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verworrenen, einander direkt widerstreitenden, sich in ihrer Wirkung lähmenden oder geradezu vernichtenden Bestrebungen in der litterarischen und theatralischen Welt jene wunderliche Anarchie, die es möglich macht, daß von der einen Seite der Niedergang, der letzte Bankrott des deutschen Dramas und von der andern ein nie zuvor erhörter Aufschwung desselben verkündet wird. Bei den Propheten des Aufschwungs begegnen wir hier der demütigsten Unterordnung unter die naturalistischen Krafteffektstücke der Franzosen und Russen, dort wiederum einem in der That allzu bescheidenen Anschmiegen an die Anfänge des deutschen Dramas.
Sowohl die »freie Bühne«, die nur mit Wagnissen experimentiert, als das Volkstheater, welches auf die dramatische Gestaltung im engern Sinn verzichtet, sind ein Memento mori an die bestehende Bühne, die sich mit Vorliebe »real« nennt, thatsächlich aber immer stärker und bedenklicher von falschen Herkömmlichkeiten und willkürlichen Voraussetzungen beherrscht wird. Während sich die maßgebenden Hoftheater gegen den Strom frischen Lebens abdämmen und von der dramatischen Poesie die unmöglichste Rücksichtnahme auf unglaubliche Vorurteile und ewig unerratbare Bedenken heischen, öffnen sie zugleich der frivolsten Zerstreuungssucht wie der geschmacklosesten Verwilderung Thür und Thor, fahren dabei aber fort, einen dramatischen Messias zu erwarten, der ihren und den höchsten Ansprüchen des Lebens zugleich genügen soll.
Natürlich richtet sich dieser die lebendige Wechselwirkung zwischen Bühne und Dichtung hemmende Zustand weniger gegen die historische Tragödie als gegen das bürgerliche Trauerspiel und Schauspiel, die um so unzweifelhafter das eigentliche Bedürfnis der Zeit sind, als hier auch die reichsten Perioden unsrer Litteratur und die glücklichsten dramatischen Talente verhältnismäßig wenig bleibende Schöpfungen hinterlassen haben. Das historische Trauerspiel, einst das Ehrgeizziel der meisten deutschen Dichter, ist wirklich nicht bloß um der flacher gewordenen Weltanschauung und Empfindung der Durchschnittsbildung willen in den Hintergrund getreten, sondern weil innerhalb der modernen Welt sich die Zahl der im alten Sinn tragischen Konflikte verengert hat, dafür aber eine ungeheure Zahl neuer Konflikte aus dem Leben erwachsen ist, die nicht schlechthin in die Formen der alten Tragik aufgehen wollen.
Daß zu dieser tiefer liegenden Ursache der Umbildung der Tragödie in ein Schauspiel mit unblutigem und doch tragischem Ausgang auch die Lebensanschauung herrschender Gesellschaftsklassen, die im Grund nur die Tragik des Bankrotts kennen und anerkennen, das Ihrige beiträgt, ist zu unzählige Male erörtert, um hier des Breitern wiederholt zu werden. Gleichwohl erfreut sich die Schöpfung auch des modernen Tragikers, sofern sie nur nicht bloßer Nachklang zu den gewaltigen Werken alten Stils, zu Shakespeare und Schiller, ist, noch immer gewisser Erfolge.
Die stärksten hatte E. v. Wildenbruch aufzuweisen, zu dessen frühern Tragödien und Schauspielen sich die Dramen »Die Herrin ihrer Hand«, [* 2] »Christopher Marlow«, »Das neue Gebot«, »Der Fürst von Verona«, [* 3] »Die Quitzows«, »Der Generalfeldoberst« gesellten, von denen namentlich »Die Quitzows« ein tieferes Interesse erregten. Von R. Voß traten die Tragödien »Mutter Gertrud«, »Brigitta von Wisby«, »Alexandra« und »Eva« hervor, die letztgenannten dem modern sozialen Drama zustrebend, alle von einer gewissen Bedeutung und alle durch einen unaustilgbar krankhaften Zug beeinträchtigt, welcher die reinen Wirkungen eines phantasievollen, hochstrebenden Talents in Frage stellt.
Von sonstigen Erscheinungen auf dem Gebiet der dramatischen Dichtung seien noch genannt: »Die Rosen von Tyburn« von A. Fitger, »Thassilo« von Ferd. v. Saar, »Eine neue Welt« (Kolumbus) und »Gerold Wendel« von Heinr. Bulthaupt, »Der Schmied von Ruhla« und »Alexander Borgia« von J. Riffert. Die Dramen von K. Bleibtreu: »Byron«, »Schicksal«, »Vaterland« gehören der schon charakterisierten naturalistischen Richtung an, und auch aus ihnen leuchtet hervor, daß der Wille und die Fähigkeit, neue Tiefen der Natur zu enthüllen, Leben darzustellen, vom Drang des litterarischen Effekts stark überwogen wird.
Von Werken, die ihren Weg über die Bühnen gemacht haben und nun in die Litteratur eintraten, erschienen die auf Berliner [* 4] Boden erwachsenen Schauspiele von O. Blumenthal: »Die große Glocke«, »Ein Tropfen Gift«, das historische Intrigenlustspiel »Der Kriegsplan« von J. v. Werther, das Schauspiel »Die Philosophin« von Fr. Spielhagen, die Lustspiele »Das Recht der Frau« und »Die wilde Jagd« von K. Fulda, [* 5] das dem Münchener Gärtnerplatztheater angehörige, der bayrischen Volks- und Dialektpoesie verwandte Schauspiel »Das Austragstüberl« von Neuert und Schmidt. Die größere Zahl der bürgerlichen Schauspiele und Lustspiele kommt und geht mit dem Tag und beansprucht weder, noch verdient sie eine tiefere bleibende Teilnahme.
Durch eine Folge von Aufführungen, die aus Dilettantenkreisen heraus in den verschiedensten Städten veranstaltet wurden, gelangte das für Worms [* 6] schon 1883 gedichtete »Lutherfestspiel« von Hans Herrig zu außerordentlicher Volkstümlichkeit; für die Eröffnung der Wormser Volksbühne schrieb der Dichter ein ähnliches Festspiel mehr lyrisch-epischen als dramatischen Gehalts: »Drei Jahrhunderte am Rhein«. Als eine phantastisch-originelle Dichtung erweist sich das Bühnenmärchen »Die letzten Menschen« von Wolfgang Kirchbach, von dem auch ein Lustspiel, »Der Menschenkenner«, hervortrat.
Roman und Novelle.
Im ähnlichen Verhältnis wie die dramatische Produktion zur theatralischen, mit einem geradezu erdrückenden Übergewicht des Handwerksmäßigen, Fabrikmäßigen gegenüber dem Poetischen, innerlich Belebten steht auch in den Lieblingsformen der Zeit, in Roman und Novelle, die einem poetischen Bedürfnis entstammte, dem künstlerischen Sinne nach irgend einer Richtung genügende erzählende Dichtung der Unterhaltungslitteratur gegenüber, welch letztere durch das Bedürfnis der zahllosen Blätter und Blättchen ins sinnlos Massenhafte gesteigert wird.
So waren es denn auch in der Romanlitteratur vor allen längst bewährte Dichter, von denen die wertvollsten und unzweifelhaft lebensvollsten Schöpfungen der letzten Jahre ausgingen. Ein Meister wie Gottfr. Keller fügte der Reihe seiner unvergänglichen Schöpfungen den satirischen und doch in der Gestalt seiner Helden tief poetischen Roman »Martin Salander« hinzu; P. K. Rosegger gab in dem Bauernroman »Jakob der Letzte« ein tragisches Bild aus dem Kampf zwischen den alten Besitzverhältnissen und der menschenvernichtenden Kraft [* 7] des allmächtigen Kapitals; Paul Heyse stellte in der zum Roman erweiterten Novelle »Die Geschichte der Stiftsdame« eins jener Frauenschicksale dar, für die er den feinen Blick, den innersten Anteil und die Darstellungskunst wie wenige besitzt. Aus der Reihe der Zeitromane erregten Fr. Spielhagens »Was will das werden?« und »Ein neuer Pharao«, die stark realistischen, aber durch und ¶
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durch lebensvollen kleinern Romane Fontanes: »Cecile«, »Irrungen - Wirrungen«, der Roman »Dunst und Geld« von Karl Frenzel, endlich die größern Erzählungen von Marie v. Ebner-Eschenbach: »Zwei Komtessen«, »Das Gemeindekind« und »Die Unverstandene auf dein Dorfe« mit Recht starken Anteil. Von poetischer Kraft zeugten die Romane und Novellen der früh verstorbenen Margarete v. Bülow, namentlich »Jonas Briccius«, ferner »Der Sohn der Volskerin« und »Die neue Circe« von Richard Voß, der auch in Roman und Novelle die eigentümliche Mischung echt poetischer Empfindungs- und Darstellungskraft und krankhafter Unwirklichkeit zeigt, deren bei seinen Dramen gedacht werden mußte.
Bedeutend und geistreich, aber mehr durch Reflexion [* 9] als durch poetische Erfindung und Charakteristik getragen erschienen die Romane »Die Sebalds« und »Zwei Wiegen« von Wilhelm Jordan. Mit den Romanen »Die Krankheit des Jahrhunderts« von Max Nordau, »Hymen« von Oskar v. Redwitz, der Romanfolge »Berlin« [* 10] von Paul Lindau, [* 11] den Romanen »Dunkle Existenzen« und »Menschenschicksale« von Konrad Telmann beginnt eine Reihe von Darstellungen, in denen entweder ein unerfreulicher Vorwurf durch die Würze des Räsonnements, der pikanten Szenen genießbar und anziehend gemacht werden soll, oder die poetische Absicht der Verfasser weit über die darstellende Kunst und Kraft hinausgeht.
Von dem fast allzu produktiven Wilhelm Jensen erschienen die Romane »Runensteine«, »In der Fremde«, die Novellensammlungen »Aus stiller Zeit« und »Aus schwerer Zeit«, überall wieder die außerordentliche Phantasie und Stimmungskraft des Dichters, aber auch den Zug zum Manierismus besthätigend, der ihm wie vielen Poeten der Gegenwart eigen ist. Die Romane von Aug. Niemann (»Eulen [* 12] und Krebse«, »Am Hofe« u.a.), von Robert Byr, L. Haidheim, E. A. König, Max Ring, C. ^[richtig: H.] Rosenthal-Bonin, auch die etwas anspruchsvollern von Ossip Schubin neigen schon alle nach der mehr oder minder fesselnden, meist stark gewürzten Unterhaltungslitteratur hinüber.
Im humoristischen Roman behauptete (von Keller abgesehen) noch immer Wilh. Raabe mit seinen eigentümlichen, um der Komposition und klaren Handlungsführung selten, um der Tiefe der Stimmung und der genialen Blicke in das Menschenleben und -Wesen fast immer zu lobenden kleinen Romanen mit und ohne historischen Hintergrund das Feld. Von ihm reihten sich die Bücher: »Das Odfeld«, »Im alten Eisen«, [* 13] »Zum wilden Mann« den früher erschienenen humoristischen Bildern aus deutschem Leben, aus einer verschwindenden Kulturwelt würdig an. Größern Erfolg als Raabes poetische Auffassung und Darstellung hatte die witzig-satirische der Buchholzbücher von Jul. Stinde: »Die Familie Buchholz«, »Buchholzens in Italien«, [* 14] »Buchholzens im Orient« etc., in welchen das durchschnittliche Berlinertum zugleich verspottet und verherrlicht ward, die übrigens in ihrer locker-lässigen Form kaum noch den Namen von Romanen in Anspruch nehmen können. Ein humoristischer Roman von frischer Bewegung war »Moderne Argonauten« von Frank Harkut.
Der historische Roman ward in der jüngsten Vergangenheit zum Gegenstand der heftigsten, leidenschaftlichsten Angriffe, die ebensosehr über das Ziel hinausschossen, als eine gewisse Bildungsphilisterei den Wert geschichtlicher Stoffe ohne echt poetische Belebung traurig überschätzte und, wie die immer neu auftauchenden Romane aus antiken, byzantinischen und völkerwanderlichen Zeiten beweisen, zu überschätzen fortfährt. Die Acht, welche die naturalistische Ästhetik und Kritik über jede nicht aus der unmittelbarsten Gegenwart geschöpfte Erfindung ausspricht, ist um deswillen undurchführbar und sinnlos, weil der gute historische Roman, der zugleich ein echt dichterisches Werk ist, sich immer wieder an die Gegenwart richten wird.
»Das Tagesgelärm der augenblicklichen Wortführer der Aktualität ist so knabenhaft, daß es jede wahrhafte Widerlegung ausschließt; nur völlige Kenntnislosigkeit von dem, was überhaupt Dichtung ist, und wo die Dichtung ihre Kraft birgt, gibt sich in dem ganzen Lärm kund.« (Jensen.) Gleichwohl darf das nicht verkannt werden, daß der historische Roman in eben dem Maß an Lebenskraft verlor, als seine litterarischen Pfleger der Forderung, daß auch er gelebt, innerlich erlebt und angeschaut sein müsse, zu gunsten irgend welcher Neben- und Unteraufgaben auszuweichen begannen.
In dem in Rede stehenden Jahrfünft wurde die historische Romanfolge »Die Ahnen« von Gustav Freytag, in deren letzten Teilen die poetischen Motive und Gestalten empfindlich hinter die kulturhistorischen und politischen Momente zurücktraten, zu Ende geführt. Starkes und eignes Leben, glänzende Phantasie, die doch allzusehr auf den Bildungsvoraussetzungen eines gelehrten und vielwissenden Geschlechts beruht und darum in ihren Motiven und Gestalten oft der Einfachheit entbehrt, offenbaren die neuern historischen Erzählungen von Konrad Ferdinand Meyer: »Die Richterin«, »Die Hochzeit des Mönchs«, »Die Versuchung des Pescara«.
Von Ad. Stern erschien der Roman »Camoëns«, der die historisch-dunkle und rätselvolle spätere Lebensgeschichte des großen portugiesischen Heldendichters poetisch zu erhellen unternimmt. Weitere historische Romane waren: »Der große Kurfürst in Preußen« [* 15] von Ernst Wichert, »Aphrodite« [* 16] und »Nero« von Ernst Eckstein, »Die Gred« von Georg Ebers, »Das Schatzhaus des Königs«, »Octavia« von Wilhelm Walloth, die Folge kleiner Romane aus der Völkerwanderung von Felix Dahn, denen allen gegenüber das Wort gilt, daß keine poetische Gattung der Welt aus andern als poetischen Gründen vorhanden sein darf, daß der schlechteste Dienst, der sich dem historischen Roman und der historischen Novelle leisten läßt, der ist, sie für eine Art didaktischer Dichtung in Prosa zu erklären.
Nur wo der historische Roman Anlaß wird, gewisse Seiten des Lebens, gewisse Erscheinungen und Empfindungen, gewisse Gestalten darzustellen, ohne welche das poetische Bild der Menschheit wesentlich ärmer sein würde, nur wo ein Stück Leben entweder ausschließlich oder doch mit ergreifender Stärke [* 17] und Deutlichkeit gerade nur am historischen Vorgang oder auf historischem Hintergrund darzustellen ist, kann der historische Roman mit dem, der das allen vertraute Leben des Tags erfaßt, in die Schranken treten.
Das Gleiche gilt vom ethnographischen Roman, in welchem ein fremdartiges Volksdasein und Landschaftsleben die poetischen Motive entweder bestreiten oder verstärken muß. Die bedeutendste Erscheinung auf diesem Gebiet war »Ein Kampf ums Recht« von Karl Emil Franzos, in welchem das alte tragische Motiv vom versagten Recht und der daraus hervorgehenden Gewaltthat, auf die Verhältnisse des europäischen Ostens, Halbasiens, angewendet, eine Erfindung und Handlung der wirksamsten Art ergab. Vom Verfasser des gleichen Romans traten außerdem die Erzählung »Die Schatten« [* 18] und »Tragische Novellen hervor.
Die Novelle, die noch immer vielseitig, um nicht ¶