Statt der Einheitsrente wurde »Individualisierung« verlangt, d. h.
die
Rente sollte sich mehr dem seither bezogenen
Lohn der einzelnen
Arbeiter anschmiegen. Die einen schlugen zu dem Ende die
Bildung von Ortsklassen vor, indem die
Rente mit gewissen Abstufungen nach dem
Orte der
Arbeit verschieden bemessen werden sollte,
die andern empfahlen dagegen, Lohnklassen der
Versicherung zu
Grunde zu legen, welchen die einzelnen
Arbeiter,
ganz unabhängig von dem
Ort, wo sie arbeiteten, nach der
Höhe ihres wirklichen
Verdienstes einzureihen seien.
Statt der
Berufsgenossenschaften wurden von mehreren Seiten örtlich abzugrenzende Anstalten in
Vorschlag gebracht, welche
alle in ihrem Gebiet beschäftigten versicherungspflichtigen
Arbeiter umfassen sollten. Gegen die
Genossenschaften
wurde
insbesondere geltend gemacht, daß dieselben keine feststehenden Einrichtungen, vielmehr je nach Änderungen der
Industrie
dem Wandel unterworfen seien, dann daß dieselben, weil über große
Bezirke, zum Teil über ganz
Deutschland verbreitet, mit
zu großen
Kosten arbeiteten, indem auf einem und demselben Gebiet verschiedene
Verwaltungen für den gleichen
Zweck wirkten.
Dazu kamen noch politische
Gründe, welche allerdings nicht immer offen vorgetragen wurden. Der Reichszuschuß war mit dem
Hinweis auf die durch die
Versicherung herbeigeführte Entlastung der
Armenpflege sowie darauf begründet worden, daß eine
Versorgung vieler
Arbeiter schon in kürzerer
Frist nötig werde, ohne daß für dieselben seither Beiträge
gezahlt worden seien oder fortan die versicherungstechnisch nötigen Beiträge entrichtet werden könnten. Die Gegner des
Reichszuschusses stützten ihre
Anschauungen teils auf
Gründe der
Politik und der Finanzverwaltung, teils auf solche allgemein
volkswirtschaftlicher
Natur.
Man befürchtete, es möchten immer weiter gehende Anforderungen an die
Hilfe desReichs gestellt und insbesondere
mit der noch einzuführenden
Witwen- und
Waisenversicherung die
Last für das
Reich zu groß werden. Dann verlangte man, es sollten
die
Kosten der einzelnen Wirtschaftszweige von diesen selbst, bez. von den Warenkäufern
getragen, nicht aber auf andre
Schultern übergewälzt werden. Hierauf wurde im Juni 1888 von der Reichsregierung
ein
Gesetzentwurf veröffentlicht, in welchem von den
BerufsgenossenschaftenAbstand genommen und für Bemessung der
Rente die
Bildung von Ortsklassen und die Abstufung nach solchen vorgeschlagen worden war. Im wesentlichen an den gleichen Grundgedanken
wie dieser
Entwurf hielt derjenige fest, welcher im
November 1888 dem
Reichstag vorgelegt wurde.
Nach eingehenden Beratungen in
Kommission und
Plenum und nach einer
Reihe von Abänderungen, welche im wesentlichen
sich auf Rentenhöhe,
Wartezeit und Bemessung des Reichszuschusses bezogen, wurde der
Entwurf mit einer allerdings nur geringen
Majorität angenommen und als
Gesetz, betreffend die
Invaliditäts- und
Altersversicherung, veröffentlicht.
2) Betriebsbeamte sowie
Handlungsgehilfen und
-Lehrlinge (ausschließlich der in
Apotheken beschäftigten
Gehilfen und
Lehrlinge),
welche
Lohn oder
Gehalt beziehen, deren regelmäßiger Jahresarbeitsverdienst anLohn oder
Gehalt aber 2000 Mk.
nicht übersteigt, sowie 3) die gegen
Lohn oder
Gehalt beschäftigten
Personen der
Schiffsbesatzung deutscher Seefahrzeuge und
von Fahrzeugen der Binnenschifffahrt. Durch Beschluß des
Bundesrats kann die Versicherungspflicht auch auf Betriebsunternehmer,
die nicht regelmäßig wenigstens einen Lohnarbeiter beschäftigen, sowie auf solche selbständige Gewerbtreibende erstreckt
werden, welche in eignen Betriebsstätten im Auftrag und
für Rechnung andrer Gewerbtreibender mit der
Herstellung oder Bearbeitung gewerblicher Erzeugnisse beschäftigt werden (Hausgewerbtreibende). Die genannten Betriebsunternehmer
sind, wenn kein für sie bindender Beschluß gefaßt wird, zur freiwilligen
Selbstversicherung berechtigt. Der Versicherungspflicht
sind nicht unterworfen solche
Personen, welchen als Entgelt für ihre
¶
mehr
Beschäftigung nur freier Unterhalt gewährt wird, ferner Beamte des Reichs und der Bundesstaaten, die mit Pensionsberechtigung
angestellten Beamten von Kommunalverbänden sowie Personen des Soldatenstandes, welche dienstlich als Arbeiter beschäftigt
sind, endlich solche Personen, welche nicht mehr im stande sind, ein Drittel des nach Maßgabe des Krankenversicherungsgesetzes
festgesetzten Tagelohns zu verdienen, oder welche auf Grund des neuen Gesetzes eine Invalidenrente beziehen.
Andre in Betrieben des Reichs, eines Bundesstaats oder eines Kommunalverbandes beschäftigte Personen genügen der gesetzlichen
Versicherungspflicht durch Beteiligung an einer für den betreffenden Betrieb bestehenden oder zu errichtenden besondern Kasseneinrichtung,
durch welche ihnen eine den reichsgesetzlich vorgesehenen Leistungen gleichwertige Fürsorge gesichert
ist.
Der Bundesrat kann bestimmen, ob und inwieweit durch Beteiligung an andern Kasseneinrichtungen, welche die Fürsorge für den
Fall der Invalidität oder des Alters zum Gegenstand haben, der Versicherungspflicht genügt wird. Gegenstand der Versicherung
ist der Anspruch auf Gewährung einer Invaliden-, bez. Altersrente. Invalidenrente erhält ohne Rücksicht auf
das Lebensalter derjenige Versicherte, welcher dauernd erwerbsunfähig ist. Erwerbsunfähigkeit ist dann
anzunehmen, wenn der Versicherte infolge seines körperlichen oder geistigen Zustandes nicht mehr im stande ist, durch eine
seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechende Lohnarbeit mindestens einen Betrag zu verdienen, welcher gleichkommt der Summe
eines Sechstels des Durchschnitts der Lohnsätze, nach welchen für ihn während der letzten fünf Beitragsjahre
Beiträge entrichtet worden sind, und eines Sechstels des 300fachen Betrags des nach dem Krankenversicherungsgesetz festgesetzten
ortsüblichen Tagelohns gewöhnlicher Tagearbeiter des letzten Beschäftigungsorts, in welchem er nicht lediglich vorübergehend
beschäftigt gewesen ist. Altersrente erhält, ohne daß es des Nachweises der Erwerbsunfähigkeit bedarf, derjenige Versicherte,
welcher das 70. Lebensjahr vollendet hat. Dagegen steht ein Anspruch auf Invalidenrente denjenigen Versicherten nicht zu,
welche erweislich die Erwerbsunfähigkeit sich vorsätzlich oder bei Begehung eines durch strafgerichtliches Urteil festgestellten
Verbrechens zugezogen haben.
In Gemeinden, in welchen land- und forstwirtschaftliche Arbeiter nach Herkommen ihren Lohn ganz oder zum Teil in
Naturalleistungen erhalten, kann auch die Rente bis zu zwei Dritteln in dieser Form gewährt werden. Solchen Personen, welchen
wegen gewohnheitsmäßiger Trunksuchtgeistige Getränke in öffentlichen Schankstätten nicht verabfolgt werden dürfen, ist
die Rente ihrem vollen Betrag nach in Naturalleistungen zu gewähren. Ist der Berechtigte ein Ausländer, so kann er, falls
er seinen Wohnsitz im DeutschenReich aufgibt, mit dem dreifachen Betrag der Jahresrente abgefunden werden.
Zur Erlangung eines Anspruchs auf Invaliden- oder Altersrente ist, außer dem Nachweis der Erwerbsunfähigkeit, bez.
des gesetzlich vorgesehenen Alters, erforderlich:
1) die Zurücklegung der vorgeschriebenen Wartezeit;
2) die Leistung von Beiträgen. Die Wartezeit beträgt:
1) bei der Invalidenrente 5 Beitragsjahre;
2) bei der Altersrente 30 Beitragsjahre. Diese Wartezeiten sind geringer bemessen für Versicherte, welche während der ersten 5 Kalenderjahre
nach dem Inkrafttreten des Gesetzes erwerbsunfähig werden, sowie für Versicherte, welche zur Zeit des Inkrafttretens des
Gesetzes das 40. Lebensjahr vollendet haben. Die Mittel
zur Gewährung der Renten werden vom Reich in Form
eines Zuschusses von 50 Mk. für jede Rente jährlich, dann von den Arbeitgebern und von den Versicherten durch laufende Beiträge
zu je gleichen Teilen aufgebracht.
Die Höhe dieser Beiträge ist so zu bemessen, daß durch dieselben gedeckt werden die Verwaltungskosten, die Rücklagen
zur Bildung eines Reservefonds, die durch Erstattung von Beiträgen voraussichtlich entstehenden Aufwendungen
sowie der Kapitalwert der von der Versicherungsanstalt aufzubringenden Anteile an denjenigen Renten, welche in dem betreffenden
Zeitraum voraussichtlich zu bewilligen sein werden. Zum Zweck der Bemessung der Beiträge und Renten werden nach der Höhe des
Jahresarbeitsverdienstes folgende Klassen (Lohnklassen) der Versicherten gebildet:
Die Renten werden für Kalenderjahre berechnet und in monatlichen Teilbeträgen im voraus gezahlt.
Bei Berechnung des von der Versicherungsanstalt aufzubringenden Teils der Invalidenrente wird ein Betrag
von 60 Mk. zu Grunde gelegt. Derselbe steigt mit jeder vollendeten Beitragswoche
Dabei werden 1410 Beitragswochen in Anrechnung gebracht. Die höchste Altersrente würde sich demnach
stellen auf 1410 x 0,10= 141 Mk. nebst 50 Mk. Reichszuschuß, zusammen 191 Mk.
Ein Arbeiter der vierten Lohnklasse, welcher nach 1410 Beitragswochen invalid wird, erhält 60 + 0,13
x 1410 + 50 = 293,30 Mk. Weibliche Personen, welche sich verheiraten, ehe sie in den Genuß einer Rente
gelangten, können die Hälfte der für sie geleisteten Beiträge zurückverlangen, sofern letztere wenigstens 5 Jahre lang
entrichtet wurden.
Einen gleichen Anspruch haben Witwen und Waisen männlicher Personen, welche, nachdem sie wenigstens 5 Jahre lang Beiträge
gezahlt haben, sterben, ehe sie eine Rente erhielten. Die Anwartschaft der Versicherten erlischt, wenn während 4 aufeinander
folgender Jahre für weniger als insgesamt 47 Wochen Beiträge entrichtet worden sind. Doch lebt dieselbe durch Wiedereintritt
in eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder durch freiwillige Beitragsleistung wieder auf.
II. Organisation. Die Invaliditäts-und Altersversicherung erfolgt durch Versicherungsanstalten, welche nach Bestimmung der
Landesregierungen für weitere Kommunalverbände ihres Gebiets oder für das Gebiet des Bundesstaats errichtet
werden. In der Versicherungsanstalt sind alle diejenigen Personen versichert, deren Beschäftigungsort im Bezirk der Versicherungsanstalt
liegt. Die Versicherungsanstalt wird durch einen Vorstand verwaltet, soweit nicht einzelne Angelegenheiten durch Gesetz oder
Statut dem Ausschuß oder andern Organenübertragen sind. Für jede Anstalt wird ein
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