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Wundärzte regten zunächst auch in Deutschland [* 1] das Interesse für die Chirurgie an. Bald aber trat auch hier eine selbständige Arbeit auf diesem Gebiet und zwar in der nachhaltigsten und gediegensten Weise ein. Zu dem Aufschwung der Chirurgie in Deutschland, welches zusammen mit England die geistige Führerschaft auf diesem Gebiet an sich gerissen hat und noch festhält, haben zunächst österreichische Ärzte, namentlich Vinzenz v. Kern in Wien, [* 2] den Anstoß gegeben. Aus seiner Schule stammen Männer wie Rust, v. Gräfe, der Wiedererwecker der plastischen Chirurgie, Langenbeck der ältere u. a. In der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts übte den größten Einfluß auf die gegenwärtige Gestalt der Chirurgie in Deutschland Dieffenbach (gest. 1847) aus, einer der genialsten und kühnsten Operateure, die es bisher gegeben hat. Je mehr die Chirurgie unsrer Tage auf dem Boden anatomischer und physiologischer Studien hervorgewachsen ist, um so bestimmter konnte sie ihre Aufgaben und die Grenzen [* 3] ihrer Wirksamkeit feststellen.
Sie hat ihre wichtigste und schönste Aufgabe nicht im Zerstören und Schneiden, sondern in der Erhaltung der erkrankten Teile erkannt. Auf jedem ihrer Gebiete sind die Grundsätze der konservativen Chirurgie zur Herrschaft gelangt. Es ist vorzugsweise das Verdienst Stromeyers und seines berühmten Werkes über Kriegsheilkunde, die konservative Richtung der Chirurgie begründet zu haben. Gefördert wurde diese Richtung durch die Entdeckung der schmerzstillenden Wirkungen der Einatmung von Äther und Chloroform.
Durch das Chloroform hat das chirurgische Verfahren unendlich an Sicherheit gewonnen, und die operativen Aufgaben selbst konnten dadurch beträchtlich erweitert werden. Einen Glanzpunkt in der konservativen Chirurgie bildet die Behandlung schwerer Gelenkkrankheiten durch die Resektion v. Langenbecks sowie die ausgedehnte Anwendung der unbeweglichen (Gips-) Verbände, namentlich in der Kriegschirurgie. Auf dem Gebiet der plastischen Operationen, durch welche fehlende Weichteile ersetzt werden, stehen in unerreichter Meisterschaft Dieffenbach und sein Nachfolger v. Langenbeck.
Ein wesentlicher Fortschritt war auch die Einführung der Galvanokaustik in die Chirurgie durch Middeldorpff, durch welche es gelingt, größere Operationen ohne Blutverlust auszuführen, ein gleicher die subkutane Muskel- und Sehnendurchschneidung zum Zweck der Beseitigung von Verkrümmungen der Glieder, [* 4] des Schielens etc.; die Zertrümmerung der Harnsteine in der Blase oder die Lithotripsie, um welche sich die französischen Wundärzte Civiale, Heurteloup und Leroy d'Etiolles unsterbliche Verdienste erworben haben; die Anwendung des Kehlkopfspiegels zum Zweck operativer Eingriffe am Kehlkopf [* 5] ohne vorhergehende blutige Eröffnung desselben etc. Die jüngste Ära in der Chirurgie hat vielleicht den Anspruch auf die Krone aller Verdienste, da sie den gefährlichsten Feind aller blutigen Operationen, die Wundinfektionskrankheiten, mit einem Erfolg bekämpft, der die Sterblichkeitsziffer selbst bei den größten Operationen auf ein früher für unmöglich gehaltenes Minimum herabsetzt.
Sie datiert seit Ende der 60er Jahre, seit Erforschung der pflanzlichen Krankheitserreger, seit der Einführung des antiseptischen Verbandes durch Lister.-
Was die Standesverhältnisse der Wundärzte anbelangt, so ist die Klasse der zunftmäßigen Chirurgen (der Bader und Barbiere) in Deutschland im Aussterben begriffen. Es werden im Deutschen Reich hinfort nur noch Ärzte gebildet, welche die Heilkunde in ihrem ganzen Umfang auszuüben berechtigt sind. Die bisherigen niedern Chirurgen werden höchstens in der Form von Heilgehilfen fortbestehen. Der Unterricht in der Chirurgie, für welchen früher an verschiedenen Orten besondere chirurgische Akademien bestanden, ist in Deutschland ausschließlich den Universitäten anvertraut; die Lehrer der Chirurgie an denselben sind ausnahmslos auch als Operateure praktisch thätig.
Nur in England besteht noch eine ziemlich strenge Grenze zwischen Chirurgen (surgeons) und Ärzten (physicians).
Vgl. Stromeyer, Handbuch der Chirurgie (Freiburg [* 6] 1844-68, 2 Bde.);
Pitha und Billroth, Handbuch der allgemeinen und speziellen Chirurgie (Stuttg. 1865-81);
Hueter, Allgemeine Chirurgie (Leipz. 1873);
Bardeleben, Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre (8. Aufl., Berl. 1879-81, 3 Bde.);
Roser, Handbuch der anatomischen Chirurgie (7. Aufl., Tübing. 1875);
Billroth, Allgemeine chirurgische Pathologie und Therapie (10. Aufl. von Winiwarter, Berl. 1882);
König, Lehrbuch der speziellen Chirurgie (3. Aufl., das. 1881);
Albert, Lehrbuch der Chirurgie und Operationslehre (2. Aufl., Wien 1881, 4 Bde.);
Billroth und Lücke, Deutsche [* 7] Chirurgie (Stuttg. 1879-82);
Hueter, Grundriß der Chirurgie (3. Aufl., Leipz. 1885, 2 Bde.);
Sprengel, Geschichte der Chirurgie (Halle [* 8] 1805-19, 2 Bde.);
Häser, Historische Entwickelung der Chirurgie und des chirurgischen Standes (in Billroths »Deutscher Chirurgie«, Bd. 1);
Historische Studien (Leipz. 1876).