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September und der neue italienische Ministerpräsident Crispi im Oktober eine Konferenz mit Bismarck in Friedrichsruh, in welcher eine Verständigung über die schwebenden politischen Fragen erzielt wurde. Trotz der Stärkung ihrer Kraft [* 2] durch diesen Dreibund trat die deutsche Politik überall, auch Frankreich und Rußland gegenüber, friedfertig auf und bemühte sich, alle Konflikte versöhnlich beizulegen, wenn auch der andre Teil durch Herausforderungen reizte und die deutsche Geduld auf harte Proben stellte.
Der französische Polizeikommissar Schnäbele (s. d., Bd. 17), welcher eingestandenermaßen wiederholt Elsaß-Lothringer durch Bestechungen zum Landesverrat verleitet hatte und, als er auf Einladung der deutschen Polizei deutsches Gebiet betrat, auf Requisition des Reichsgerichts verhaftet wurde, ward 30. April freigelassen, obwohl die Pariser Presse [* 3] sich in den pöbelhaftesten Schmähungen erging uud das französische Ministerium die Stellung eines Ultimatums an D. nur mit sieben gegen fünf Stimmen ablehnte, obwohl ferner die Prozesse wegen Landesverrats gegen Elsaß-Lothringer, welche von Frankreich bestochen waren, bei dem Reichsgericht zu Leipzig [* 4] immer zahlreicher wurden.
Als der Zar Alexander III., nachdem er den Besuch des Kaisers in Stettin [* 5] während der Manöver unterlassen hatte, auf der Rückreise von Kopenhagen [* 6] den Besuch in Berlin [* 7] abstattete, erbat sich der Reichskanzler eine Audienz bei demselben, um ihn über gewisse Ränke und Umtriebe mit gefälschten Papieren aufzuklären; danach sollte der Reichskanzler hinter dem Rücken Rußlands und im Widerspruch mit seinen offiziellen Depeschen in der bulgarischen Frage eine russenfeindliche Politik getrieben haben.
Bismarck vermochte die Unechtheit der Schriftstücke, welche dem Zaren in Kopenhagen zugesteckt worden waren, und welche nachher (im Dezember) veröffentlicht wurden, nachzuweisen, und der Zar erklärte sich beruhigt und versicherte, daß er die Erhaltung des Friedens wünsche und weder einen Angriff auf Deutschland [* 8] und Österreich [* 9] noch die Teilnahme an einer gegen sie gerichteten Koalition beabsichtige. Indes die Haltung seiner Regierung und die Äußerungen der Presse bewiesen, daß in Rußland eine höchst gereizte Stimmung gegen Deutschland bestand, welche leicht zu einem Krieg führen konnte. Überdies wurden immer mehr Truppen und Kriegsvorräte an der deutschen und österreichischen Grenze Rußlands aufgehäuft.
Die Thronrede, mit welcher v. Bötticher die neue Session des Reichstags eröffnete, schloß daher auch mit den etwas düstern Worten: »Die auswärtige Politik des Kaisers ist mit Erfolg bemüht, den Frieden Europas, dessen Erhaltung ihre Aufgabe ist, durch Pflege der freundschaftlichen Beziehungen zu allen Mächten, durch Verträge und durch Bündnisse zu befestigen, welche den Zweck haben, den Kriegsgefahren vorzubeugen und ungerechten Angriffen gemeinsam entgegenzutreten. Das Deutsche Reich [* 10] hat keine aggressiven Tendenzen und keine Bedürfnisse, die durch siegreiche Kriege befriedigt werden könnten. Die Verfassung sowohl als die Heereseinrichtungen des Reichs sind nicht darauf berechnet, den Frieden unsrer Nachbarn durch willkürliche Angriffe zu stören. Aber in der Abwehr solcher und in der Verteidigung unsrer Unabhängigkeit sind wir stark und wollen wir mit Gottes Hilfe so stark werden, daß wir jeder Gefahr ruhig entgegensehen können«. Diese Verstärkung [* 11] der Wehrkraft sollte das Landwehr- und Landsturmgesetz bewirken, dessen Entwurf dem Reichstag vorgelegt wurde; dasselbe stellte das 1868 aufgehobene zweite Aufgebot der Landwehr wieder her, das alle gedienten Mannschaften (Landwehrleute ersten Aufgebots und Ersatzreservisten) vom 32. - 39. Jahr umfaßte, während die nicht ausgebildeten Ersatzreservisten dem ersten Aufgebot des Landsturms zugewiesen wurden, das zweite Aufgebot des Landsturms alle Mannschaften vom 39. - 45. Jahr enthielt.
Die Kriegsstärke des deutschen Heers wurde durch die neue Formation um ½ Mill. Streiter vermehrt. Die Stimmung im Reichstag hatte sich so geändert, daß außer den Sozialdemokraten sich keine Partei grundsätzlich gegen die neue Vorlage erklärte, welche an einen Ausschuß zu geheimer Beratung überwiesen wurde. Da während des Winters die Kriegsrüstungen Rußlands in seinen Westprovinzen immer bedrohlicher wurden, so sahen sich Deutschland und Österreich veranlaßt, das zwischen ihnen abgeschlossene Bündnis zu veröffentlichen, um zu beweisen, daß dasselbe nur ein Verteidigungsbündnis sei für den Fall, daß Rußland eins der beiden Reiche angreife oder eine andre Macht (Frankreich), welche angreife, sei es in Form einer aktiven. Kooperation, sei es durch militärische Maßnahmen, welche den Angegriffenen bedrohen, unterstütze, daß aber in diesen Fällen die Verbündeten einander mit ihrer ganzen Kriegsmacht beizustehen und den Frieden nur gemeinsam und übereinstimmend zu schließen hätten. Das Bündnis mit Italien [* 12] wurde nicht veröffentlicht, lautete aber wohl ähnlich, nur daß hier Frankrerch als die Macht, von der der Angriff ausgehen könne, angeführt war.
Unter dem Eindruck dieser Veröffentlichung, welche großes Aufsehen hervorrief, begann im Reichstag die zweite Beratung des Wehrgesetzes; mit ihr wurde verbunden die erste Lesung eines neuen Gesetzentwurfs über Aufnahme einer Anleihe von 278 Mill., durch welche für die verstärkte Kriegsmacht der Mehrbedarf an Kriegsmaterial sofort beschafft werden sollte. Die Beratung eröffnete Bismarck mit einer großen Rede, in welcher er einen höchst interessanten Überblick über die auswärtige Politik Preußens [* 13] und Deutschlands [* 14] in den letzten 40 Jahren gab, zwar augenblicklich jede Kriegsbefürchtung für ungegründet erklärte, aber hervorhob, daß bei der geographischen Lage Deutschlands, das drei Angriffsfronten hatte und zwar gegen die kriegerischte und unruhigste Nation, die Franzosen, und gegen Rußland, wo früher nicht vorhandene kriegerische Neigungen groß geworden seien, das Reich militärisch so stark sein müsse, daß es auch jeder Koalition mit Ruhe entgegensehen könne; auch die ältere Landwehr und der Landsturm müßten die besten Waffen [* 15] haben, dann werde Deutschland im Osten und Westen, an jeder Grenze eine Million guter Soldaten haben und noch eine Million im Hinterland, und dieses gewaltige Heer werde Offiziere und Unteroffiziere besitzen, wie sie weder Frankreich noch Rußland an Tüchtigkeit und Menge aufbringen könne.
»Wir wollen nach wie vor den Frieden mit unsern Nachbarn. Frankreich gewährt uns bei diesen Bemühungen keine Sicherheit auf Erfolg, wenngleich ich nicht sagen will, daß es nichts hilft; wir werden nie Händel suchen, wir werden Frankreich nie angreifen. Wir haben in den vielen kleinen Vorfällen, welche die Neigung unsrer Nachbarn, zu spionieren und zu bestechen, verursacht hat, immer eine sehr gefällige und freundliche Beilegung herbeigeführt, weil ich es für ruchlos halten würde, um solcher Lappalien willen einen großen nationalen Krieg zu entzünden. Da heißt es: der Vernünftigere gibt nach. Ich nenne also vorzugsweise Rußland, und da habe ich dasselbe ¶
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Vertrauen auf das Gelingen wie vor einem Jahr. Um Liebe werben wir nicht mehr, weder in Frankreich noch in Rußland. Die russische Presse, die russische öffentliche Meinung hat einem alten, mächtigen und zuverlässigen Freund, der wir waren, die Thür gewiesen. Wir drängen uns nicht auf | Wir können durch Güte und Wohlwollen leicht zu Entschließungen bestimmt werden, vielleicht zu leicht, aber durch Drohungen ganz gewiß nicht. Wir Deutschen fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt.« |
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Die Wirkung dieser mächtigen Rede war, daß der Führer des Zentrums, Freiherr v. Franckenstein, die Verweisung der Anleihevorlage an die Budgetkommission beantragte und schon jetzt erklärte, daß seine Partei den Antrag auf En bloc-Annahme des Wehrgesetzes stellen würde, um damit die Anerkennung und Berücksichtigung der damaligen Gesamtlage zum Ausdruck zu bringen. v.Helldorf (Deutschkonservative), v. Bennigsen (Nationalliberale), Graf Behr (Reichspartei) und Rickert (Deutschfreisinnige) folgten mit ähnlichen Erklärungen, und ohne Widerspruch wurde das Wehrgesetz im ganzen einstimmig angenommen.
Die Anleihevorlage wurde auf Grund der in geheimer Sitzung gemachten Mitteilungen der Regierung von der Kommission und 10. Febr. vom Plenum genehmigt und beide Gesetze sofort veröffentlicht. Von den sonstigen Beschlüssen des Reichstags waren die nochmalige Verlängerung [* 17] des Sozialistengesetzes auf 2 Jahre (17. Febr.) und die auf Antrag der Kartellparteien beschlossene Verlängerung der Legislatur- und Wahlperiode des Reichstags von 3 auf 5 Jahre (9. Febr.) von Bedeutung. Auch das Etatgesetz wurde im März erledigt.
Die patriotische Opferwilligkeit, welche sich in der einstimmigen Annahme des Wehrgesetzes und der Anleihevorlage gezeigt, hatte dem Kaiser Wilhelm noch eine letzte Freude bereitet. Nicht lange darauf starb er, kurz vor Vollendung seines 91. Lebensjahrs. Sein Nachfolger, der bisherige Kronprinz Friedrich Wilhelm, jetzt Kaiser Friedrich III. (s. d., Bd. 17), weilte in San Remo, wohin er zur Heilung seines schweren Leidens sich im Herbst 1887 begeben hatte, ohne freilich den gehofften Erfolg zu finden.
Dennoch reiste er auf die Kunde von dem Tod seines Vaters 10. März von San Remo ab und kam, in Leipzig vom Reichskanzler und vom Staatsministerium erwartet, am späten Abend des 11. März in Charlottenburg [* 18] an. Schon 12. März ergriff er in einer Proklamation »An Mein Volk« von der Herrschaft Besitz und schloß mit den Worten: »Durchdrungen von der Größe Meiner Aufgabe, wird es Mein ganzes Bestreben sein, das Werk in dem Sinn fortzuführen, in dem es begründet wurde, Deutschland zu einem Hort des Friedens zu machen und in Übereinstimmung mit den verbündeten Regierungen sowie mit den verfassungsmäßigen Organen des Reichs wie Preußens die Wohlfahrt des deutschen Landes zu pflegen«. In einem gleichzeitigen Erlaß an den Fürsten Bismarck, dem er sich zu warmem Dank verpflichtet erklärte, legte er ausführlicher die Gesichtspunkte dar, die für die Haltung seiner Regierung maßgebend sein sollten, und für deren Durchführung er auf Bismarcks Hingebung und Unterstützung rechnete.
Diese Gesichtspunkte unterschieden sich nicht wesentlich von denen seines Vaters, und es war unberechtigt, daß die Presse der deutschen freisinnigen Partei dieses Erlasses wegen den neuen Kaiser für ihren Parteigenossen ansah und als solchen überschwenglich feierte. Kaiser Friedrich, wohlwollend und leutselig, in andern Zeiten und andrer Umgebung aufgewachsen und alt geworden als sein Vater, hatte von manchen Dingen eine freiere, tolerantere Auffassung als dieser, war namentlich in der Auswahl seines Verkehrs nicht exklusiv; er sah gern Politiker auch oppositioneller Parteien, Gelehrte und Künstler um sich, und sein Hof [* 19] würde sich nicht so rein militärisch gestaltet haben, wie der Wilhelms I. Aber von einer Minderung seiner monarchischen Machtstellung und seiner kriegsherrlichen Rechte wollte auch er gewiß nichts wissen. Die deutsche freisinnige Partei jedoch, auf einige Äußerungen des ehemaligen Kronprinzen sich stützend und ungeduldig, endlich einmal den Einfluß, den sie unter Kaiser Wilhelm und Bismark verscherzt hatte, bei der Regierung des neuen Herrschers zu gewinnen, ließ nicht ab, ihre Zeit für gekommen zu erklären, und rechnete dabei auf die Unterstützung der Kaiserin Viktoria.
Kaiser Wilhelm I. wurde 16. März in einem imposanten Leichenzug, in welchem alle europäischen Fürstenhäuser vertreten waren, im Mausoleum zu Charlottenburg bestattet. Die Volksvertretungen der meisten Nationen gaben ihrer Verehrung für den dahingeschiedenen großen Monarchen und ihrer Teilnahme an dem Geschick des deutschen Volkes Ausdruck; der Reichstag sprach 19. März seinen Dank dafür aus und richtete als Antwort auf die Botschaft des Kaisers Friedrich 20 März eine Adresse an denselben, worauf seine Sitzungen geschlossen wurden.
Der Kaiser residierte in Charlottenburg und war selten sichtbar. Um so mehr schwirrten Gerüchte über seinen Gesundheitszustand und seine Absichten umher. Die Kaiserin Viktoria wünschte eine schon 1884 geplante, aber damals vom Kaiser Wilhelm I. verhinderte Heirat ihrer Tochter Viktoria mit dem ehemaligen Fürsten von Bulgarien, [* 20] dem Prinzen Alexander von Battenberg, zu stande zu bringen. Fürst Bismarck erhob, als er von dem Plan Mitteilung erhielt, sofort Einspruch, weil durch die Heirat das kaum beschwichtigte Mißtrauen des Zaren wieder erweckt werden müßte, und bat für den Fall, daß der Kaiser darauf bestehe, um seine Entlassung.
Doch ließ Kaiser Friedrich den Heiratsplan vorläufig fallen. Da aber die deutschfreisinnige Presse, die mit dem Hof durch Mackenzie u. a. in Verbindung stand, Bismarck seines Einspruchs wegen aufs heftigste angriff, so entstand eine gewisse Erregung und Besorgnis in nationalen Kreisen, als könne der Reichskanzler wirklich entlassen werden, und es entspann sich ein hitziger, wenig erfreulicher Zeitungsstreit, welcher durch allerlei Klatschereien genährt wurde. Trotz der schönfärbenden Berichte des englischen Arztes Mackenzie über den Gesundheitszustand des Kaisers starb dieser nach einer Regierung von 99 Tagen in Schloß Friedrichskron, wohin er 1. Juni übergesiedelt war. Es war ihm nicht vergönnt gewesen, als Kaiser für das Reich längere Zeit und mit Erfolg zu wirken.
Der neue Kaiser, Wilhelm II., ergriff durch lebhafte Proklamationen an Heer und Marine sofort von der Herrschaft Besitz. Der Übergang derselben fand ohne jede Störung statt. Dennoch hielten es der neue Kaiser und Fürst Bismarck, der das Vertrauen des jugendlichen Herrschers im vollsten Maß genoß, für wünschenswert, in anbetracht der mißgünstigen Gerüchte und Behauptungen in der fremden Presse die Einmütigkeit der deutschen Fürsten und Freien Städte in der Anerkennung des neuen Reichsoberhauptes und dessen friedliche Gesinnung durch einen besonders feierlichen Akt öffentlich zu bekunden. Der Reichstag wurde daher zur Entgegennahme einer kaiserlichen Botschaft auf den 25. Juni einberufen und sämtliche regierende Fürsten und die ¶