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zu sagen allseitig gepflegt wird, hat einen ihrer ersten deutschen Meister in Theodor Storm verloren, nicht ohne daß derselbe noch in seinen letzten erzählenden Schöpfungen, namentlich in der ergreifenden, lebenswarmen und tiefen Novelle »Der Schimmelreiter«, als ganzer Dichter und echter Erzähler sich erwies. Von sonst anerkannten Vertretern der künstlerischen, poetisch-lebensvollen Novelle veröffentlichte Paul Heyse wiederum einige Bände seiner Novellen, unter denen einzelne (wie »Himmlische und irdische Liebe«) zu den besten Gebilden des Dichters zu rechnen sind.
Der immer jugendfrische H. W. Riehl gab in der Sammlung »Lebensrätsel« aufs neue ein paar seiner besten Erzählungen. Von entschiedener poetischer Begabung zeugten die »Neuen Dorf- u. Schloßgeschichten« von Marie Ebner-Eschenbach. Neben der anerkannten Novellistin verdienen die prächtigen »Hamburger Novellen« von Ilse Frapan, die auf weimarischen Traditionen beruhenden höchst lebendigen »Ratsmädelgeschichten« von Helene Böhlau mit aller Anerkennung hervorgehoben zu werden.
Ihnen schlossen sich die schwäbischen »Aus meiner Heimat« von H. Villinger an. In »Wolken und Sonnenschein« sammelte ein Dichter von Kraft [* 2] und Eigentümlichkeit wie Lud. Anzengruber, der trotz des stärksten Realismus die Poesie nicht verleugnet, seine leider letzten Dorfgeschichten. Mit allen Reizen poetischer Kleinmalerei wirkten die »Vorstadtgeschichten« von Heinrich Seidel, die »Waldnovellen« von Jul. Stinde, die Novellen »Schicksale« von Ferd. v. Saar, die »Kleinen Geschichten von Richard Leander-Volkmann. Aus der modernen Gesellschaftswelt schöpfte in seinen "Neuen Novellen« Ernst v. Wildenbruch, in einer Reihe von einzelnen und gesammelten Novellen Alfred Friedmann und zahlreiche andre; in den Kreis [* 3] der Dialektpoesie trat Richard Weitbrecht mit »Allerhand Leut', Schwobagschichta« zurück.
Geschichtliche und biographische Litteratur.
Auf dem Gebiet der Litteratur-, der Kunstgeschichte, der Geschichte und Biographie herrschte zwar auch in der vorliegenden Periode der Trieb zur Einzelforschung, zur genauen urkundlich nicht bloß belegten, sondern in den Urkunden selbst vorgeführten Wahrheit entschieden vor und schränkte die Zahl der Werke, die nach dem Vorzug künstlerischer Darstellung strebten, mehr und mehr ein; gleichwohl sind auch aus neuester Zeit eine Anzahl Werke zu verzeichnen, die der Nationallitteratur im engern Sinn eingereiht werden müssen.
Voran sieht hier Heinrich v. Treitschke »Deutsche [* 4] Geschichte im 19. Jahrhundert«, die bis zum Schluß des vierten Bandes gedieh, gleich sehr durch die Macht und den Stolz vaterländischer Gesinnung, die warme Lebensfülle, den Farbenreichtum ihrer Erzählung, den Reiz eines ganz individuellen, männlichen Stils, den Scharfblick eines gebornen Politikers und die ganze Gründlichkeit eines ernsten Forschers ausgezeichnet, die Entwickelung des geistigen wie die des realen Lebens der Nation mit gleichem Anteil begleitend, aber freilich weit von der kühlen Objektivität entfernt, die das Ideal so vieler Historiker geworden ist.
Ein gewaltiges Stück vaterländischer Geschichte behandelte Heinrich v. SybelSybel in »Die Begründung des Deutschen Reichs durch Wilhelm I.« hauptsächlich aus den preußischen Staatsakten. Ein durch Glanz der Darstellung und die geistige Beherrschung eines unsäglich ungleichen und bröckeligen Materials ausgezeichnetes Werk war die »Geschichte der Stadt Athen [* 5] im Mittelalter« von Ferd. Gregorovius. Unter den historischen Biographien verdient vor allen »Scharnhorst« von Max Lehmann, ferner das Buch »König Friedrich von Württemberg [* 6] und seine Zeit« von A. Pfister, eine verspätete Apologie des ersten Schwabenkönigs, hervorgehoben zu werden.
Historische Erinnerungen (Memoiren) von Männern, die selbst im Mittelpunkt großer Ereignisse und Wandlungen gestanden haben, traten ungewöhnlich zahlreich hervor. Das bedeutendste Werk dieser Art sind die im Auftrag der Familie von Fr. Nippold herausgegebenen »Erinnerungen aus dem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann v. Boyen«, deren beide erste Bände die Zeit von 1771 bis 1811 umfassen. Inhaltlich wichtig und durch Geist und Lebhaftigkeit der Darstellung ausgezeichnet sind die Erinnerungen des regierenden Herzogs Ernst II. von Koburg-Gotha: »Aus meinem Leben und meiner Zeit«, neben denen die Aufzeichnungen des sächsischen Diplomaten Grafen Vitzthum: »Berlin [* 7] und Wien«, [* 8] »St. Petersburg [* 9] und London«, [* 10] »London, Gastein und Sadowa«, obschon frisch und anschaulich geschrieben, die Erinnerungen von Karl Biedermann: »Mein Leben und ein Stück Zeitgeschichte«, die »Lebenserinnerungen« von Fr. Ötker in die zweite Linie traten.
Mehr der Litteratur als der Geschichte gehörten die interessanten »Erinnerungen aus meinem Leben« von Gustav Freytag und »Ein halbes Jahrhundert«, Aufzeichnungen des Grafen F. A. von Schack, die »Jugendjahre« von Wilhelm Wackernagel, die »Jugendeindrücke u. Erlebnisse« von Georg Weber, die »Geschichte meines Lebens« von Alfred Meißner sowie die »Lebenserinnerungen« von Levin Schücking an. Die »Stationen meiner Lebenspilgerschaft« von R. Hamerling, »Aus dem Leben und den Erinnerungen eines norddeutschen Poeten« von Heinrich Zeise zeigen minder scharfes Gepräge, um so schärferes die von Felix Bamberg [* 11] herausgegebenen »Tagebücher« des Dichters Friedrich Hebbel, Aufzeichnungen, die zu den wichtigsten und unvergänglichsten Zeugnissen der deutschen Litteratur- und Kulturgeschichte der Jahre von 1840 bis 1863 zählen. Nicht minder wichtig und fesselnd, obschon aus einer völlig andern Welt stammend, eine geradezu gegensätzliche Natur offenbarend erschienen die »Lebenserinnerungen eines deutschen Malers« von dem liebenswürdigen Ludwig Richter, die denn auch außerordentliche Verbreitung fanden.
Die Briefe, welche neu veröffentlicht wurden, reichten freilich zum großen Teil in die ersten Jahrzehnte dieses, ja in die letzten des vorigen Jahrhunderts zurück. Der Goethelitteratur gehörten außer vielen im »Goethe-Jahrbuch« zuerst veröffentlichten und nun noch in die chronologische Sammlung aller Goethebriefe in der Weimarischen Ausgabe der Werke übergehenden Briefe, der »Briefwechsel zwischen Goethe und Carlyle«, der »Briefwechsel zwischen Goethe und Rochlitz« reihen sich der großen Zahl verwandter Veröffentlichungen völlig ebenbürtig an. Weiter zurück reichen »Geblers und Nicolais Briefwechsel« (hrsg. von Werner) und »Herders Briefwechsel mit Nicolai« (hrsg. von O. Hoffmann).
Der Gegenwart nähern wir uns mit »Friedr. Schlegels Briefen an seinen Bruder August Wilhelm«, dem »Briefwechsel zwischen Jakob und Wilhelm Grimm, Dahlmann und Gervinus«, dem »Briefwechsel Andersens mit dem Großherzog von Sachsen-Weimar«, dem »Briefwechsel zwischen Hermann Kurz und Eduard Mörike« und mit »Geibels Briefen an den Freiherrn von der Malsburg«. Neben die Briefe der Gelehrten und Schriftsteller traten diesmal in bedeutsamer Weise die Künstlerbriefe. Außer den »Jugendbriefen« von Robert Schumann beschäftigte der »Briefwechsel zwischen Richard Wagner und Franz Liszt« große Kreise [* 12] des deutschen ¶
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Publikums weit über die musikalischen Kreise hinaus. Anschaulich, so bedeutend als liebenswürdig sind die »Briefe aus Italien« [* 14] von Julius Schnorr v. Carolsfeld, die in die römisch-deutsche Künstlerkolonie des zweiten und dritten Jahrzehnts unsers Jahrhunderts zurückversetzen. Eine Natur und ein Frauenleben von ungewöhnlicher Vorzüglichkeit erschließen die in dem Buch »Emma Förster« gesammelten Briefe der Tochter Jean Pauls. Nach Inhalt und Reiz der Form gleich wertvoll ist der »Briefwechsel der Bildhauer Fr. Rauch und Ernst Rietschel«, herausgegeben von Karl Eggers, der auch »Rauch und Goethe, urkundliche Mitteilungen« veröffentlichte.
Die »Reisebriefe K. M. v. Webers an seine Gattin« waren zum größern Teil schon in der Weber-Biographie von M. M. v. Weber mitgeteilt. Als völlig neu erschienen die »Briefe zwischen Mendelssohn und Moscheles«, »Ferdin. David und die Familie Mendelssohn«. Der »Briefwechsel und die Tagebuchblätter« von Arnold Ruge, das durch seine brieflichen Mitteilungen allein wichtige Buch »Zeit und Menschen« von Feod. Wehl, auch das zu einem vollen Lebensbild ausgestaltete, aber durch Tagebuchblätter und Briefe gehaltreiche Buch »Aus dem Leben der Dichterin Amalie v. Helvig« von Henriette v. Bissing nähern sich schon mehr der ungeheuern Anzahl von Werken, die durch ihren Stoff, durch Mitteilung von Material ein gewisses Interesse beanspruchen, ohne der höhern Forderung in sich geschlossener künstlerisch reifer Darstellung zu genügen.
Auf dem Gebiet der litterarischen Biographie sind eine Reihe von Werken zu verzeichnen, die diesem Ideal besser entsprechen. Das klassische biographische Werk »Herder« von R. Haym gelangte mit seinem zweiten Teil zum erfreulichsten Abschluß. Erich Schmidts »Lessing«, Franz Munckers »Klopstock« und ganz neuerdings Paul Herrlichs umfassende Biographie »Jean Paul« legten nicht bloß vom rühmlichen Forscherfleiß, sondern auch von Geschmack und Darstellungskunst ihrer Verfasser Zeugnis ab. Schiller erhielt in O. Brahm, R. Weltrich, E. Minor neue Biographen; Goethes Leben und Dichten ward von dem Jesuiten A. Baumgartner in das Licht [* 15] einer Auffassung gerückt, nach der es überhaupt eine Todsünde ist, der römischen Kirche und ihrer Weltanschauung nicht gedient zu haben.
Aus der sonstigen biographischen Litteratur über Goethe sind die »Abhandlungen zu Goethes Leben und Werken« von H. Düntzer, »Goethe in der Epoche seiner Vollendung« von O. Harnack und die neuen »Goethestudien« von V. Hehn hervorzuheben. Der Geschichte der klassischen und romantischen Periode der deutschen Litteratur gehörten auch »Salomon Geßner« von Heinr. Wölfflin, »Chr. Fr. Daniel Schubart« von Hauff, »Wieland und Reinhold« von R. Keil, »J. Gaudenz von Salis-Seewis« von Ad. Frey, »G. L. Kosegarten« von L. ^[richtig: H.] Franck, »Novalis' Leben, Dichten und Denken« von Schubart an. Unter den Biographien neuerer Dichter war die des allbeliebten J. V. v. Scheffel von Johannes Prölß, obwohl durch die Aufnahme unverarbeiteten Materials allzusehr in die Breite [* 16] gezogen, die eingehendste und liebevollste.
Durch eine biographische Meisterleistung erhielt Friedr. Althaus das Gedächtnis seines früh verschiedenen Bruders, des Dichters und Publizisten Theodor Althaus. Auch »Emanuel Geibel« von Litzmann, »Heine« von R. Prölß, »Annette v. Droste-Hülshoff« von Hüffer, »Ottilie Wildermuths Leben« von ihren Töchtern Agnes Willms und Adelheid Wildermuth, »Theod. Storm« von Schütze sind hier zu nennen. Biographien hervorragender Gelehrten waren »H. W. J. Thiersch' Leben« von P. Wigand (mit interessanten autobiographischen Mitteilungen),
»Rich. Lepsius« von G. Ebers, »Hermann Hettner« von Ad. Stern. Von deutschen Biographien ausländischer Dichter und Denker kam das große biographische Buch »Frau v. Staël« der Lady Blennerhasset (gebornen Gräfin Leyden) zum Abschluß. Das Buch über »L. Holberg und seine Zeitgenossen« von Georg Brandes und das über »Beaumarchais« von A. Bettelheim erregten mit Recht die Teilnahme litterarischer Kreise. Von R. Marenchoiß erschienen zwei Bücher über »Voltaire« und »J. J. Rousseau«, von W. Kreiten (»Mitglied der Gesellschaft Jesu«) Biographien von Voltaire und Moliere, von dem Ultramontanen Sebastian Brunner ein warm geschriebenes christliches Lebensbild aus dem 13. Jahrh.: »Fra Jacopone da Todi«, von H. Conrad eine interessante Studie: »W. M. Thackeray« und eine andre über »G. Eliot«. Endlich ist auch die ursprünglich englisch geschriebene Chopin-Biographie unsers Landsmannes F. Niecks zu erwähnen, die in W. Langhans einen Übersetzer fand. Unter den zahlreichen Essays sei der »Zwölf Bilder aus dem Leben«, der letzten Veröffentlichung Fanny Lewalds, gedacht.