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Theorie vermag insbesondere auf eine leichte Weise die Erscheinungen des Atavismus, die Vererbung von Eigenschaften von einer Generation auf eine entferntere mit Überspringung der dazwischenliegenden zu erklären. Als logische Folge dieser Kontinuität des Keimplasmas, auf welches äußere Einflüsse nicht einwirken, muß sich ergeben, daß keine neuen Eigenschaften erworben und weiter vererbt werden können. In der That ist es gerade dieser Punkt der Theorie, die Frage der Erblichkeit erworbener Eigenschaften, welcher einen heftig entbrannten Kampf hervorgerufen hat, denn mit diesem Satz steht und fällt die Lehre [* 2] von der Kontinuität des Keimplasmas.
Nach Weismann gelangen nur diejenigen Eigenschaften zur Vererbung, welche der Anlage nach schon im Keim vorhanden sind; alle Abänderungen, welche nach der Teilung des Eies in die beiden ersten Furchungskugeln entstehen, nennt Weismann »erworbene Charaktere« oder auch, da sie nach seiner Ansicht nicht erblich sind, sondern mit dem Individuum entstehen und vergehen, »passante Charaktere«. Zu ihnen gehören vor allem die während des individuellen Lebens erworbenen Verletzungen und Verstümmelungen, deren Vererbung nach Weismann bisher noch in keinem Fall nachgewiesen ist. Scheinbare derartige Vererbungen lassen sich nach ihm auf andre Weise erklären.
Leugnet so Weismann jede direkte Veränderung des Keimplasmas durch äußere Einflüsse, so gibt er anderseits doch die Möglichkeit zu, daß durch sehr lang andauernde Einflüsse derselben Art, z. B. Temperatur, während des Lebens Anlagen, Prädispositionen, zu neuen Eigenschaften erworben werden und zur Vererbung gelangen können. Nur bei den Protozoen verändern äußere Einflüsse den Organismus direkt, und diese unterscheiden sich nach dieser Theorie dadurch scharf von den Metazoen.
Dem Keimplasma Weismanns fehlt aber nicht nur die Fähigkeit, neue Eigenschaften zu erwerben und durch deren Vererbung Varietäten zu erzeugen, sondern es geht ihm auch die Tendenz ab, aus sich selbst heraus abzuändern, so daß die Folge dieser Theorie die Konstanz [* 3] der Arten wäre. Zur Erklärung der thatsächlichen Variabilität der Arten zieht daher Weismann einen andern Faktor bei und findet diesen in der geschlechtlichen Fortpflanzung. Bei diesem Vorgang wird nicht nur der Vorrat des Keimplasmas immer wieder ergänzt und so die sonst notwendig eintretende Erschöpfung desselben vermieden, sondern durch die Mischung der Eigenschaften, welche die geschlechtliche Fortpflanzung veranlaßt, wird zugleich das Material für die Entstehung neuer Arten gegeben; es kann bei der Mischung zweier Vererbungstendenzen nie wieder Gleichheit eintreten, sondern es müssen im Lauf der Generationen immer neue Kombinationen der individuellen Charaktere erscheinen. So kommt die erbliche individuelle Variabilität zu stande. Unter den durch die Mischung verschiedenen Keimplasmas entstandenen neuen Formen tritt dann der Kampf ums Dasein und Selektion in sein Recht.
Im Zusammenhang mit der Ansicht von der Nichtvererbung erworbener Eigenschaften stehend und als eine Folge derselben erscheint eine weitere Theorie Weismanns über die Entstehung der rudimentären Organe, die er in einer »Über den Rückschritt in der Natur« betitelten Schrift behandelt. Sie können nach ihm nicht dadurch entstanden sein, daß der Nichtgebrauch direkt verkümmernd auf bestimmte Organe eingewirkt und diese Einwirkung, sich verstärkend, vererbt worden sei und dadurch zur immer weitergehenden Rückbildung des Organs geführt habe, denn die Resultate des Nichtgebrauchs müssen nach Weismanns Ansicht auf das Individuum beschränkt bleiben. Er findet für die Rückbildung eine andre Erklärung in der »Kehrseite der Naturzüchtung«.
In der
Definition dieses
Begriffs geht
Weismann von der
Annahme der Richtigkeit der
Ansicht aus, daß die Zweckmäßigkeit der
lebenden
Wesen in allen ihren Teilen auf dem Vorgang der Naturzüchtung beruht, und schließt weiter, daß diese Zweckmäßigkeit
auch durch dasselbe
Mittel erhalten
werden müsse, durch welches sie zu stande gekommen ist, umgekehrt
aber wieder verloren gehen müsse, sobald dieses
Mittel, die Naturzüchtung, in Wegfall kommt. Sobald nun ein
Organ für einen
Organismus sich nicht mehr nützlich oder notwendig erweist, wird seine mehr oder minder vollkommene
Ausbildung bei der
Kreuzung
nicht mehr in Betracht kommen, sondern in Bezug auf dieses
Organ Allgemeinkreuzung, Panmixie, eintreten;
durch diesen
Nachlaß in der
Auslese geht dann dieses
Organ immer mehr zurück. Auf diese indirekte
Weise erklärt
Weismann auch
solche
Fälle von Rückbildungen, die, wie das
Schwinden des Haarkleides bei
Delphinen und
Walen, sich nicht direkt
als eine
Folge des Nichtgebrauchs des betreffenden
Organs erklären lassen.
Der Ansicht Weismanns im wesentlichen entgegengesetzt ist die von Eimer aufgestellte Theorie über die Entstehung der Arten auf Grund von Vererben erworbener Eigenschaften. Eimer knüpft zunächst daran an, daß die Theorie Darwins die Entstehung der Varietäten und damit der Arten dem Zufall anheimstelle, indem sie die Möglichkeit des Variierens nach allen Richtungen ohne jede Gesetzmäßigkeit zulasse und keine Erklärungen für das erste Auftreten der Variationen gebe.
Dem gegenüber kam Eimer, hierin mit Nägeli und Weismann übereinstimmend, auf Grund seiner Untersuchungen zu dem Resultat, daß das Abändern der Arten überall nach ganz bestimmten Richtungen stattfindet, deren es jedoch in gegebener Zeit nur wenige sind. Zunächst konstatierte Eimer diese Gesetzmäßigkeit beim Abändern für eine bis dahin als völlig gleichgültig, bedeutungslos und zufällig angesehene Erscheinung, nämlich für die Zeichnung der Tiere.
Bei zahlreichen in den verschiedensten Klassen des Tierreichs angestellten Untersuchungen fand er als Regel, daß im ganzen Tierreich die Längsstreifung die ursprüngliche ist; im Verlauf der Entwickelung zerfällt sie in Flecke, und diese vereinigen sich wieder zu Querstreifen. Hierbei treten diese Zeichnungen, wie alle neuen Eigenschaften, stets an bestimmten Teilen des Körpers, vorzüglich hinten, auf und rücken während der Entwickelung mit dem Alter nach vorn, während von hinten die nächst jüngere Eigenschaft nachrückt und die vorderste schwindet, ganz wie eine Welle der andern folgt (»Gesetz der wellenförmigen Entwickelung« oder »Undulationsgesetz«).
Weitere Untersuchungen ließen eine ähnliche Gesetzmäßigkeit auch in Beziehung auf andre Eigenschaften nachweisen. Mit der Auffindung der Gesetzmäßigkeit des Abänderns sah sich Eimer aber zugleich auch vor die Frage nach den Ursachen dieses Abänderns gestellt. Eine große Anzahl von Eigenschaften wird bekanntlich durch das Nützlichkeitsprinzip, die Auswahl des Nützlichen im Kampf ums Dasein, erklärt, und in ähnlicher Weise wird gleich der natürlichen Zuchtwahl die geschlechtliche Zuchtwahl zur Erklärung der Entstehung andrer Eigenschaften herbeigezogen. Von vielen Eigenschaften, deren Bedeutung für den Organismus wir heute nicht zu erkennen vermögen, können wir doch sagen, ¶
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daß sie den Vorfahren der heutigen Träger [* 5] nützlich gewesen sind und darin heute noch ihre Existenzberechtigung finden, und die Entstehung wieder anderer Eigenschaften läßt sich vielleicht durch den uns noch ganz dunkeln Vorgang der Korrelation der Organe erklären, der darin besteht, daß die Entstehung und Weiterentwickelung eines Organs die Bildung eines ganz andern, mit ihm sonst gar nicht im Zusammenhang stehenden Organs nach sich zieht. Diese letztere Annahme erklärt speziell die Entstehung schädlicher Eigenschaften, die dann durch die nützlicher andrer, mit ihnen in Wechselbeziehung stehender, aufgehoben werden.
Für eine Reihe andrer Eigenschaften aber genügen diese Erklärungen nicht. So ist es unzweifelhaft, daß auch direkt schädliche Eigenschaften zur Ausbildung gelangen können und sich in einer Weise weiter entwickeln, daß sie den Untergang des ganzen Geschlechts nach sich ziehen. So führt Döderlein aus der Stammesgeschichte der Säugetiere einige Fälle an, wo als Endglieder einer längern Entwickelungsreihe Formen auftreten, bei denen ein bestimmtes Organ sich extrem entwickelt hat und wahrscheinlich zum Erlöschen der Form mit beitrug, so die Größe und Form der Zähne [* 6] beim säbelzahnigen Tiger (Smilodon neogaeus) und die riesenhafte Ausdehnung [* 7] des Geweihes beim Riesenhirsch (Cervus dicranius).
Döderlein erklärt diese Fälle durch die Annahme einer erblich werdenden Tendenz, nach einer bestimmten, ursprünglich nützlichen Richtung hin zu variieren, wobei jedoch im Verlauf der Entwickelung das Maximum der Nützlichkeit für den Organismus überschritten wird. Er hält demnach für das Wesentliche bei der Vererbung nicht etwa die ?Erreichung eines bestimmten Entwickelungszustandes?, sondern die ?Bestimmung der Entwickelungsrichtung?. Neben diesen direkt schädlichen Eigenschaften gibt es dann noch eine weitere Anzahl, die uns völlig bedeutungslos für den Organismus scheinen, und bei denen wir das Entstehen und besonders die Regelmäßigkeit bei ihrer Entstehung nach den angeführten Theorien nicht zu erklären vermögen; hierher gehört beispielsweise eben die Zeichnung im Tierreich.
Eimer geht aber weiter und weist darauf hin, daß die vorerwähnten Darwinschen Theorien überhaupt bei keiner Eigenschaft die erste Entstehung derselben zu erklären vermögen und die Frage nach den Ursachen des Abänderns ganz offen lassen. Er betont besonders, wie oft der Fehler gemacht wird, daß die auf dem Nutzen beruhende Auslese als die selbstthätige Kraft [* 8] behandelt wird, welche die Veränderungen der Eigenschaften selbst hervorbringt, während sie nach seiner Ansicht nur die Steigerung und das Herrschendwerden, nicht aber das Entstehen dieser Eigenschaften erklären kann.
Den Grund der Entstehung der Abänderungen findet Eimer in ?konstitutionellen Ursachen?. Nach seiner Auffassung ?sind die physikalischen und chemischen Veränderungen, welche die Organismen während des Lebens durch die Einwirkung der Umgebung, durch Licht [* 9] oder Lichtmangel, Luft, Wärme, [* 10] Kälte, Wasser, Feuchtigkeit, Nahrung etc. erfahren, und welche sie vererben, die ersten Mittel zur Gestaltung und Mannigfaltigkeit der Organismenwelt und zur Entstehung der Arten.
Aus dem so gebildeten Material macht der Kampf ums Dasein seine Auslese.? Es beruht also die organische Formgestaltung auf physikalisch-chemischen Vorgängen; aus diesem Grund ist sie aber ebenso wie die Form der anorganischen Kristalle [* 11] eine bestimmte und wird auch bei der Neubildung nur einzelne bestimmte Richtungen einschlagen können. Die Entstehung der Neubildungen und damit der Arten unterliegt zugleich denselben Gesetzen wie einfaches Wachstum; ?sie ist die Folge unendlichen, unter veränderten Bedingungen stattfindenden ungleichartigen Wachstums der Organismenwelt unter Voraussetzung der bleibenden Trennung ungleichartiger Glieder [* 12] der wachsenden Kette dieser Organismenwelt; Fortpflanzung und individuelle Entwickelung beruhen gleicherweise auf den Gesetzen des Wachsens?.
Für die Ausbildung der Abänderungen zu Arten, für die Artentrennung, sieht Eimer die wesentlichste Ursache in dem von ihm Genepistase genannten Vorgang, d. h. in dem Stehenbleiben einer Anzahl von Individuen auf einer bestimmten niedrigern Stufe der Umbildung, während die übrigen in derselben weiter fortschreiten. Hierzu kommen weitere, schon bekannte Ursachen, die die Verschiedenheit der Entwickelungsrichtung bestimmen und die Trennung in Arten verursachen, so räumliche Isolierung, unmittelbare äußere Einwirkung, Gebrauch und Nichtgebrauch der Organe, der Kampf ums Dasein, die sprungweise Entwickelung durch Korrelation, ?konservative Anpassung?, d. h. Einfluß einer ununterbrochenen Fortdauer derselben Einwirkungen auf einen Organismus, und endlich geschlechtliche Fortpflanzung, welche an und für sich zur Bildung ganz neuer stofflicher Zusammenfügungen, d. h. zur Bildung neuer Formen, führen kann.
Speziell mit der Frage nach der Trennung in Arten hat sich schließlich auch Romanes in seiner Theorie der ?physiologischen Selektion? beschäftigt. Der englische Forscher geht von dem der Darwinschen Theorie gemachten Einwurf aus, daß neuentstandene Variationen, sie mögen noch so nützlich sein, durch die Kreuzung mit den andern Tieren immer mehr verwischt werden, bis sie endlich ganz verschwinden. Diesen Einwand sucht Romanes mit der Behauptung zu widerlegen, daß mit dem Auftreten einer Variation sich zugleich Sterilität der neu variierten Tiere mit den übrigen einstellt, und gibt hiermit zugleich eine Erklärung für die gegenseitige Unfruchtbarkeit der natürlichen Arten.
Die Sterilität kann primär oder sekundär sein. Der Fortpflanzungsapparat ist bekanntermaßen sehr zu Variationen geneigt, und es ist daher wohl anzunehmen, daß einmal bei einer Anzahl von Individuen eine Variation entsteht, welche die Sterilität gegenüber der Hauptart bedingt, gegenseitige Befruchtung der [* 13] Abart aber zuläßt. Hierdurch ist eine neue Art geschaffen und in ihrer Existenz geschützt, und durch unabhängige Variabilität kommen weitere spezifische Abänderungen hinzu, die die Art von der Mutterart sich immer weiter entfernen lassen.
Umgekehrt mag die Sterilität auch sekundär sein und indirekt durch vorher auftretende Unterschiede hervorgerufen werden.
Jedenfalls haben unter allen auftretenden Abänderungen diejenigen am meisten Aussicht auf Erhaltung, welche zugleich
eine bestimmte Unfruchtbarkeit im Gefolge haben. Denn diese ?physiologische Zuchtwahl? errichtet zwischen der alten
und der
neuentstandenen Art einen Grenzwall, der ebenso unüberwindbar ist wie eine in Höhenzügen oder in Meeresteilen bestehende
geographische Barriere.
Indem so zur Entstehung neuer Arten keine räumliche Isolierung oder Wanderungen zu Hilfe genommen zu werden brauchen, erklärt sich auch auf diese Weise die Existenz nahe verwandter Arten in dem gleichen Verbreitungsbezirk. Die Unfruchtbarkeit der Varietät gegenüber der Mutterspezies besteht des öftern nicht in einer Variation des Geschlechtsapparats, in einer wirklichen Sterilität, sondern in Verlegung der beiderseitigen Befruchtungsperioden, so der Blütezeit bei den Pflanzen und der Paarungszeit bei den ¶