bedenkliche Erfolge. Der Mangel an
Festigkeit
[* 2] und bewußter
Stärke
[* 3] der
Regierung gegenüber der wetterwendischen öffentlichen
Meinung zeigte sich auch bei einem im
Februar 1890 sich ereignenden
Vorfall. Der
Herzog von
Orléans
[* 4] (s. d., Bd.
17) kam plötzlich nach
Paris,
[* 5] um sich in die Rekrutenliste einschreiben zu lassen, wurde aber aufGrund
des gegen die
Prinzen erlassenen Ausweisungsgesetzes verhaftet und zu zwei
Jahren Gefängnis verurteilt. Der durchaus ungefährliche
Streich wurde meist nachsichtig beurteilt, und die
Regierung hatte die Absicht, den
Prinzen sogleich zu begnadigen und ohne
Aufsehen über die
Grenze schaffen zu lassen. Da verlangten aber die radikalen Sozialisten in derKammer,
daß für die wegen gemeiner
Verbrechen verurteilten ausständischen
Arbeiter ebenfalls
Amnestie erlassen werde, und wenngleich
die
Kammer den
Antrag, übrigens nicht mit bedeutender Mehrheit, ablehnte, wagte das
Ministerium doch nicht, seine erste Absicht
auszuführen, und ließ den
Herzog von
Orléans ins Gefängnis zu
Clairvaux bringen. Bei dieser
Schwäche derRegierung
gegen jede radikale oder chauvinistische
Empfindlichkeit konnte sie auch keine unabhängige und offene auswärtige
Politik
verfolgen, sondern mußte froh sein, daß die friedlichen
Gesinnungen der übrigen Mächte ihr eine vorsichtige Zurückhaltung
ermöglichten.
Litteratur (1884-1889).
Einer Besprechung des litterarischen
Schaffens der letzten fünf Jahre in
Frankreich
auf dem Gebiet des
Romans und der
Novelle darf die Feststellung der
Thatsache vorausgeschickt werden, daß
die leidenschaftliche
Bewegung für und wider den
Naturalismus sich vollständig gelegt hat und dieser heute nur noch den Platz
einnimmt, der einer durch
Zola vertretenen
Gattung gebührt. Er allein kämpft den
Kampf mutig weiter, während seine frühern,
übrigens minder begabten Mitstreiter entweder gestorben sind, wieVast und Ricouard, oder die
Waffen
[* 16] niedergelegt
haben, wie
PaulAlexis, oder aber auf neuen
Bahnen wandeln, wie
Guy deMaupassant, welcher gewissermaßen als Bindeglied zwischen
dem
Naturalismus und den »Analytikern« steht, deren
Führer und Vorbild
PaulBourget (s. d., Bd.
17) ist.
Miteinander gemein haben die naturalistische und die analytischeSchule den gänzlichen Mangel an
Phantasie
und Erfindungsgabe; aber während die eine ihr Augenmerk hauptsächlich auf die
Beschreibung der
Außenwelt von ihrer abstoßendsten
Seile und die Erforschung der tierischen
Triebe im
Menschen richtet, setzt die andre die
Lupe
[* 17] auf, um das Krankhafte im Seelenleben,
alle
Erscheinungen der
Nervosität bis zur Zerrüttung des
Nervensystems, welche ihre
Opfer unzurechnungsfähig
macht, zu studieren.
(Über die mit * Schriftsteller sind die betreffenden
Biographien in vorliegendem
Band
[* 18] zu vergleichen.)
Von den neuesten Werken
Zolas:
»Germinal«, »L'Œuvre«, »La
Terre«, »Le
[* 19]
Rêve« gehören erstere in den Bereich seiner schon bekannten Bestrebungen. Im
»Germinal« schildert er
das
Leben der Grubenarbeiter Nordfrankreichs mit hinreißender
Gewalt und zeigt in dem düstern
Rahmen umnachteten
Denkens und
Empfindens einer viehischen
Horde die Greuel eines Arbeiterausstandes, als dessen Haupturheber ein
Nihilist auftritt. »La
Terre«
bildet das Seitenstück zu dem Grubendrama, eine Bauernfamilie, in der aus
Gier nach Grundbesitz die unsäglichsten Roheiten
begangen werden, welche endlich in einem
Verbrechen gipfeln: der Sohn, der den
Hof
[* 20] übernommen hat, tötet mit seiner
Frau den
Vater und verbrennt ihn auf dem Küchenherd.
Was die Gerichtszeitungen jemals über Bauerngeiz und
-Habsucht berichteten, ist hier zu einem Ganzen verwebt, in dem überdies
die widerwärtigste Skurrilität sich auf jeder Seite spreizt. Die stimmungsvolle
Beschreibung der
Beauce
aber, der Landarbeiten, die er mit antiker
Größe darstellt, hat er aus echtem Künstlertum geschöpft,
und sie sind es, welche
dem häßlichen
Buch trotz allem die Existenzberechtigung sichern. In »L'Œuvre« wiederum
ist die
Künstler- und Schriftstellergesellschaft geschildert, welcher
Zola im Beginn seiner Laufbahn angehörte.
Der
Held des
Buches, ein Sprößling der
Familie Rougon-Macquart, hat in der ersten
Liebe und
Begeisterung für ein Mädchen ein
Bild gemalt, von
dem er sich nicht zu trennen vermag, das sein einziges Werk bleibt, an dessen Änderung und Verbesserung er
sein ganzes
Leben hingibt, bis
er an dem
Grübeln und dem Müßiggang verdirbt und sich erhängt, nachdem
er
Weib und
Kind ins
Elend gestürzt hat. Von allen diesen Werken
Zolas läßt sich dasselbe sagen: es sind gewaltige, trostlose
Gemälde, welche helle Geistesblitze durchzucken und stellenweise durch die Darstellungskunst auch die fesseln, denen die
Art der Auffassung
¶
mehr
widerstrebt. Ganz anders »Le Rêve«, durch welchen der Verfasser den Beweis erbringen wollte, daß er sich auf Unschuld und
Reinheit versteht. Er hat aber sein Wort nur halb gelöst, obwohl er sich die größte Mühe gab, in eine tugendhafte, fromme
Umgebung ein Findelkind zu versetzen, das von der Welt nichts kennt und sie nur im Licht
[* 22] alter Legenden schaut.
Das wunderliche Wesen entbrennt in Liebe zu einem schönen, jungen Mann aus fürstlichem Geschlecht, Sohn des Erzbischofs, welcher
Berge von Hindernissen überwindet, um die aus Kummer kranke Braut zum Altar
[* 23] zu führen.
Nachdem so das Erträumte sich verwirklicht hat, gibt sie beseligt im ersten Kuß den Geist auf. Die Behandlung
eines solchen Gegenstandes liegt nicht in den MittelnZolas; denn wo er zart sein wollte, wurde er zimperlich, das Gefühl artete
in Empfindelei aus, und wo er mit Unschuld und Reinheit zu prangen meinte, verletzte er alle Begriffe von Züchtigkeit. Zudem
ist das Buch in lästiger Weise vollgepfropft mit technischen Ausführungen über die Stickerei von Kirchengewändern, wie Germinal
über Bergbau
[* 24] und wie sein neuester Roman: »La bête humaine«, dem Leser alle Einzelheiten des Eisenbahnbetriebs vergegenwärtigen
soll. Im »Vertierten Menschen« erzählt Zola einen Mord, ähnlich dem des Präfekten Barème, dessen Urheber noch
nicht ermittelt ist.
Paul *Bourget, der sich nunmehr mit Zola in den Ruhm teilt, an der Spitze des französischen Romans zu schreiten, ist eine ganz
anders angelegte Natur, berechnend, wo der andre rücksichtslos vorgeht, einen besondern Leserkreis berücksichtigend, wo
Zola für alle oder auch für niemand, wohl aber für sich selbst schreibt, in zarten Schattierungen aufgehend,
während Zola sich nur in grellen Farben gefällt. Der Verfasser der »Rougon-Macquart« entwirft eine
weitläufig angelegte Familiengeschichte, welche in den politischen GeschickenFrankreichs fußt und in allen Schichten der
Bevölkerung
[* 25] spielt, wie die Glieder
[* 26] eines bürgerlichen Geschlechts in Wirklichkeit nach allen Richtungen verschlagen werden
können.
Bourget hingegen beschränkt sich auf eine gewisse raffinierte Gesellschaft, in welche die hohe Aristokratie nur gelegentlich
hineinragt, die aber vorwiegend aus Finanzleuten, Gelehrten, müßigen, luxusliebenden, krankhaft empfindsamen Frauen besteht.
Diese Frauen sündigen nicht leichtsinnig oder mutwillig wie die Heldinnen andrer Ehebruchromane. Entweder sie lassen sich
von unbezwingbaren Trieben verleiten, oder sie philosophieren wie vollendete Pessimistinnen, gelehrige
Schülerinnen ihres Schöpfers, der für sie ein nachsichtiger, alle ihre Schwächen mit Schmerz wahrnehmender, aber für alle
Absolution erteilender Beichtiger ist.
Damit hat sich Bourget in Kreisen, denen seine kritischen Werke eine zu mühsame Lektüre waren, beliebt gemacht und in wenigen
Jahren eine vielbeneidete Stellung errungen. Seine Romane weisen kaum eine äußere Handlung auf;
sie sind
nur Psychologie und drehen sich fast immer um eine heikle Lage, »Cruelle énigme«, wie »Crime d'amour« und »Mensonges«;
hier
um eine Frau, welche, um ihrem Luxus zu frönen, ihren Mann betrügt, zugleich aber auch den Liebhaber, aus
dessen Beutel
[* 27] sie schöpft;
in »Cruelle énigme« eine junge Witwe, welche mitten in einer romantischen Leidenschaft niedrige Untreue
übt.
Über solche »grausame Rätsel« schreibt Bourget geistreiche, scharfsinnige und spitzfindige Abhandlungen voll fatalistischen
Glaubens, an dem sich seine Andächtigen erbauen. Wo
er an verwickeltere Probleme herantritt, wie in »André Cornélis«, dem
Sohn erster Ehe, der den Stiefvater unerbittlich verfolgt, bis er in ihm den Mörder seines Vaters entdeckt und züchtigt, und
»Le Disciple«, da hat die Erfindungsgabe Bourgets geringern Anteil als die Gerichtschronik; denn wie »André
Cornélis« auf die Affaire Peltzer, so ist »Le Disciple« auf den Fall Chambige zurückzuleiten: ein junger Mann, der sich von
den Irrlehren eines Sophisten verblenden läßt, verführt die Tochter der Familie, in der er als Hauslehrer wirkt, bestärkt
sie in ihrer Überspanntheit, bis sie ihm unbequem wird und sie sich allein den gemeinsam geplanten Tod
gibt.
Bourget (das stellt niemand in Abrede) bewährt sich im Roman als der Kritiker, der die verwickeltsten Erscheinungen der modernen
Litteraturgeschichte bis in ihre verborgensten Falten erforscht und ans Licht gezogen hat. Seine Erzeugnisse haben jedoch
das Unerfreuliche, Ungesunde seiner Weltanschauung und werden mit ihrer Gleichgültigkeit für Gute und
Böse, mit ihrem weinerlichen »à quoi bon?« ebensowenig zu der von
allen ernst gesinnten Franzosen angestrebten sittlichen Hebung
[* 28] der Nation beitragen, als sie mit ihrem gewundenen, manierierten,
gequälten Stil der französischen Sprache
[* 29] ein ihrer würdiges Denkmal setzen.
Was bei Guy deMaupassant im Beginn seiner Laufbahn stellenweise Brutalität war, hat sich allmählich
zur selbstbewußten Kraft
[* 30] abgeklärt. Wohl gefällt er sich noch manchmal in Derbheiten, wenn er normännische Dorfgeschichten
oder Matrosenabenteuer erzählt; aber es ist gewollt, und wieder braucht er nur zu wollen, um in maßvoller Form die ergreifendsten
Erlebnisse, die erschütterndsten Seelenvorgänge zu schildern, wie er dies in »Pierre et Jean« und in
»Fort comme la mort« gethan. In diesem letztern Roman, einem Muster der Erzählungskunst, hat er mit anerkennenswertem Takt eine
schmerzliche Herzensgeschichte vorgeführt, die Nebenbuhlerschaft zwischen Mutter und Tochter, von der diese übrigens nichts
ahnt, wobei es ihm zum erstenmal begegnete, daß er aus seiner Objektivität heraustrat und durch seine
eigne Teilnahme das Mitgefühl der Leser noch erhöht.
Sonst ist von neuen Talenten, die sich in den letzten Jahren hervorgethan, nichts zu melden; aber viele der ältern machen
ihrem RufEhre, voran FerdinandFabre wie Alphonse Daudet und nach ihnen in bunter Reihe Octave Feuillet, Cherbuliez,
AndréTheuriet, Hector Malot und andre. FerdinandFabre, dessen Schaffen sich zwischen die Kirche und seine heimischen Cevennen
teilt, so daß man von ihm »L'abbé Tigrane«, den Priesterroman ohne eine
Frauengestalt, und das reizende Idyll »Julien Savignae« hat, ist dieser doppelten Richtung treu geblieben mit
»Lucifer« einerseits, einem gewaltigen Drama, das in den Einrichtungen der katholischen Kirche fußt und den titanenhaften Kampf
zwischen dem freisinnigen Gallikanismus und dem Jesuitentum in der Gestalt des Abbe Joursier beschreibt, und anderseits mit
den ländlichen Erzählungen »Monsieur
[* 31] Jean« und »Norine«.
Beide Richtungen vereinigen sich in »Ma vocation«, dem von poetischem Hauch durchglühten, Spuren tiefen
Gefühls und heftigen Ringens tragenden Tagebuch des Verfassers aus den Jahren, da er sich selbst im kleinen und dann im großen
Seminar auf den Priesterstand vorbereitete, dessen Lasten und Opfer er nicht auf sich zu nehmen vermochte. Nach diesen Bekenntnissen
gedenkt Fabre seine litterarischen Erinnerungen zu veröffentlichen, wie Alphonse Daudet dies bereits that
in seinen »Trente ans de Paris«, welche nach allem, was sein
¶