Gesamtname jener
Züge germanischer und andrer
Völker nach dem
Westen und
SüdenEuropas im 4.-6. Jahrh.
n. Chr., durch welche das römische Weltreich zertrümmert und der Übergang vom
Altertum zum
Mittelalter angebahnt
ward. Durch diese
Heerfahrten und
Wanderungen erhielt das südwestliche
Europa
[* 4] eine neue
Bevölkerung,
[* 5] indem sich die Einwanderer,
die auf ihren
Zügen selbst oder in den neuen
Wohnsitzen das
Christentum annahmen, mit der alten römischen Einwohnerschaft
vermischten und neue soziale und sittliche Zustände sowie neue Sprachformen bildeten. In Mitteleuropa dehnten sich
teils die zurückgebliebenen
Stämme weiter aus, teils rückten dort andre
Völker, namentlich
Slawen, ein, bis die allgemeine
Völkerflut, in welcher einzelne
Stämme völlig untergingen oder in der Vereinigung mit andern verschwanden, allmählich
aufhörte und die
Völker sich in den gewonnenen Sitzen dauernd festsetzten.
Das
römische Reich erschien schon seit der Zeit vor
ChristiGeburt den an seiner Nordgrenze wohnenden
Barbaren,
sobald dieselben die feinern Genüsse und den
Luxus der hoch gesteigerten römischen
Kultur kennen gelernt, als ein
Land der
Sehnsucht, dessen Vorzüge nicht bloß zahlreiche einzelne
Germanen, sondern auch ganze
Stämme verlockten, in römische
Dienste
[* 6] zu treten oder sich mit Bewilligung des
Staats friedlich auf römischem
Boden niederzulassen, während
andre
Völker durch
Raub- und Kriegszüge sich der ersehnten
Reichtümer zu bemächtigen oder hoch kultivierte, fruchtbare Landstriche
zu erobern strebten. So verheerten die
Goten von der
Nordsee des
SchwarzenMeers zur
See die
KüstenKleinasiens und der
Balkanhalbinsel
[* 7] und drangen auch zu Land über die
Donau vor; die
Sachsen
[* 8] befuhren von den Mündungen der
Elbe und
Weser
aus die westlichen
Meere und plünderten die
KüstenBritanniens,
Galliens u. a. Die
Alemannen bemächtigten sich
schon im 3. Jahrh.
des römischen
Zehntlandes, die
Franken setzten sich gegen Ende des 3. Jahrh. zwischen
Rhein und
Schelde
fest.
Ein allgemeines
Vorrücken derGermanen nach Südwesten, eine förmliche
Überschwemmung des römischen
Reichs durch barbarische
Völkermassen, wurde aber erst durch den
Einfall der
Hunnen veranlaßt. Diese zerstörten 375 das mächtige Gotenreich
Hermanrichs.
Die Ostgoten wie andre germanische
Stämme unterwarfen sich den
Hunnen, welche sich in der ungarischen Tiefebene
festsetzten. Die Westgoten traten auf römisches Gebiet über; durch den
Sieg über
Valens bei
Adrianopel (378) sicherten sie
sich den
Besitz von
Mösien und
Thrakien.
Doch gingen die germanischen Eroberer nicht eigentlich auf Vernichtung der römischen
Kultur aus, vielmehr wollten sie erst
recht an ihren Vorzügen teilnehmen. Mit Ausnahme von
Britannien, wo die heidnischen
Angelsachsen die romanisierten
Briten aus ihrem
Reich verdrängten, und den
Rheinlanden, wo die dünne romanische
Bevölkerung nach dem
Westen zurückwich,
wurden die
Römer
[* 15] in ihren
Wohnsitzen, bei ihrem
Recht, ihrer
Sprache
[* 16] und ihren
Sitten belassen und mußten nur ein Drittel, selten
mehr, von ihrem Grundbesitz den germanischen Eroberern abtreten, welche in den von germanischen
Königen
beherrschten
Reichen den kriegerischen
Adel bildeten.
Die überlegene
Kultur der weit zahlreichern römischen
Bevölkerung übte sehr bald einen assimilierenden Einfluß auf die
Germanen aus, deren völlige Verschmelzung mit den
Römern hauptsächlich durch ihr arianisches
Christentum verzögert wurde.
Auch bewiesen die
Germanen einen empfänglichen
Sinn für die Segnungen eines geordneten Staatswesens und vereinigten sich
mit den
Römern zur Abwehr des neuen Kriegssturms, welchen der Hunnenkönig
Attila, der bereits 437 das Burgunderreich am Mittelrhein
zerstört hatte, 451-453 an der
Spitze ungeheurer Völkermassen unternahm.
Die Trümmer des weströmischen
Reichs in
Italien und
Gallien konnten sich gleichwohl nicht behaupten: das
Rhônegebiet nahmen die vom
Rhein vertriebenen
Burgunder ein, das Seinegebiet 486 die
Franken. In
Italien machte der germanische
Söldnerführer
Odoaker 476 dem ohnmächtigen weströmischen Kaisertum ein Ende;
seine Herrschaft wurde schon 489 wieder durch
die Ostgoten gestürzt, deren König
Theoderich in
Italien ein wohlgeordnetes, lebenskräftiges
Reich gründete
und eine schiedsrichterliche
¶
mehr
Oberhoheit über die germanischen Reiche erlangte. So waren um 500 alle Provinzen des weströmischen Kaiserreichs im Besitz der
germanischen Eroberer. Unter dem oströmischen Kaiser Justinian I. (527-565) unternahmen die Römer die Wiedereroberung des
Verlornen. Belisar zerstörte 534 das Vandalenreich in Afrika und vereinigte das Land wieder mit dem römischen Reich,
er und Narses eroberten 535-553 auch Italien. Indes den größten Teil dieses Landes, nämlich Ober- und Mittelitalien, verloren
sie 568 wieder an die Langobarden, welche nach Zerstörung des Gepidenreichs (566) in Italien einfielen.
Das Westgotenreich unterlag erst 711 den Arabern. Das Frankenreich endlich dehnte durch glückliche Eroberungen seine Herrschaft
über einen großen Teil des alten weströmischen Reichs aus, indem es 507 das westgotische Gallien, 534 das
Burgunderreich, 774 das Langobardenreich eroberte, und gewann durch Unterwerfung der Alemannen (496), der Thüringer (530),
der Sachsen (785) und der Bayern
[* 18] (788) sämtliche germanische Völker Mitteleuropas für die christliche Kultur, welche es zugleich
durch den Sieg bei Tours
[* 19] (732) gegen den Islam verteidigte.
Die Wiederaufrichtung des weströmischen Kaiserreichs durch den Frankenkönig Karl d. Gr. 800 gab der Völkerbewegung im Abendland
einen gewissen Abschluß. Das Christentum war gerettet und seine weitere Ausbreitung gesichert, von der antiken Kultur bildungsfähige
Reste erhalten, der romanischen Welt neue Lebenssäfte zugeführt, endlich dem Germanentum die Entwickelung
zu einer höhern Zivilisation ohne Verlust seiner Nationalität ermöglicht. Während nun der europäische Westen zur Ruhe gekommen
war, die erst im 8. und 9. Jahrh., als in den skandinavischen Völkern die Wanderlust erwachte
(s. Normannen), gestört wurde, dauerte im Osten die Bewegung noch fort.
Zwar wurde das Land von der Weichsel bis zur Elbe, Saale und dem Böhmerwald schon im 5. Jahrh. von slawischen
Völkerstämmen besetzt (s. Slawen); im innern Rußland aber dauerte das Drängen der Slawen gegen die Finnen noch längere
Zeit, und an der untern Donau, wo die tatarischen Avaren (s. d.), denen die LangobardenPannonien überließen,
lange Zeit das mächtigste Volk waren, bis Karl d. Gr. sie 796 vernichtete, trat erst allmählich ein Stillstand der Bewegung
ein, nachdem im 7. Jahrh. die finnischen, später aber slawisierten Bulgaren und Serben feste Sitze genommen hatten. Im 9. Jahrh.
unterbrach denselben das Eindringen der Magyaren (s. d.) in Ungarn,
[* 20] deren Kriegsfahrten nach Westen hin
die sächsischen Könige ein Ziel setzten.
Vgl. Wietersheim, Geschichte der Völkerwanderung (Leipz. 1858-64, 4 Bde.;
neue Bearbeitung von Dahn, das. 1880-81, 2 Bde.);
Pallmann, Geschichte der Völkerwanderung (Gotha
[* 21] u. Weim.
1863-64, 2 Bde.);