau denselben klimatischen Beziehungen; sie halten treu zusammen über den ganzen Kontinent bis an den äussersten Osten Asiens.»
Da die Zapfen der Arve zu ihrer völligen Reife einer Zeitdauer von drei Jahren bedürfen und da ihr Samen erst nach Verlauf eines Jahres keimt, da ferner Mäuse, Häher, Eichhörnchen und nicht zum mindesten auch der Mensch eifrig nach den Arvennüsschen fahnden, ist es nicht zu verwundern, wenn die natürliche Aussaat der Arve heute sozusagen gleich Null ist und dieser prachtvolle Waldbaum Tag für Tag an Boden verliert. Hier und da bildet auch die Bergföhre noch einige vereinzelte Bestände; auch die Fichte findet sich noch häufig, und in tiefern Lagen des Thales gedeiht die Weisstanne.
Stellenweise trifft man in den Nadelholzwald eingestreut noch die Birke, Eberesche, Traubenkirsche, Espe u. a. Laubhölzer. Auf Lichtungen, im Unterholz und am Rande der subalpinen Wälder ist der Boden oft mit den weissen Blumen der Linnæa borealis übersät, die einen zierlichen Gegensatz bilden zu den roten Büschen der Alpenrose, den grossen blauen Blumen der Alpenwaldrebe (Clematis alpina), der Alpenakelei, des himmelblauen Sperrkrautes (Polemonium coeruleum) u. zu den dunkelroten Blumenkronen von zwei prachtvollen Rosenarten (Apfelrose, Rosa pomifera, und Zimmtrose, Rosa cinnamomea).
Eine der auffallendsten Eigentümlichkeiten der Engadiner Flora ist das oft auf Strecken von mehreren Kilometern Länge festzustellende Vorkommen von alpinen Arten auf völlig ebenen und regelmässig gemähten Wiesenflächen. So kann man hier z. B. mitten in der subalpinen Zone und mitten im hohen Wuchs von Futterkräutern, Disteln, Flockenblumen, Rapunzeln, grossen Winterblumen etc. Typen pflücken, die wie Trifolium alpinum, Gentiana nivalis, Aster alpinus, Arnica montana, Viola calcarata, Androsace obtusifolia, Veronica alpina, Pedicularis tuberosa u. a. sonst in den Alpen überall nur hoch oben auf den Alpweiden der Berghänge gedeihen.
Die untern Berghänge über Silser- und St. Moritzersee sind bestanden mit Alpenrosen, Zwergwachholder, Grünerlen und arktischen Weidearten, wie z. B. der Salix arbuscula, S. myrsinites, S. glauca, S. hastata u. S. Lapponum; ihnen gesellen sich zu das Krummholz und die Salix cæsia der Südalpen. Trotz ihrer geringen Grösse üben die Seen des Engadin auf die Entwicklung ihrer Uferflora ohne Zweifel einen günstigen Einfluss aus, sei es dass sie das Sonnenlicht kräftig reflektieren, sei es dass sie der nächtlichen Temperaturabkühlung entgegenarbeiten.
Im Engadin ist aber auch die eigentliche alpine Zone an Pflanzenarten ausserordentlich reich und abwechslungsvoll, besonders in ihrem über 2500 m hoch gelegenen Abschnitte. In seiner Abhandlung über die nivale Flora der Schweiz hat Oswald Heer durch Vergleichung der verschiedenen Abschnitte der Schweizer Alpen unter sich gezeigt, dass die nivale Flora Rätiens die an Arten reichste ist. Er zählt im Ober Engadin allein etwa 340 solcher Arten auf. Der Grund für diese Erscheinung liegt vor allem in der topographischen Beschaffenheit unseres Gebietes, das eher ein hochgelegenes Plateau als eine eigentliche Gebirgskette genannt werden kann.
Daraus folgt unmittelbar, dass hier der nivalen Flora eine ausserordentlich grosse Anzahl von auch räumlich nicht zu eng beschränkten Standorten zugänglich ist. In der Zusammensetzung dieser nivalen Flora des Ober Engadin fällt zunächst der grosse Prozentsatz von arktischen Formen auf. So finden sich von solchen im hohen Norden allgemein verbreiteten Arten in der Schweiz und speziell in der alpinen und nivalen Zone des Engadin Carex microglochin, C. lagopina und C. Vahlii, Kobresia caricina, Juncus arcticus, Tofieldia borealis, Woodsia ilvensis, Potentilla ¶