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widerstrebt. Ganz anders »Le [* 2] Rêve«, durch welchen der Verfasser den Beweis erbringen wollte, daß er sich auf Unschuld und Reinheit versteht. Er hat aber sein Wort nur halb gelöst, obwohl er sich die größte Mühe gab, in eine tugendhafte, fromme Umgebung ein Findelkind zu versetzen, das von der Welt nichts kennt und sie nur im Licht [* 3] alter Legenden schaut. Das wunderliche Wesen entbrennt in Liebe zu einem schönen, jungen Mann aus fürstlichem Geschlecht, Sohn des Erzbischofs, welcher Berge von Hindernissen überwindet, um die aus Kummer kranke Braut zum Altar [* 4] zu führen.
Nachdem so das Erträumte sich verwirklicht hat, gibt sie beseligt im ersten Kuß den Geist auf. Die Behandlung eines solchen Gegenstandes liegt nicht in den Mitteln Zolas; denn wo er zart sein wollte, wurde er zimperlich, das Gefühl artete in Empfindelei aus, und wo er mit Unschuld und Reinheit zu prangen meinte, verletzte er alle Begriffe von Züchtigkeit. Zudem ist das Buch in lästiger Weise vollgepfropft mit technischen Ausführungen über die Stickerei von Kirchengewändern, wie Germinal über Bergbau [* 5] und wie sein neuester Roman: »La bête humaine«, dem Leser alle Einzelheiten des Eisenbahnbetriebs vergegenwärtigen soll. Im »Vertierten Menschen« erzählt Zola einen Mord, ähnlich dem des Präfekten Barème, dessen Urheber noch nicht ermittelt ist.
Paul *Bourget, der sich nunmehr mit Zola in den Ruhm teilt, an der Spitze des französischen Romans zu schreiten, ist eine ganz anders angelegte Natur, berechnend, wo der andre rücksichtslos vorgeht, einen besondern Leserkreis berücksichtigend, wo Zola für alle oder auch für niemand, wohl aber für sich selbst schreibt, in zarten Schattierungen aufgehend, während Zola sich nur in grellen Farben gefällt. Der Verfasser der »Rougon-Macquart« entwirft eine weitläufig angelegte Familiengeschichte, welche in den politischen Geschicken Frankreichs fußt und in allen Schichten der Bevölkerung [* 6] spielt, wie die Glieder [* 7] eines bürgerlichen Geschlechts in Wirklichkeit nach allen Richtungen verschlagen werden können.
Bourget hingegen beschränkt sich auf eine gewisse raffinierte Gesellschaft, in welche die hohe Aristokratie nur gelegentlich hineinragt, die aber vorwiegend aus Finanzleuten, Gelehrten, müßigen, luxusliebenden, krankhaft empfindsamen Frauen besteht. Diese Frauen sündigen nicht leichtsinnig oder mutwillig wie die Heldinnen andrer Ehebruchromane. Entweder sie lassen sich von unbezwingbaren Trieben verleiten, oder sie philosophieren wie vollendete Pessimistinnen, gelehrige Schülerinnen ihres Schöpfers, der für sie ein nachsichtiger, alle ihre Schwächen mit Schmerz wahrnehmender, aber für alle Absolution erteilender Beichtiger ist.
Damit hat sich Bourget in Kreisen, denen seine kritischen Werke eine zu mühsame Lektüre waren, beliebt gemacht und in wenigen Jahren eine vielbeneidete Stellung errungen. Seine Romane weisen kaum eine äußere Handlung auf;
sie sind nur Psychologie und drehen sich fast immer um eine heikle Lage, »Cruelle énigme«, wie »Crime d'amour« und »Mensonges«;
hier um eine Frau, welche, um ihrem Luxus zu frönen, ihren Mann betrügt, zugleich aber auch den Liebhaber, aus dessen Beutel [* 8] sie schöpft;
dort ein Lebemann, der die Frau seines Freundes verführt und sie verläßt, weil er ihre hingebende Naivität mißdeutet;
in »Cruelle énigme« eine junge Witwe, welche mitten in einer romantischen Leidenschaft niedrige Untreue übt.
Über solche »grausame Rätsel« schreibt Bourget geistreiche, scharfsinnige und spitzfindige Abhandlungen voll fatalistischen Glaubens, an dem sich seine Andächtigen erbauen. Wo er an verwickeltere Probleme herantritt, wie in »André Cornélis«, dem Sohn erster Ehe, der den Stiefvater unerbittlich verfolgt, bis er in ihm den Mörder seines Vaters entdeckt und züchtigt, und »Le Disciple«, da hat die Erfindungsgabe Bourgets geringern Anteil als die Gerichtschronik; denn wie »André Cornélis« auf die Affaire Peltzer, so ist »Le Disciple« auf den Fall Chambige zurückzuleiten: ein junger Mann, der sich von den Irrlehren eines Sophisten verblenden läßt, verführt die Tochter der Familie, in der er als Hauslehrer wirkt, bestärkt sie in ihrer Überspanntheit, bis sie ihm unbequem wird und sie sich allein den gemeinsam geplanten Tod gibt.
Bourget (das stellt niemand in Abrede) bewährt sich im Roman als der Kritiker, der die verwickeltsten Erscheinungen der modernen Litteraturgeschichte bis in ihre verborgensten Falten erforscht und ans Licht gezogen hat. Seine Erzeugnisse haben jedoch das Unerfreuliche, Ungesunde seiner Weltanschauung und werden mit ihrer Gleichgültigkeit für Gute und Böse, mit ihrem weinerlichen »à quoi bon?« ebensowenig zu der von allen ernst gesinnten Franzosen angestrebten sittlichen Hebung [* 9] der Nation beitragen, als sie mit ihrem gewundenen, manierierten, gequälten Stil der französischen Sprache [* 10] ein ihrer würdiges Denkmal setzen.
Was bei Guy de Maupassant im Beginn seiner Laufbahn stellenweise Brutalität war, hat sich allmählich zur selbstbewußten Kraft [* 11] abgeklärt. Wohl gefällt er sich noch manchmal in Derbheiten, wenn er normännische Dorfgeschichten oder Matrosenabenteuer erzählt; aber es ist gewollt, und wieder braucht er nur zu wollen, um in maßvoller Form die ergreifendsten Erlebnisse, die erschütterndsten Seelenvorgänge zu schildern, wie er dies in »Pierre et Jean« und in »Fort comme la mort« gethan. In diesem letztern Roman, einem Muster der Erzählungskunst, hat er mit anerkennenswertem Takt eine schmerzliche Herzensgeschichte vorgeführt, die Nebenbuhlerschaft zwischen Mutter und Tochter, von der diese übrigens nichts ahnt, wobei es ihm zum erstenmal begegnete, daß er aus seiner Objektivität heraustrat und durch seine eigne Teilnahme das Mitgefühl der Leser noch erhöht.
Sonst ist von neuen Talenten, die sich in den letzten Jahren hervorgethan, nichts zu melden; aber viele der ältern machen ihrem Ruf Ehre, voran Ferdinand Fabre wie Alphonse Daudet und nach ihnen in bunter Reihe Octave Feuillet, Cherbuliez, André Theuriet, Hector Malot und andre. Ferdinand Fabre, dessen Schaffen sich zwischen die Kirche und seine heimischen Cevennen teilt, so daß man von ihm »L'abbé Tigrane«, den Priesterroman ohne eine Frauengestalt, und das reizende Idyll »Julien Savignae« hat, ist dieser doppelten Richtung treu geblieben mit »Lucifer« einerseits, einem gewaltigen Drama, das in den Einrichtungen der katholischen Kirche fußt und den titanenhaften Kampf zwischen dem freisinnigen Gallikanismus und dem Jesuitentum in der Gestalt des Abbe Joursier beschreibt, und anderseits mit den ländlichen Erzählungen »Monsieur [* 12] Jean« und »Norine«.
Beide Richtungen vereinigen sich in »Ma vocation«, dem von poetischem Hauch durchglühten, Spuren tiefen Gefühls und heftigen Ringens tragenden Tagebuch des Verfassers aus den Jahren, da er sich selbst im kleinen und dann im großen Seminar auf den Priesterstand vorbereitete, dessen Lasten und Opfer er nicht auf sich zu nehmen vermochte. Nach diesen Bekenntnissen gedenkt Fabre seine litterarischen Erinnerungen zu veröffentlichen, wie Alphonse Daudet dies bereits that in seinen »Trente ans de Paris«, [* 13] welche nach allem, was sein ¶
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Bruder Ernest schon über dieses Thema geschrieben hatte, viel hinlänglich Bekanntes enthielt. »Sapho« und »L'Immortel«, die letzten Romane Daudets, sind der eine die lebhaft entworfene Geschichte eines Unglücklichen, welcher unrettbar dem Zauber einer Sirene [* 15] verfällt, der andre eine Satire auf die französische Akademie, über deren Berechtigung sich streiten läßt, deren Herbheit aber bei einer höchst pessimistisch gefärbten, wenn auch spannend vorgetragenen Fabel alle Billigdenkenden unangenehm berührte.
Die Stellung Daudets ist heute eine unanfechtbare; was er auch schreiben mag, er wird immer Hunderttausende finden, die ihn lesen und auf ihn schwören, aber das hindert nicht, daß der künstlerische Gehalt seiner Werke immer mehr der Reklamensucht weicht. Victor Cherbuliez fährt in »La Bête« und im »Comte Ghislain« fort, wunderliche Käuze zu schildern, während Jules de Glouvet (Pseudonym des Generalstaatsanwalts Quesnay de Beaurepaire) gesellschaftlichen Studien vom Standpunkt eines Juristen erweitert, in »Le Père« die Lage eines Vaters ergründet, der keine gesetzlichen Ansprüche auf seine Tochter hat, und in »La fille adoptive« einen Erbschaftshandel mit mehr Fachkenntnis als schöpferischer Phantasie verarbeitet.
Mit »Marie Fougère«, die er zuerst unter dem neuen Pseudonym Lucie Herpin herausgab, griff er den Naturalismus scharf an und mußte sich dafür die Anfeindungen eines Teils der Presse [* 16] in dem Augenblick gefallen lassen, da er zum öffentlichen Ankläger Boulangers ernannt wurde. Octave Feuillet, einst der Lieblingsschriftsteller des Tuilerienhofs, der den Gesellschaftsroman mit Vorliebe pflegte, hatte infolge eines traurigen Familienereignisses lange geschwiegen und überraschte, als er mit »La Morte« wieder vor die Öffentlichkeit trat, durch die Schärfe der Polemik, welche er darin gegen die freidenkerische Frauenerziehung führte.
»La Morte« ist verwandt mit Henrik Ibsens »Nora,«, nur daß der norwegische Dichter seiner Heldin mit liebevoller Teilnahme folgt, während Feuillet die seinige verabscheut und dies in ihrem ganzen Thun und Lassen zeigt, in ihrer gewaltsamen Durchführung des Satzes, daß der Schwächere in der Natur und Gesellschaft dem Stärkern weichen muß, wie in ihrem schmählichen Ende. Unter dem Kaiserreich hieß Feuillet mit einem Wortspiel, das Sainte-Beuve in einem seiner »Lundis« vor die Öffentlichkeit gebracht hatte, le Musset de familles; jetzt heißt Henri Rabusson, der Verfasser von »Le roman d'un fataliste«, »Un homme d'aujourd'hui, «Le mari de Madame d'Orgevault" der »Sous-Feuillet«, weil auch er, dem übrigens Phantasie und Darstellungskunst eignen, sich nur in der aristokratischen Gesellschaft bewegt und sich etwas darauf zu gute thut, ihre Gesetze wie ein Zeremonienmeister zu kennen, ihren Vorurteilen wie ein Priester seiner Religion zu dienen.
Gegen Hector Malots Roman »Conscience« wurde vielfach der Einwand erhoben, derselbe gleiche in den Hauptzügen Dostojewskijs »Verbrechen und Sühne«, und der Verfasser selbst gab dies von dem Ausgangspunkt zu: ein Gebildeter, der das Recht des Stärkern geltend macht und sich durch die Ermordung eines Wucherers die Summe verschafft, deren er zur Vollendung seiner Studien bedarf. Während aber der Nihilist Rodion, ein kaum der Barbarei entwachsener Russe, von mystischem Schrecken gefoltert, einer Dirne sein Verbrechen beichtet und ihr gehorcht, als sie in ihn dringt, daß er sich den Gerichten stelle, wähnt der einer ältern Kultur entstammte Arzt Saniel, wie Malot in dem zweiten Teil seines Werkes, »Justice«, zeigt, durch philanthropisches Wirken lasse sich das Geschehene tilgen. Er gibt den Armen und Unglücklichen tausendfach zurück, was er gestohlen hat; aber der Fluch der bösen That verfolgt ihn, und er verfällt dem Scharfrichter, nicht um seines Verbrechens willen, sondern weil das Bewußtsein desselben ihm nicht gestattet, eine andre Schuld, die ihm zur Last gelegt wird, von sich abzuwälzen.
Anläßlich von »Verbrechen und Sühne« mag der Umstand Erwähnung finden, daß seit einigen Jahren in der gebildeten französischen Lesewelt, die sonst von ausländischer Litteratur nur wenig kennt, eine starke Neigung für den russischen Roman zu Tage tritt. Dieselbe wurde wachgerufen durch Iwan Turgenjew, der bekanntlich die letzten Jahre seines Lebens hier verbrachte und seine Romane teilweise in französischer Ausgabe zugleich mit der russischen erscheinen ließ.
Die politischen Sympathien thaten dann das übrige, um den Aufsätzen des jetzigen Akademikers, Melchior de Vogüé, über russische Litteratur, den Übersetzungen von Tolstoi, Dostojewskij u. a. Eingang zu verschaffen, während neben diesen Frau Henry Gréville, welche ihren Landsleuten Rußland und die Russen in einer faßlichern Form erzählt, wie in »Cléopâtre«, »Nikanor«, »Louk Loukitch« stets ihr aufmerksames und dankbares Publikum hat. Gleich Albert Delpit gehört auch André Theuriet zu den beliebten Tagesschriftstellern, den Stützen der »Revue des Deux Mondes«, die sich stets in denselben Kreisen bewegen, der erstere mit »Paule de Brussanges«, »Catherine Levallier«, »Disparu« wie der letztere mit »La vie rustique«, »L'affaire Froideville«, »L'amoureux de la préfète«, »Amour d'automne«, »Contes de la vie intime«, wobei nur zu bemerken ist, daß Theuriet, der sich lange in der Vogesengegend gefiel, jetzt die Handlung seiner Romane nach Savoyen verlegt, wo er einen Teil des Jahrs zubringt und sein Talent aufgefrischt zu haben scheint.
Pierre Loti, unter den jüngern Schriftstellern einer von denen, welchen das Glück hold war, bevorzugt als Marineoffizier die Schilderung fremder Länder und Sitten, wenn er nicht, wie im »Pêcheur d'Islande«, die heimische Bretagne und die Meere, welche die dortigen Schiffe [* 17] besuchen, zum Schauplatz einer schlichten Herzensgeschichte macht, wohl das vollkommenste Werk, das man von ihm besitzt, maßvoll in den Beschreibungen und von tiefer Empfindung durchdrungen.
Außerdem bot er noch »Madame Chrysanthème«, gewissermaßen eine Fortsetzung der Liebesabenteuer des Seemanns, welcher an den verschiedensten Küsten, hier in Japan, [* 18] nach Landesbrauch vorübergehend eine Lebensgefährtin nimmt, nach der braunen eine schwarze und dann eine gelbe, ein zierliches, sanftes Wesen, das zu einem Fetisch betet und dem Interimsgatten Zweifel einflößt, ob dem Weibchen auch ein Seelchen innewohne. Hier liegt das Interesse lediglich im Nebensächlichen, in der Darstellung einer Welt, wo alles klein und zart ist, wie die Menschen so die Tiere, Pflanzen, Geräte, Farben, eine Darstellung, die man noch weiter ausgeführt und feiner entwickelt findet in zwei Bänden von Stimmungsbildern: »Japoneries d'automne« und »Propos d'exil«. Unter den heutigen Vielschreibern, die stets litterarisch bleiben im Gegensatz zu den Feuilletonlieferanten der Soublätter wie A. Bouvier, Richebourg, Jules Mary, René Maizeroy, Xavier de Montépin u. a. m., sind um der Vollständigkeit willen zu nennen Georges Ohnet, (Frau) Georges de Peyrebrune, Hugues Le Roux, Chroniqueur des »Temps« und Verfasser eines Cyklus von Romanen, in denen ¶