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Bruder Ernest schon über dieses Thema geschrieben hatte, viel hinlänglich Bekanntes enthielt. »Sapho« und »L'Immortel«, die letzten Romane Daudets, sind der eine die lebhaft entworfene Geschichte eines Unglücklichen, welcher unrettbar dem Zauber einer Sirene [* 2] verfällt, der andre eine Satire auf die französische Akademie, über deren Berechtigung sich streiten läßt, deren Herbheit aber bei einer höchst pessimistisch gefärbten, wenn auch spannend vorgetragenen Fabel alle Billigdenkenden unangenehm berührte.
Die Stellung Daudets ist heute eine unanfechtbare; was er auch schreiben mag, er wird immer Hunderttausende finden, die ihn lesen und auf ihn schwören, aber das hindert nicht, daß der künstlerische Gehalt seiner Werke immer mehr der Reklamensucht weicht. Victor Cherbuliez fährt in »La Bête« und im »Comte Ghislain« fort, wunderliche Käuze zu schildern, während Jules de Glouvet (Pseudonym des Generalstaatsanwalts Quesnay de Beaurepaire) gesellschaftlichen Studien vom Standpunkt eines Juristen erweitert, in »Le [* 3] Père« die Lage eines Vaters ergründet, der keine gesetzlichen Ansprüche auf seine Tochter hat, und in »La fille adoptive« einen Erbschaftshandel mit mehr Fachkenntnis als schöpferischer Phantasie verarbeitet.
Mit »Marie Fougère«, die er zuerst unter dem neuen Pseudonym Lucie Herpin herausgab, griff er den Naturalismus scharf an und mußte sich dafür die Anfeindungen eines Teils der Presse [* 4] in dem Augenblick gefallen lassen, da er zum öffentlichen Ankläger Boulangers ernannt wurde. Octave Feuillet, einst der Lieblingsschriftsteller des Tuilerienhofs, der den Gesellschaftsroman mit Vorliebe pflegte, hatte infolge eines traurigen Familienereignisses lange geschwiegen und überraschte, als er mit »La Morte« wieder vor die Öffentlichkeit trat, durch die Schärfe der Polemik, welche er darin gegen die freidenkerische Frauenerziehung führte.
»La Morte« ist verwandt mit Henrik Ibsens »Nora,«, nur daß der norwegische Dichter seiner Heldin mit liebevoller Teilnahme folgt, während Feuillet die seinige verabscheut und dies in ihrem ganzen Thun und Lassen zeigt, in ihrer gewaltsamen Durchführung des Satzes, daß der Schwächere in der Natur und Gesellschaft dem Stärkern weichen muß, wie in ihrem schmählichen Ende. Unter dem Kaiserreich hieß Feuillet mit einem Wortspiel, das Sainte-Beuve in einem seiner »Lundis« vor die Öffentlichkeit gebracht hatte, le Musset de familles; jetzt heißt Henri Rabusson, der Verfasser von »Le roman d'un fataliste«, »Un homme d'aujourd'hui, «Le mari de Madame d'Orgevault" der »Sous-Feuillet«, weil auch er, dem übrigens Phantasie und Darstellungskunst eignen, sich nur in der aristokratischen Gesellschaft bewegt und sich etwas darauf zu gute thut, ihre Gesetze wie ein Zeremonienmeister zu kennen, ihren Vorurteilen wie ein Priester seiner Religion zu dienen.
Gegen Hector Malots Roman »Conscience« wurde vielfach der Einwand erhoben, derselbe gleiche in den Hauptzügen Dostojewskijs »Verbrechen und Sühne«, und der Verfasser selbst gab dies von dem Ausgangspunkt zu: ein Gebildeter, der das Recht des Stärkern geltend macht und sich durch die Ermordung eines Wucherers die Summe verschafft, deren er zur Vollendung seiner Studien bedarf. Während aber der Nihilist Rodion, ein kaum der Barbarei entwachsener Russe, von mystischem Schrecken gefoltert, einer Dirne sein Verbrechen beichtet und ihr gehorcht, als sie in ihn dringt, daß er sich den Gerichten stelle, wähnt der einer ältern Kultur entstammte Arzt Saniel, wie Malot in dem zweiten Teil seines Werkes, »Justice«, zeigt, durch philanthropisches Wirken lasse sich das Geschehene tilgen. Er gibt den Armen und Unglücklichen tausendfach zurück, was er gestohlen hat; aber der Fluch der bösen That verfolgt ihn, und er verfällt dem Scharfrichter, nicht um seines Verbrechens willen, sondern weil das Bewußtsein desselben ihm nicht gestattet, eine andre Schuld, die ihm zur Last gelegt wird, von sich abzuwälzen.
Anläßlich von »Verbrechen und Sühne« mag der Umstand Erwähnung finden, daß seit einigen Jahren in der gebildeten französischen Lesewelt, die sonst von ausländischer Litteratur nur wenig kennt, eine starke Neigung für den russischen Roman zu Tage tritt. Dieselbe wurde wachgerufen durch Iwan Turgenjew, der bekanntlich die letzten Jahre seines Lebens hier verbrachte und seine Romane teilweise in französischer Ausgabe zugleich mit der russischen erscheinen ließ.
Die politischen Sympathien thaten dann das übrige, um den Aufsätzen des jetzigen Akademikers, Melchior de Vogüé, über russische Litteratur, den Übersetzungen von Tolstoi, Dostojewskij u. a. Eingang zu verschaffen, während neben diesen Frau Henry Gréville, welche ihren Landsleuten Rußland und die Russen in einer faßlichern Form erzählt, wie in »Cléopâtre«, »Nikanor«, »Louk Loukitch« stets ihr aufmerksames und dankbares Publikum hat. Gleich Albert Delpit gehört auch André Theuriet zu den beliebten Tagesschriftstellern, den Stützen der »Revue des Deux Mondes«, die sich stets in denselben Kreisen bewegen, der erstere mit »Paule de Brussanges«, »Catherine Levallier«, »Disparu« wie der letztere mit »La vie rustique«, »L'affaire Froideville«, »L'amoureux de la préfète«, »Amour d'automne«, »Contes de la vie intime«, wobei nur zu bemerken ist, daß Theuriet, der sich lange in der Vogesengegend gefiel, jetzt die Handlung seiner Romane nach Savoyen verlegt, wo er einen Teil des Jahrs zubringt und sein Talent aufgefrischt zu haben scheint.
Pierre Loti, unter den jüngern Schriftstellern einer von denen, welchen das Glück hold war, bevorzugt als Marineoffizier die Schilderung fremder Länder und Sitten, wenn er nicht, wie im »Pêcheur d'Islande«, die heimische Bretagne und die Meere, welche die dortigen Schiffe [* 5] besuchen, zum Schauplatz einer schlichten Herzensgeschichte macht, wohl das vollkommenste Werk, das man von ihm besitzt, maßvoll in den Beschreibungen und von tiefer Empfindung durchdrungen.
Außerdem bot er noch »Madame Chrysanthème«, gewissermaßen eine Fortsetzung der Liebesabenteuer des Seemanns, welcher an den verschiedensten Küsten, hier in Japan, [* 6] nach Landesbrauch vorübergehend eine Lebensgefährtin nimmt, nach der braunen eine schwarze und dann eine gelbe, ein zierliches, sanftes Wesen, das zu einem Fetisch betet und dem Interimsgatten Zweifel einflößt, ob dem Weibchen auch ein Seelchen innewohne. Hier liegt das Interesse lediglich im Nebensächlichen, in der Darstellung einer Welt, wo alles klein und zart ist, wie die Menschen so die Tiere, Pflanzen, Geräte, Farben, eine Darstellung, die man noch weiter ausgeführt und feiner entwickelt findet in zwei Bänden von Stimmungsbildern: »Japoneries d'automne« und »Propos d'exil«. Unter den heutigen Vielschreibern, die stets litterarisch bleiben im Gegensatz zu den Feuilletonlieferanten der Soublätter wie A. Bouvier, Richebourg, Jules Mary, René Maizeroy, Xavier de Montépin u. a. m., sind um der Vollständigkeit willen zu nennen Georges Ohnet, (Frau) Georges de Peyrebrune, Hugues Le Roux, Chroniqueur des »Temps« und Verfasser eines Cyklus von Romanen, in denen ¶
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er das Pariser Elend auf allen Stufen der Gesellschaft schildert; Abel Hermant, der sich durch Pessimismus auszeichnet, im »Cavalier Miserey«, der ihm wegen seiner übertriebenen Schilderung des Kasernenlebens Duelle mit Offizieren zuzog, wie in »La Surintendante«, einem Zerrbild der heutigen politischen Welt; Paul Bonnetain, Frau Charles Bigot (Jeanne Mayret), Léon de Tinseau, die beiden letztern in der Frauenwelt, die anständige Lektüre sucht, sehr beliebt.
Eine Romangattung endlich, die gedeiht, weil sie keinerlei sittliche Grenzen [* 8] und Bedenken kennt, sei ebenfalls nur vorübergehend mit ihrem vornehmsten, hochbegabten Pfleger, Catulle Mendès, erwähnt. In ehrbarer Gesellschaft darf nur seine »Grande Maguet« als lesenswert genannt werden; seine meisten übrigen Bücher entziehen sich, gleichwie seine Nacheiferer und Nachahmer, der Besprechung.
Die Novelle wird bei der zunehmenden Raffiniertheit der Erzählungskunst wieder mehr zu Ehren gebracht und hat eine reichere Auswahl an Erzeugnissen aufzuweisen als noch vor wenigen Jahren. Catulle Mendès zeigt darin seine Formvollendung mit seinem Cynismus, wie Ludovic Halévy seinen Witz und seine Inszenierungsgabe in »Princesse«, *Villiers de l'Isle Adam, dessen Roman »L'Ève future« die Anwendung der Edison-Erfindungen bei der Erschaffung eines vollkommenen mechanischen Weibes in höchst phantastischer Weise vorführt, seinen Totengräberhumor in den »Histoires insolites«, François Coppée seine Liebe zu den Mühseligen und Beladenen in einem Band [* 9] »Contes rapides«.
Maupassant sammelt seine da und dort erscheinenden, meist sehr realistischen Erzählungen in Bänden, denen er nach der herrschenden Sitte jeweilen den Namen der größten derselben gibt; Paul *Bourget bietet als »Pastels« eine Galerie zarter, duftiger, melancholischer Mädchen- und Frauengestalten, und diesen schon bekannten Schriftstellern schließen sich Jules *Lemaître und Anatole France mit Gyp an. *Gyp (Gräfin Martel-Mirabeau) gefällt sich gewöhnlich in übermütigen, satirischen Bildern gesellschaftlicher und politischer Zustände, bei denen die dem Boulevard-Argot entlehnte Sprache, [* 10] ein Gemisch von Gamins-, Salon-, Atelier- und litterarischen Ausdrücken neuesten Datums oft das meiste zur Wirkung beitragen, die man jenseit des Pariser Weichbildes kaum mehr begreifen dürfte. In »Petit bleu« hat sie plötzlich einen andern Ton angeschlagen, der auf eine neue Seite ihres Talents schließen läßt, einen innigen Herzenston, der mit dem Lachen eines mutwilligen Kindes anhebt und in Thränen ausklingt.
Anatole France ist als Romanschriftsteller durch »Le crime de Sylvestre Bonnard« bekannt geworden, hat sich aber seitdem fast ausschließlich der litterarischen Kritik zugewandt und tritt nur selten mit ursprünglichen Erzeugnissen seiner Feder hervor, zierlichen und gezierten, fein ziselierten, bald gedankentiefen, bald neckischen, vorwiegend melancholischen Feengeschichten, Märchen, ironischen Bearbeitungen christlicher Legenden, wie sie in »Balthasar« vorliegen, einem dem Vicomte Melchior de Vogüé gewidmeten Band. Auch Jules *Lemaître hielt sich für berufen, die Legende durch »Serenus« zu bereichern, eine Märtyrergeschichte aus dem Rom [* 11] des Jahrs 90, welche an die Art Gottfried Kellers in den »Sieben Legenden« erinnert. Die dem Buch angehängten Erzählungen und Aufsätze sind von verschiedenem Wert, aber alle von dem Geist eines mit Paradoxen behende spielenden, formgewandten Schriftstellers eingegeben.
Dramatische Litteratur.
Zwei neue Buchdramen Ernest Renans: »Le prêtre de Nemi« und »L'abbesse de Jouarre«, mögen hier zuerst verzeichnet werden. Der »Prêtre de Nemi« (in der Vorrede von Renan selbst mit »Caliban« und »L'eau de Jouvence« als Fortsetzung seiner »Dialogues philosophiques« bezeichnet) enthält eine Ausführung des Glaubens an den endgültigen Sieg des religiösen und sittlichen Fortschritts trotz Thorheit und Bosheit, trotzdem in der Politik das Verbrechen belohnt und die Tugend bestraft wird.
»L'abbesse de Jouarre« feiert die Freude am Dasein, den Triumph der Liebe angesichts des Todes mit einer Vorurteilslosigkeit, welche bei dem einstigen Zögling von Saint-Sulpice doppelt befremdet. In Italien [* 12] wurde die »Abbesse de Jouarre« als eine vermeintlich antiklerikale Kundgebung auf die Bühne gebracht, aber nur vorübergehend, während man sich in Frankreich mit der Wahrnehmung der Thatsache begnügt, daß die Neugier Renans sich unablässig auch auf Gebiete ausdehnt, die ihr bisher verschlossen schienen.
Schon eher bühnenfähig wäre die neueste dramatische Arbeit Octave Feuillets: »Le divorce«, allein es ist anzunehmen, daß der beliebte Schriftsteller nicht mit der Veröffentlichung in der »Revue des Deux Mondes« und in Buchform begonnen hätte, wenn er einen andern Ruhm anstrebte als den, möglichst viele Leserinnen der Ehescheidung abwendig zu machen. Solange diese erst in Aussicht stand, war die Polemik auf dem Theater [* 13] und im Roman eine sehr lebhafte und ernste.
Jetzt aber, seitdem das Gesetz wieder in Kraft [* 14] getreten ist, übt sich vorwiegend der Witz der Bühnendichter daran, denen er einen noch unerschöpften Stoff zu komischen Situationen liefert, wie z.B. in »Gotte« von Henri Meilhac, in »Les surprises du divorce« von Al. *Bisson und Antony Mars. [* 15] »Un divorce« von Emile Moreau und Georges André faßt hingegen die Sache tragisch auf, während »Le divorce de Sarah Moore« von Jacques Rozier sie von der amerikanischen Seite zwar mit beabsichtigtem Ernst, aber in so grellen Farben und unwahrscheinlichen Verwickelungen zeigt, daß das französische Publikum im Odéon dabei nicht minder lachte als bei den ersten Aufführungen von Sardous »Divorçons!« im Palais-Royal.
Der Verfasser, oder richtiger die Verfasserin, des »Divorce de Sarah Moore« (Frau Paton) hatte sich durch den Erfolg des gleichnamigen Romans über die Möglichkeit, in einer raschen Handlung seltsame Seelenzustände zu beleuchten, hinwegtäuschen lassen, ein Irrtum, den immer mehr Schriftsteller, und von den bekanntesten, mit ihr teilen. Wenn das so fortgeht, so dürfte bald ein Roman, aus dem niemand ein Theaterstück herauszuschneiden sucht, eine Seltenheit werden.
Daudet hat »Sapho« und »Numa Roumestan« aufführen lassen (»L'Immortel« u. d. T.: »La lutte pour la vie«, »Der Kampf ums Dasein«, ist ebenfalls schon angekündigt). Ed. de Goncourt »Renée Mauperin« und »Germinie Lacerteux«, Zola »Le ventre de Paris«, [* 16] »Renée«, »Germinal«, Alex. Dumas »L'affaire Clémenceau« (von Armande Dartois bearbeitet). André Theuriet »Raymonde«, »La maison des deux Barbeaux«, Jules Claretie »Le prince Zilah«, Jules de Glouvet »Le père«, Bourget »Les Mensonges«, Jules Verne »Mathias Sandorf«, Albert Delpit »Mademoiselle de Bressier«, Ludovic Halévy »L'abbé Constantin«, Georges Ohnet »Comtesse Sarah«, »La grande Marnière«, und man kann wohl sagen, daß außer den letztgenannten Werken Ohnets ¶