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Papyrusrollen des Britischen Museums, deren Vorderseiten aus dem 11. Regierungsjahr des Vespasian (78/79 n. Chr.) datierte Rechnungen tragen, entdeckt und von Kenyon herausgegeben worden (Oxford [* 1] 1891). Auf Grund des von demselben bald darauf veröffentlichten Faksimiles (»Facsimil of Papyus CXXXI in the British Museum«, Oxf. 1891) gaben die Schrift in wesentlich verbesserter Gestalt heraus Kaibel und v. Wilamowitz-Möllendorff (2. Aufl., Berl. 1892) und van Herwerden und Leeuwen (Leiden [* 2] 1891). Eine vortreffliche deutsche Übersetzung, die bereits in 2. verbesserter Auflage vorliegt, gaben kurze Zeit nach dem Erscheinen von Kenyons Ausgabe Kaibel und Kießling (Straßb. 1891); eine andre deutsche Übersetzung ist von Polland (Berl. 1891); auch Übersetzungen ins Französische und Italienische sind inzwischen erschienen.
Diese Entdeckung ist als ein litterarisches Ereignis zu bezeichnen; seit den Tagen der Poggio, Sozomeno, Landriani ist kein Fund von gleicher Bedeutung aus dem Gebiete der antiken Litteratur gemacht worden. Die Schrift, welche, wenn von Aristoteles selbst herausgegeben, nach gewissen erwähnten Thatsachen nicht lange vor seinem Tode 322 die vorliegende Gestalt erhalten haben muß, zerfällt in zwei ungleiche Teile: der erste, größere, dessen Anfang in der Handschrift fehlt, gibt eine sich mehrfach zu einer Erzählung der Ereignisse erweiternde historische Darstellung der athenischen Verfassungsentwickelung von den ältesten Zeiten bis zur Restauration nach Thrasybulos (403);
der zweite, statistische, dessen Schluß infolge der Zerstörung der letzten Rolle nur trümmerhaft erhalten ist, schildert die zur Zeit des Verfassers geltenden athenischen Einrichtungen.
Daß die Schrift mit der im Altertum unter dem. Namen des Aristoteles gelesenen identisch ist, erweist die Übereinstimmung mit den Citaten der alten Schriftsteller; auch darf für sicher gelten, daß das Altertum, welches zwischen authentischen und nicht authentischen Politien des Aristoteles unterschied, gerade diese für authentisch gehalten hat. Allerdings wäre dies kein ausreichender Beweis für die Abfassung durch Aristoteles selbst, da man nachweislich gleich nach seinem Tode begonnen hat, ihm Schriften seiner Schüler und Freunde beizulegen. Von den Politien hatte schon früher V. Rose (»Aristoteles pseudepigraphus«, Leipz. 1863) überhaupt nacharistotelische Entstehung behauptet, und es sind auch gleich nach der Veröffentlichung der athenischen Politie Zweifel erhoben worden, ob sie wirklich von Aristoteles herrühren könne, so von J. ^[Julius] Schvarcz (»Die Demokratie«, II. 1, Leipz. 1891),
Fr. Rühl (im »Rheinischen Museum«, 1891);
vgl. dagegen Gomperz, Die Schrift vom Staatswesen der Athener und ihr neuester Beurteiler (Wien [* 3] 1891);
Bauer, Litterarische und historische Forschungen zu Aristoteles' Άϑηναίων πολιτεία (Münch. 1891);
P. Meyer, Des Aristoteles Politik und die Άϑηναίων πολιτεία (Bonn [* 4] 1891).
Diese Zweifel gründen sich weniger auf den Stil, der in auffälligem Gegensatze zu den sonst erhaltenen Schriften des Aristoteles fast elegant ist und die rhetorischen Kunstmittel der Zeit maßvoll benutzt, denn das Vorhandensein durch fließenden Stil ausgezeichneter Schriften des Aristoteles ist ja ausdrücklich bezeugt; sie gründen sich vielmehr auf Mängel in der Komposition des Werkes, einzelne Widersprüche gegen anderwärts vorgetragene Ansichten und Angaben des Aristoteles, auch einzelne offenbare Irrtümer u. a., was man einem Aristoteles nicht zutrauen zu dürfen glaubt.
Aber selbst wenn die Schrift nicht von dem großen Stagiriten selbst, sondern von einem Angehörigen des unter seinem Einfluß stehenden Kreises abgefaßt sein sollte, ist sie doch von sehr hohem Werte. Der Stoff ist aus den besten, damals noch vorhandenen Quellen gesammelt und chronologisch festgestellt, die Darstellung mit erlesenem Urkundenmaterial ausgestattet, das ganze Werk im Hinblick auf Herodot, Thukydides und Xenophon geschrieben und daher für diese Schriftsteller, neben denen es als Quelle [* 5] für die athenische Geschichte fortan einen Ehrenplatz einnehmen wird, nicht nur eine Kontrolle, sondern auch ein wesentliches Korrektiv, zumal es gerade die dunklern Partien aufhellt, die bei jenen lückenhaft dargestellt sind.