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Georges Peyrebrune u. a. anerkennenswerte Beiträge liefern. Nicht ganz übergangen darf hier eine Dichterschule werden, die in dem berüchtigten Prozeß Chambige von sich reden machte, die Schule der Décadents, wie sie sich selbst nennt, weil ihre Angehörigen sich, ehe sie gelebt, im Verfall begriffen fühlen und danach dichten und trachten. Die Verse dieser jungen Greise sind größtenteils ganz unverständlich, ihre Benennungen für die einfachsten Dinge so weit hergeholt, daß der gewöhnliche Leser wie vor Rätseln steht, vor einer Gedanken- und Gefühlswelt, in der sich nur der Eingeweihte auszufinden vermag, während der Normalmensch glauben kann, Tollhäusler oder Frevler führten das Wort. Der Messias der Schule heißt Stéphane Mallarmé und ist Lehrer des Englischen an einer öffentlichen Anstalt; seine meist genannten Apostel sind Gustave Kahn, René Ghill, Stuart Merill. Mehrere Zeitschriften, welche die Décadents gegründet hatten, sind jetzt in eine verschmolzen, die »Revue indépendante«, in der die wunderlichen Heiligen einander als Propheten und verkannten Genies Weihrauch streuen.
Kritik. Memoiren. Briefwechsel.
Jules *Lemaître und Anatole France, die oben als Novellenschreiber Genannten, schwangen sich in den letzten Jahren zu der Stellung auf, welche Sainte-Beuve einst als Kritiker hier einnahm, Lemaître in der »Theaterwoche« des »Journal des Débats«, A. France im »Temps«, wo er jeden Sonnabend eine bemerkenswerte Abhandlung über die neuesten schöngeistigen Erscheinungen oder vielmehr anläßlich derselben schreibt. Er bespricht nämlich selten ein Buch, sondern empfängt von demselben Anregung, um als Gelehrter oder Philosoph eignen Ideen nachzugehen.
In der Vorrede, die er zu seinen gesammelten Artikeln »La vie littéraire« schrieb, führt er zutreffend die Äußerung des Direktors des »Temps«, Senator Hébrard, an, er sei ein schalkhafter Benediktiner; nicht selten ist er aber auch ein Melancholiker, dem es Vergnügen gewährt, seinen Lesern Kunst und Leben grau in grau zu malen. Farbenreicher und genußfreudiger ist Lemaître, der allem Herkömmlichen, allen Gemeinplätzen den Krieg erklärt hat und auch gegen die scheinbar festesten Positionen Sturm läuft, wie seine Polemik gegen Victor Hugo zeigte.
Durch diese und den Vernichtungskampf gegen den Romanschriftsteller Georges Ohnet begründete er seinen Ruf zum mindesten ebenso sicher wie durch die bemerkenswerten Artikel über zeitgenössische Schriftsteller, die bisher in drei Bänden »Nos contemporains« erschienen. Seine Theaterkritik (»Impressions de théâtre«) ist darauf eingerichtet, das Gegenstück derjenigen Francisque Sarceys (im »Temps«) zu sein, welche praktisch, solid, nüchtern, verständig im Biedermannston vorgeht, während Lemaître das Leichte, Anmutige, Beschwingte, Phantastische mit Vorliebe in blendender Sprache [* 2] feiert. J. J. *Weiß, der durch eine Reihe von Jahren sein Vorgänger im Unterstübchen der »Débats« war, gibt eine Sammlung seiner frühern Artikel: »Le [* 3] théâtre et les mœurs«, mit einer geistvollen, gedankenreichen Vorrede heraus, in der er zur Erklärung seiner Leidenschaft für das Theater [* 4] ein Stück Jugendgeschichte erzählt.
Die Gestalten, an denen J. J. Weiß die Wechselwirkung des Theaters und der Sitten nachweist, sind Scribe, die beiden A. Dumas, Victor Hugo, Pailleron, Sardou, Oct. Feuillet. Zwei Kapitel sind dem Realismus und Naturalismus (»Dumas gegen Zola«, »Zola und Augier«) gewidmet, welche den Gegenstand faßlicher und überzeugender, wenn auch mit geringerm Aufwand an Gelehrsamkeit behandeln als A. David-Sauvageot in seinem 400 Seiten starken, von der Akademie der moralischen und politischen Wissenschaften gekrönten Band: [* 5] »Le réalisme et le naturalisme«, der bis zum heidnischen Altertum zurückgreift und bei der ^[richtig: den] Nachahmern Zolas aufhört.
Ehrwürdig durch seinen Fleiß und den Eifer für die konservativen Interessen, bereichert A. de Pontmartin den Büchermarkt alljährlich um einen nach Puder und Weihrauch duftenden Band: »Souvenirs d'un vieux critique«, während Paul *Bourget in seinen neuen »Études« und »Portraits« überall, echt modern, der »Krankheit des Jahrhunderts«, der pessimistischen Lebensanschauung, nachforscht und Menschen wie Verhältnisse danach mißt. Flaubert, Jules Vallès, Barbey d'Aurevilly, Shelley, Rivarol, Pascal, die englische Gesellschaft werden hier im Anschluß an die früher erschienenen »Essais de psychologie contemporaine«, in denen er den Genfer Amiel, dann Baudelaire, Taine, Stendhal, Renan u. a. studiert hatte, seiner scharfsinnigen, wissenschaftlichen Methode unterzogen und ihre Werke durch ihre Persönlichkeit und Lebensumstände erklärt, was zwar nicht immer streng wahr ist, aber den Eindruck des Wahren macht.
Bourget pflegt seine Studien in der »Nouvelle Revue« zu veröffentlichen; seine »Psychologie de l'amour« gibt er unter dem Pseudonym Claude Larcher der minder ernsten »Vie parisienne«, wo auch Gyp sich über die Gesellschaft lustig macht. Brunetières, der etwas schulmeisterliche, mürrische Kritiker der »Revue des Deux Mondes«, faßt seine Arbeiten regelmäßig in Buchausgaben zusammen: »Histoire et littérature«, »Le roman naturaliste«. Die »Études antiques sur l'histoire de la littérature française« etc. Die »Portraits de femmes« von Arvède *Barine, welche unlängst von der französischen Akademie gekrönt wurden, entstammen der Feder einer Französin, deren russisches Pseudonym eine vielseitige Bildung, die Kenntnis ausländischer Litteraturen und kritische Feinfühligkeit deckt.
Sie beschäftigte sich zuerst mit slawischen Erscheinungen, erweiterte aber ihren Gesichtskreis und zeigte sich überall zu Hause, am schwedischen Hof, [* 6] wenn sie die Geschichte der Königin Christine erzählt, wie in England mit Mary Wollstonecraft, der ersten Frauenrechtlerin. »Les derniers jours de Henri Heine«, in denen sich 1884 Frau Camille Selden als die »Mouche« entpuppte, an welche der kranke Dichter einige seiner Lieder gedichtet hatte, brachten zwar wenig Neues bei, klärten aber vielleicht einige dunkel gebliebene Punkte auf und fachten hier die Teilnahme für den großen fremden Dichter wieder an, der so einsam dahinsiechen mußte.
Camille Selden, die zur Zeit, da sie in der Matratzengruft einen Freudenstrahl verbreitete, Frau von Kinitz hieß, äußert sich nicht gütig über Mathilde Heine; dieser ist Charles Monselet gerechter, dessen Erben einen Band: »A à Z, portraits contemporains«, herausgegeben, alphabetisch geordnete Noten über bekannte Persönlichkeiten, welche keinen Anspruch auf Tiefe oder Vollständigkeit erheben, aber witzig hingeworfen und an Auskünften reich sind. Von dem Standpunkt bequemen Nachschlagens und zugleich angenehmer Lektion sind auch zu nennen: die »Année littéraire« von Paul Ginisty (1.-4 Jahrg.),
die »Annales de théâtre et de la musique« von Edouard Noël und Edmond Stoullig (1875-88),
wie anderseits die »Année politique« von André Daniel. *Gyp endlich unternimmt die mutwillige Kritik der Kritiker in »Ohé, les ¶
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psychologues!«, einer Sammlung leichtgeschürzter, aber manchmal den Nagel auf den Kopf treffender Dialoge oder Tagebuchaufzeichnungen, die man zuerst in der »Vie parisienne« lesen konnte. Der Band ist dem überzeugtesten aller Psychologen, Anatole France, gewidmet.
Die Memoirenlitteratur bietet auch diesmal wieder des Interessanten viel. Der überlebende der beiden Goncourt, Edmond, ist dermaßen mit seinem vor 18 Jahren verstorbenen Bruder verwachsen, daß er sich in die Nachwelt versetzt wähnt und ihr die Aufzeichnungen ausliefert, die erst nach beider Tod hätten veröffentlicht werden sollen, zwei Bände, von denen der eine die Jahre 1851-61, der andre 1862-65 umfaßt. A. Daudet nannte sie »das goldene Buch der modernen Litteratur«, weil alles geistige und künstlerische Schaffen darin besprochen, erörtert, ergründet wird.
Aber auch des Persönlichen enthält das Tagebuch viel, charakteristische Züge, Bosheiten, Hiebe auf Tagesgrößen, und man kann sagen, daß nur eine einzige Person darin gänzlich geschont wird: die Prinzessin Mathilde (Demidow-Bonaparte), die Gönnerin und Freundin beider Goncourt. Aus diesem Grund soll das Tagebuch zu Edmonds Lebzeiten nicht weiter zur Mitteilung gelangen. Dagegen erschienen »Préfaces et manifestes littéraires«, streitbare Vorreden zu allen Büchern der Brüder Jules und Edmond sowie Edmonds allein, zu den Romanen »Germinie Lacerteux« bis »Chérie«, welche die moderne Weiblichkeit verkörpern soll, zu den kulturgeschichtlichen Werken über das 18. Jahrh. wie zu den Theaterstücken und den japanischen Katalogen. Wer dadurch noch nicht erschöpfend belehrt ist, kann »Les Goncourt«, das Werk ihres enthusiastischen, freilich auch unkritischen Bewunderers Alidor Delzant, zu Rate ziehen.
Die Witwe Michelets gab einen zweiten Band »Journal de Michelet« heraus, nach der Kindheit die ersten Lehrjahre des jungen Professors, der durch Beobachtung des eignen Wesens zur Menschenkenntnis gelangt und selbstquälerisch an seiner Vollendung arbeitet. Gewiß zu dem Bemerkenswertesten, was Tagebuchaufzeichnungen je boten, zählt das »Journal de Marie Bashkirtseff«, zwei Bände, aus dem Material zu acht oder zehn von André Theuriet gezogen, welcher auch die Einleitung dazu in Versen schrieb.
Marie Bashkirtseff ist eine junge, verwöhnte Russin, ein frühreifes, seltsames, überreiztes Geschöpf, das im Schoß des Reichtums, aber in unglücklichen Familienverhältnissen aufwächst, alles lernt, alles nachempfindet, sich alles aneignet, eine prächtige Stimme hat und verliert, dann nach unstetem Wanderleben in Paris [* 8] Malerin werden will, in zwei Jahren durch eisernen Fleiß unglaubliche Resultate erzielt und an der Auszehrung stirbt, nachdem sie wenig genossen, aber in der Einbildung viel gelitten, eine Welt von Gefühlen durchgekostet hat.
Die Darstellung ist ursprünglich, eigenartig, sprachlich oft unrichtig, aber immer bezeichnend, überraschend durch die Frische und das Kernhafte des Aufdrucks, welcher manchmal burschikos, ja derb wird und sich unter der Feder eines Mädchens nur durch kosmopolitische Erziehung oder Nichterziehung erklären läßt. Ebenfalls mit kindlichen Aufzeichnungen beginnt ein andres Memoirenwerk einer Slawin, der Fürstentochter Helene Massalska, die von ihrem Oheim, dem Fürstbischof Massalski von Wilna, [* 9] nach Paris in die aristokratische Abbaye au Bois gebracht wurde, das Kloster an der Hand [* 10] ihres ersten Gatten, des belgischen Fürsten de Ligne, verließ und in zweiter Ehe den Grafen Franz Potocki heiratete, mit dem sie gegen das Ende des ersten Kaiserreichs nach Paris zurückkehrte, wo sie 1818 starb.
Das Tagebuch der kleinen, das Französische erst stammelnden Polin ist reizend und gewährt einen merkwürdigen Einblick in die damalige Erziehung der Töchter der vornehmen Familien und die Geschichte der leidenschaftlichen Frau, welche Lucien *Perey in zwei Bänden: »Histoire d'une grande dame, 1) La princesse Hélène de Ligne; 2) La comtesse Hélène Potocka« mit zahlreichen Belegen von Tagebuchstellen und Briefen erzählt. Schon um ihretwillen lesenswert, wird sie es doppelt wegen des geschichtlichen Rahmens, in dem sie sich bewegt: die französische Revolution, die polnischen Aufstände, der Hof Katharinas, Kaiserreich und Restauration.
Zwei andre ebenso sympathische Frauengestalten ragen aus der Zeit Ludwigs XVI., Schiffbrüchige der Revolution, in unser Jahrhundert herüber. »Mme. de Custine« und »La comtesse Pauline de Beaumont«, mit deren nähern Erlebnissen der ehemalige Unterrichtsminister Bardoux, ein Verehrer der Frauen der großen Epoche, der Verfasser der »Bourgeoisie française«, uns (in zwei Bänden) bekannt macht. Ein ähnliches tragisches Geschick beraubte beide ganz jung ihrer Gatten, und beide liebten, ohne einander zu kennen, einen der grausamsten Egoisten, Chateaubriand, zuerst Frau de Custine, die sich über die Untreue ihres Dichters niemals trösten konnte, und dann Pauline de Beaumont, welche ihm nach Rom [* 11] folgte und sich glücklich schätzte, dort sterben zu dürfen, ehe sich der Flatterhafte ganz von ihr abwandte.
Die Voltaire- und Rousseau-Forschung wurde durch zwei stattliche Beiträge der frühern Mitarbeiter, Gaston Maugras und Lucien Perey, bereichert: »Voltaire et Rousseau« von Gaston Maugras und »Voltaire aux Délices et à Ferney« von Lucien *Perey. Des Seltsamen und für die Charakterzeichnung Stendhals keineswegs Schmeichelhaften findet man viel in seinem Tagebuch (»Journal de Stendhal«),
das zwei überschwengliche Verehrer des Verfassers der »Chartreuse de Parme«, Stryenski und Fr. de Nyon, mit mehr gutem Willen als Takt aus den Stößen von Manuskripten zogen, die auf der Stadtbibliothek von Grenoble [* 12] angehäuft sind. Henry Beyle zeigt sich darin als ein vollendeter Geck, der jeden Zug seines Gesichts, jedes Wort, das er sagen will, jede Bewegung, durch die er den Beifall der Frauen und den Neid der Männer zu erringen hofft, sorgfältig studiert und jeden Glauben an seine Aufrichtigkeit zerstört.
Daneben enthält das Buch eine Fülle von Anekdoten und hilft die Werke Stendhals verstehen, welcher, halb verschollen, durch Paul Bourget wieder in die Mode gebracht wurde. Von hohem Wert für die Geschichtschreibung sind die eben erschienenen »Souvenirs sur la Révolution, l'Empire et la Restauration« des Generals Grafen von Rochechouart (mémoires inédites, publiées par son fils),
während die »Lettres du maréchal de Tessé« an die Herzogin de Bourgogne, die Fürstin des Ursins, Frau v. Maintenon u. a., welche Graf de Rambuteau geordnet und herausgegeben hat, ein merkwürdiges Streiflicht auf die gesellschaftlichen Bräuche, die Gewohnheiten, die freie Ausdrucksweise in der Umgebung des Roi-Soleil werfen. Diese Briefe rühren aus der Zeit der militärischen und diplomatischen Sendungen des Marschalls de Tessé in Italien [* 13] und Spanien [* 14] her (1693-1714); der witzige Schreiber war jener galante und gewandte Hofmann, den die Herzogin von Bourgogne, ¶