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und Halévys, von denen das eine durch die Anmut der Einzelheiten wirkte, während die andern dem großen Publikum durch gewisse grobe, aber volkstümliche Eigenschaften schmeicheln, keins die Bühnenkunst bereichert, geschweige denn, wie Zola z. B. und auch die Goncourt gemeint hatten, neuen Gesetzen Geltung verschaffte. An gewandten Bühnentechnikern fehlt es weniger als je, was aber mit geringen Ausnahmen, die nur die Regel bestätigen, fehlt, das sind die Bühnendichter, welchen mit praktischer Begabung die Kunst eignet, dramatische Wirkungen zu erzielen.
Ein Dichter kann wohl Jean Richepin genannt werden, aber ihm ist in »Monsieur [* 2] Scapin« weniger um die Handlung zu thun als um seine schönen, volltönenden Verse, während »Nana Sahib«, welchen er für Sarah Bernhardt schrieb und selbst mitspielte, als der Hauptdarsteller (Marais) erkrankte, mehr ein Spektakelstück ist, wie »Dona Sol« sie seit ihrem Weggang von der Comédie française liebt. »Le [* 3] Flibustier« bezeichnet in technischer Hinsicht einen Fortschritt; »Le chien de garde«, obwohl zuletzt aufgeführt, scheint frühern Ursprungs zu sein.
Dichterisches Streben darf auch Auguste Vacquerie nachgerühmt werden, dessen »Jalousie!« darum nicht minder durchfiel;
sodann Frau Judith Gautier, die eine japanische »Marchande de sourires« mit reicher Ausstattung auf die Bühne des Odéon brachte;
Fräul. Simone Arnaud, Verfasserin eines biblischen Dramas: »Les fils de Jahel«;
Jean Aicard, dessen »Smilis«, reich an schönen Stellen, aber biedermännisch rührselig mit dem alten Admiral, der sich opfert, damit seine junge Frau glücklich werden könne, auf starken Widerstand stieß;
endlich Emile *Bergerat, dem Verfasser der »Enguerrande« und andrer dramatischer Arbeiten, wegen deren er mit allen Theaterdirektoren verfeindet ist.
Alex. Dumas trat in »Denise« und »Francillon« an heikle Fragen heran, die er vor dem Pariser Publikum mit ungleichem Erfolg löste: »Denise« fand eine sehr kühle Aufnahme, während »Francillon« voll Lebens und spannender Verwickelungen, paradoxaler Theorien und heftigen Empfindens bei der Heldin, die mutwillig mit dem Feuer spielt, den Verfasser in die schönsten Tage seines Theaterruhms zurückzaubern konnte. Diese Genugthuung blieb hingegen Sardou lange versagt: »Georgette«, in der er eine Kurtisane durch ihre Muttertugenden rehabilitierte, erregte nur Kopfschütteln, »Marquise!« aber geradezu Widerwillen durch die auf der französischen Bühne bisher unerhörte Brutalität, mit der er eine Dirne, die den Adelstitel durch eine Heirat erkauft hat, und ihre Umgebung zeichnet.
»Théodora« und »Le Crocodile« sind Ausstattungsstücke, und »La Tosca« ist ein grobkörniges Melodrama, welches gleich (der Kaiserin) »Théodora« für Sarah Bernhardt geschrieben wurde. Es bedurfte der »Belle-Maman«, eines Lustspiels, zu dem Sardou übrigens vorwiegend die geschickte Mache, Raymond Deslandes aber, der Direktor des Vaudevilletheaters und Verfasser von »Antoinette Rigault«, den Stoff geliefert hat, um die Verehrer seines Talents durch eine lange Reihe von Aufführungen und den Beifall aller Freunde eines guten Lustspiels wieder zu beruhigen.
Einen ernsten Versuch, die Sittenkomödie neu zu beleben, machte Jules *Lemaître, ein Neuling auf der Bühne, mit »Révoltée«. Die schließliche Aussöhnung des rebellischen jungen Weibes mit dem bescheidenen Mann und der Stellung, die er ihr zu bieten hat, vermochte nicht zu befriedigen; aber der Dialog war so geistreich, alle Einzelheiten zeugten von so viel Herzenskenntnis und Sinn für die Bühnenerfordernisse, daß man berechtigt ist, von dem Kritiker der »Débats«, Vollkommenes zu erwarten.
Den wirklich litterarischen Bühnentalenten ist Abraham *Dreyfous beizuzählen, dessen Einakter »Une rupture« zu den besten Gaben der letzten Jahre gehört, ferner Becque, ein Schwarzmaler, der die Herbheit seiner »Parisienne« durch »Les honnêtes femmes« einigermaßen wieder gut machte. Seitdem die berühmte und bewährte Firma Halévy-Meilhac sich aufgelöst hat, hüllt Ludovic Halévy sich in die Würde, die ein Sitz unter den 40 Unsterblichen verleiht, und setzt Meilhac, jetzt auch wieder in der französischen Akademie sein Kollege, allein oder mit andern sein munteres Schaffen fort: allein gab er die schon erwähnte »Gotte« und »Décoré«, eine Satire auf die Jagd nach Ordensbändern, die mitten in die Aufregung über den Dekorationenschacher fiel;
mit Albert Millaud das Vaudeville »La Cosaque« und mit Léon Ganderay »Pepa«, gewissermaßen eine Einleitung zu den wunderlichen Sitten, welche die Weltausstellung vorübergehend in Paris [* 4] einbürgern sollte.
Paillerons »Souris« gehört ein wenig der Familie »Pepa« an und verdankte die freundliche Aufnahme, die man ihm im Haus Molières bereitete, hauptsächlich dem Vater, an dessen Hand [* 5] sie ihren Einzug hielt. »Un Parisien« von Edmond de Gondinet frischt die bekannte Gestalt des sich für blasiert haltenden, stellenweise aber noch außerordentlich naiven Großstädters wieder auf, nicht lebendig genug jedoch, um den Verfasser, der seit »Clara Soleil« (mit Pierre Civrac) in der Irre herumzutasten scheint, aus dem bösen Bann zu befreien. Als Alexandre *Bisson »Le député de Bombignac« im Theâtre-Français aufführen lassen konnte, glaubte man, es wäre eine neue tüchtige Kraft [* 6] in den Dienst der Sittenkomödie gestellt; allein das Possenhafte, das übrigens auch in dem »Député« seine Rechte behauptet hatte, behielt bei Bisson die Oberhand in »Le Cupidon«, »Le roi Koko«, »Mam'selle Pioupiou« wie in dem bedeutendern »Conseil judiciaire«, den Jules Moineaux mit ihm zeichnete.
Nichts charakterisiert schon für das bloße Auge [* 7] das Handwerksmäßige der meisten für die Lustspielbühnen bestimmten Arbeiten besser als die häufige Mitwirkung von zwei, ja drei Verfassern bei kleinen noch mehr als großen Stücken. Der eine bringt einen Kanevas, der andre eine gewisse Fertigkeit, der dritte streut Bonmots oder versteckte Anspielungen ein, und so entstehen Bühnenwerke, die mit der Dichtkunst gar nichts mehr, mit der Litteratur blutwenig zu schaffen haben und zwar gedruckt zu werden pflegen, aber in solcher Gestalt für Leser, die noch etwas andres suchen als Lachreiz und Zoten, kaum genießbar sind. Zu den bessern Erzeugnissen dieser Art gehören noch die Arbeiten von *Blum und Toché, denen eine komische Ader innewohnt: »Les femmes nerveuses«, »Le parfum«, »Le cadenas«, Najac und Albert Millaud: »Hypnotisé«, Jaime und Georges Duval: »Coquin de printemps!«, Paul Ferrier: »Dix jours aux Pyrénées«, Ferrier und Bocage: »La doctoresse«, »Flamboyante«, Maurice Ordonneau und Valabrègue: »Durand et Durand«, »Les petites Godin«, Grenet-Dancourt: »Trois femmes pour un mari«, »Les maris de Montgiron«, abgesehen von den unzähligen Textbüchern für Operetten und Singspiele, welche sich um die Wette in lüsternen Späßen ergehen. Neben dieser seichten Gattung nehmen sich die großen, manchmal ungefügen Volks- und Militärstücke, welche die Schaulust der ungebildeten ¶
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Massen, aber auch ein Ideal von Gerechtigkeit, Bürgersinn, Hingebung an das Vaterland befriedigen wollen, ehrwürdig und der Beachtung des Kulturforschers wert aus: »Carnot« von Blondeau und Jonathan, »L'Inflexible« von Parodi und Vilbert, »La guerre« von Erckmann-Chatrian, »Augereau ou les volontaires de la République« von Gaston Marot, »La casquette du père Bugeaud« (nach einem bekannten Soldatenlied) von Gaston Marot und Clarian, »Jacques Bonhomme« von A. Maujan (Jean Malus),
»Roger la Honte« von Jules Mary und Georges Grisier u. a. m.
Zu erwähnen ist hier noch ein Institut, welches sich unter der Leitung Antoines, eines gewandten Geschäftsmanns und zugleich Schauspielers, die Aufgabe gestellt hat, solche Arbeiten zur Aufführung zu bringen, welche auf den öffentlichen Bühnen aus irgend einem Grund, entweder wegen ihrer Waghalsigkeit oder Schamlosigkeit oder auch nur, weil sie gegen alle Regeln der Theatertechnik verstoßen, nicht gespielt werden können. Das Théâtre libre fand einen Abonnentenkreis, Kapitalisten, darunter solche aus dem Haus Rothschild, und Dilettanten, und macht neben unbekannten Autoren auch bekannte, Zola, de Goncourt, de Maupassant, Villiers de l'Isle Adam, Bergerat, Théodore de Banville, Henry Céard, Catulle Mendès, durch ein- oder zweimalige Elektrisierung ihrer Schmerzenskinder glücklich.
Das Hauptereignis der Bühne, welche von den Abhängen des Montmartre nach dem linksuferigen Boulevard Montparnasse und von hier endlich nach dem Mittelpunkt von Paris verlegt wurde, war aber bisher die Aufführung von Tolstois »Die Macht der Finsternis«, eines düstern, grausigen, bestialischen Nachtstücks aus dem russischen Bauernleben, auf das Ibsens »Gespenster« folgen sollen. Nach dem Gegebenen hat es noch nicht den Anschein, als ob der Unverstand, die Routine der Theaterdirektoren so viele große Kunstwerke im Keim zu ersticken pflegten, wie Zola, Bergerat und andre Neuerer mit ihnen behaupten. Im Gegenteil sind die Abende des Théâtre libre mit geringen Ausnahmen eher eine Rechtfertigung des Geschmacks der Angeklagten, welche Schöpfungen von so rohem Realismus, wie »La fin de Lucie Pellegrin«, »La pelote« von Paul Bonnetain, »Rolande« von de Gramont, abgelehnt hatten.
Lyrik.
»Toute la lyre« heißen die zwei letzten Bände gesammelter Gedichte, welche die pietätvollen Testamentsvollstrecker Victor Hugos, Auguste Vacquerie und Paul Meurice, aus dem Nachlaß ihres großen Freundes fast gleichzeitig mit seinen Dramen: »Les jumeaux« (unvollendet) und »Amy Robsart« herausgaben. Die Gedichte verteilen sich auf ein halbes Jahrhundert und dürften teilweise von dem Sänger selbst als unzulänglich oder Wiederholungen von schon Gesagtem beiseite gelegt worden sein.
Was der Leser darin findet, kommt ihm wie Altbekanntes vor, abwechselnd großartig und kindisch, ein Gewebe [* 9] von Antithesen, ein funkelndes Geschmeide, dessen Steine nicht alle echt sind, aber auf den ersten Blick den Schein für sich haben. »Le Bonheur« von Sully-Prudhomme ist ein poetisch-philosophischer Aufschwung zum höchsten Ideal der Selbstverleugnung. Ein edles Liebespaar, welches schon in den Wonnen des Jenseits schwelgt, wird von den Klagen der bedrängten Menschheit aus seiner Seligkeit aufgescheucht.
Die Guten machen sich auf, ihr Hilfe u. Hoffnung zu bringen, aber nach langen läuternden Wanderungen durch die Gestirne finden sie auf der Erde nur noch den Tod, der ihnen erzählt, wie das alte sündige Geschlecht vernichtet ist, seine Knochen [* 10] zerstreut modern und was Unvergängliches in ihm war, in bessere Sphären entrückt wurde. Faustus und Stella, von unendlichem Mitleid ergriffen, widmen sich der freiwilligen Sendung, die Trümmer aufzurichten, den Erdkreis mit einem neuen Geschlecht zu bevölkern, dem sie ihr schwer errungenes Wissen und das Geheimnis der Glückseligkeit, des Friedens auf Erden, an den Menschen ein Wohlgefallen in selbstlosem Wirken mitteilen.
Nicht so olympisch heiter und ruhig dahinfließend, aber immer sprachgewaltig, manchmal hinreißend schön, voll tiefer Naturempfindung, wenn auch da und dort durch die wilden Sprünge einer ausschweifenden Phantasie verunstaltet ist die Gedichtsammlung »La Mer« von Jean Richepin, ein prächtiges realistisches Seitenstück zu Heines »Nordsee«. Mit Richepin durch das Sprachtalent und die Geisteskühnheit verwandt, in der Auffassung des Lebens aber weniger heidnisch erscheint Maurice Bouchor. Er durchforscht in den »Symboles« alle Religionen und findet zwar darin nicht die Lösung banger Zweifel, gönnt ihnen aber das Zeugnis, daß sie seit dem Bestehen der Menschheit Unzähligen Trost und Labung spendeten, mit ihren heiligen Mythen der Urquell des Besten und Erhabensten im Erdgebornen waren.
François Coppée und Jean Aicard, bekannte Dichter, welche sich durch den harmonischen Ausdruck mittlerer Stimmungen ein Frauenpublikum sicherten, blieben ihren Gewohnheiten mit »L'Arrière-saison« und »Le livre d'heures de l'amour« treu; nur daß Coppée, persönlicher als sonst, einen eignen späten Liebesfrühling in seinen Liedern zu feiern scheint. Eigenartig durch stilvolle Einfachheit sind die poetischen Blüten, die Philippe *Gille bescheiden nicht einmal zu einem Strauß [* 11] bindet, sondern nur zu einem »Herbier« (Herbarium) sammelt, während wie ein Omen die in feierlich klassischem Gewand einherschreitenden »Poèmes de la mort« durchwehen, welche der Herausgeber der Werke von Daniel Stern (Gräfin d'Agoult),
der Verfasser der »Mort du Centaure«, L. de Ronchaud, noch kurz vor seinem Tod veröffentlichte. Niemals weniger als jetzt stand vielleicht die moderne lyrische Dichtung in Ehren. Sogar die Dichter, deren Ruf schon feststeht, werden mehr gepriesen als gelesen, und obwohl nicht selten wahre Perlen der Empfindung in künstlerischer Form da und dort auftauchen, die zum Teil von Frauennamen gezeichnet sind, so gehen sie in der Tagesströmung unter, wenn nicht besondere Glücksumstände ihre Veröffentlichung begünstigen.
Dies traf bei den »Poèmes lyriques« von Frau Tola Dorian zu, einer gebornen Russin (Fürstin Metscherskij),
sowie bei den »Rayons et ombres« von Griselin, der jugendlichen Tochter eines hohen Verwaltungsbeamten der Stadt Paris, welche beide ihre Verleger wählen konnten. Ebenso ist eine litterarische Gattung, die eine enge Verwandtschaft mit der lyrischen Poesie aufweist, fast nur auf Frauen zurückzuführen, die Gedanken, Bekenntnisse schöner Seelen, Selbstbetrachtungen in ungebundener, aber gewöhnlich höchst gewählter, sorgfältiger Rede, wie z. B. »La neuvaine de Colette« als deren anonyme Verfasserin eine Weltdame genannt wird, die »Pensées« von Frau Calmon, und eine ganze Bibliothek, zu der Frau Blanchecotte, die Marquise de *Blocqueville, die Comtesse Diane, Frau Alphonse Daudet: »L'enfance d'une Parisienne«, »Impressions de nature et d'art«, »Les enfants et les mères«, Daniel Darc (die 1887 verstorbene Frau Régnier), Frau ¶