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eröffnet. Die Thronrede versprach die Wiederherstellung der Integrität der ungarischen Krone, erkannte die Rechtskontinuität und die formelle Gültigkeit der Gesetze von 1848 an, forderte aber deren Revision vor der Einführung. Die Verhandlungen hierüber und über die Feststellung der gemeinsamen Angelegenheiten der Gesamtmonarchie waren noch nicht zum Abschluß gediehen, als wegen des Kriegs mit Preußen [* 2] der Landtag geschlossen wurde.
In dem Streite, der nach dem Frieden von Prag [* 3] in Österreich [* 4] über die Neugestaltung des Reichs ausbrach (s. Österreichisch-Ungarische Monarchie, S. 522), nahmen die Ungarn [* 5] unter Führung Deáks von Anfang an eine klare, bestimmte Stellung ein und errangen dadurch einen glänzenden Sieg. Um einer Auflösung der Monarchie in fünf Königreiche und der Herrschaft der Slawen vorzubeugen, entschied sich der leitende Minister v. Beust mit Zustimmung der Deutschliberalen für den Dualismus, für die Teilung des Reichs in eine westliche Hälfte, wo die Deutschen, und eine östliche Hälfte, wo die Magyaren das Übergewicht haben sollten.
Beust verständigte sich in persönlichen Verhandlungen mit den Führern der Deákpartei über die Bedingungen des Ausgleichs zwischen Österreich und Ungarn. Dem Reichstag, wie der Landtag nun wieder hieß, ward die Wiederherstellung der Verfassung von 1848, für welche nur wenige Modifikationen ausbedungen wurden, sowie die Einsetzung eines besondern verantwortlichen Ministeriums unter dem Vorsitz von Julius Andrássy angezeigt. Siebenbürgen und das Banat wurden sofort mit Ungarn wieder verschmolzen, mit Kroatien ward ein Ausgleich vorbehalten, der am zu stande kam. Ungarn ward als selbständiger Staat anerkannt, der mit Österreich durch gewisse gemeinsame Angelegenheiten verbunden war und zunächst auf zehn Jahre ein Zoll- und Handelsbündnis mit ihm schloß.
Von den anerkannten Staatsschulden und von den gemeinsamen Ausgaben für das Auswärtige, Heer und Marine übernahm Ungarn bloß 30 Proz., stand aber in den Delegationen der österreichischen Reichshälfte ebenbürtig zur Seite. Mit allem Pomp früherer Jahrhunderte erfolgte in Budapest [* 6] die feierliche Krönung des Königs, und damit war die Versöhnung der Magyaren mit der Dynastie besiegelt. Die heimgekehrten Flüchtlinge schlossen sich ehrlich der neuen Ordnung der Dinge an, das Volk bethätigte bei jeder Gelegenheit seine Loyalität, und der Reichstag, in welchem die gemäßigte Deákpartei zunächst noch die entschiedene Mehrheit hatte, nahm 1868 bereitwilligst das Wehrgesetz in der Fassung der Regierung an; nicht nur das stehende Heer, sondern auch die Landwehr wurde unter den Befehl des Reichskriegsministeriums gestellt, die letztere jedoch als Honvédarmee unter dem Kommando des Erzherzogs Joseph besonders organisiert.
Das Bewußtsein des durch Ausdauer und Klugheit errungenen Siegs trieb die Magyaren an, den freiheitlichen Ausbau des Nationalstaats möglichst rasch zu vollenden. Die politische Gleichstellung der Juden, die fakultative Zivilehe, ein Volksschulgesetz u. a. wurden beschlossen. Das Nationalitätengesetz vom bestimmte, daß alle Bewohner Ungarns die einheitliche und unteilbare ungarische Nation bilden, die ungarische Sprache Staatssprache sein sollte.
Das Übergewicht der Magyaren bei den Wahlen wurde durch Verteilung der Wahlbezirke und des Stimmrechts aufrecht erhalten. Vor allem wollte man die materielle Entwickelung des Landes durch Eisenbahnen fördern, und durch Anleihen für den Bau von Staatseisenbahnen und durch Zinsgarantien für Privateisenbahnen belastete das Ministerium Lónyay, welches November 1871 an Stelle des Andrássyschen getreten war, den Staatshaushalt so sehr, daß, als noch schlechte Ernten, Überschwemmungen u. dgl. hinzukamen, bald ein bedenkliches Defizit in den Einnahmen (1874: 31 Mill.) eintrat und man schon 1873 zu neuen Steuern schreiten mußte; der geträumte ungeheure Aufschwung des Landes erwies sich als eine Illusion. Auch die Ministerien der Deákpartei, welche nach Lónyays Rücktritt (November 1872) die Regierung übernahmen, Szlávy und Bittó, vermochten selbst durch Anleihen der Finanznot nicht abzuhelfen, und dies bewirkte die Auflösung der Deákpartei, an deren Stelle jetzt als herrschende Partei im Reichstag die aus einem Teil der Deákpartei und dem gemäßigten Teil der bisherigen Radikalen gebildete liberale Partei trat.
Das Haupt der neuen Partei war Koloman Tisza, welcher im Februar 1875 zunächst unter Wenckheim als Minister des Innern, seit 16. Okt. aber als Ministerpräsident die Seele der Regierung wurde. Das Defizit wurde zunächst vom Finanzminister Szell durch eine Reform der Steuererhebung bedeutend gemindert; dann erlangte Tisza bei den Verhandlungen mit Österreich über die Erneuerung des Handelsvertrags und des finanziellen Ausgleichs für Ungarn eine günstigere finanzielle Stellung durch Erhöhung der Zölle und Anteil an der Nationalbank.
Schwierig schien sich die Lage Ungarns zu gestalten beim Ausbruch der orientalischen Krisis 1875. Die Magyaren waren der slawischen Bewegung, welche sich im Aufstand der Herzegowina, in der bulgarischen Empörung und im serbisch-türkischen Krieg kundgab, durchaus abgeneigt und gaben ihre Sympathien für die Türken bei verschiedenen Gelegenheiten geräuschvoll zu erkennen. Das Einschreiten Rußlands auf der Balkanhalbinsel, [* 7] seine glänzenden Erfolge im Winter 1877/78 und die Neutralität der Reichsregierung diesen Ereignissen gegenüber erweckten in Ungarn die größten Besorgnisse. In dieser Zeit bewiesen Tisza und die von ihm geleitete Mehrheit des Reichstags eine wirklich staatsmännische Klugheit.
Sie bereiteten der auswärtigen Politik des Reichs keine Schwierigkeiten, ja als die Okkupation Bosniens und der Herzegowina 1878 große Verluste und Kosten verursachte und die Entrüstung über die unpopuläre Unternehmung in Ungarn aufs höchste stieg, gelang es Tisza, den Sturm zu beschwichtigen und sich und die liberale Partei in der Herrschaft zu behaupten. In den Delegationen konnte die Reichsregierung auf die Unterstützung der Ungarn und damit auf die Annahme ihrer Anträge auch gegen die deutschliberale Partei in Österreich rechnen: die Kosten der Okkupation und die Organisation der neuen Provinzen wurden von ihnen bewilligt, das Wehrgesetz auf neue zehn Jahre genehmigt.
Dafür thaten der Hof [* 8] und die Reichsregierung alles, um Tisza und die liberale Partei zu unterstützen. Die nicht seltenen Beispiele von Bestechlichkeit von Beamten und Mitgliedern der herrschenden Partei und von Beteiligung derselben an Geldgeschäften, die zu Skandalen und Duellen führten, schadeten der ungarischen Regierung nicht ernstlich. In der rücksichtslosen Magyarisierung Ungarns, in der Unterdrückung der Deutschen, namentlich der Siebenbürger Sachsen, [* 9] wurde dem Ministerium von Wien [* 10] aus völlig freie Hand gelassen, während gleichzeitig in Österreich die deutschliberale ¶
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Verfassungspartei wegen ihrer kurzsichtigen Opposition gegen die auswärtige Politik der Krone ihre maßgebende Stelle einbüßte. Indem Tisza entschieden dafür eintrat, daß der Staat vor allem ungarisch sein, gleichzeitig aber in der Gesamtmonarchie seine Interessen nachdrücklich zur Geltung bringen müsse, gelang es ihm immer wieder, die Opposition im Parlament zu besiegen und bei den Wahlen die Mehrheit zu behalten. In der That war das Programm der äußersten Linken, Losreißung von Österreich, unausführbar und, wenn es ausgeführt worden wäre, von den schädlichsten Folgen für Ungarn. Die Finanzverhältnisse nahmen immer noch die besondere Aufmerksamkeit in Anspruch, da das Defizit aus dem Staatshaushalt nicht zu beseitigen war. Es wurden daher frühere Anleihen zu einem geringern Zinsfuß konvertiert und neue Steuern eingeführt, andre erhöht.
Die Magyarisierung der Schulen wurde 1883 durch ein Gesetz über die Mittelschulen, welches die Kenntnis des Magyarischen für alle Prüfungen vorschrieb, fortgesetzt. Die Ablehnung eines Gesetzes über die Eheschließung zwischen Christen und Juden durch das Oberhaus (1884) brachte die lange beabsichtigte Reform desselben in Gang. [* 12] Dieselbe wurde 1886 zum Gesetz erhoben, beseitigte die alte Magnatentafel, die nahezu 900 zu zwei Dritteln gänzlich verarmte Mitglieder zählte, und bestimmte, daß fortan außer 50 von der bisherigen Tafel zu wählenden Magnaten, 30 von der Regierung zu ernennenden Mitgliedern, den katholischen Prälaten und den protestantischen Kirchenhäuptern das Magnatenhaus aus denjenigen Magnaten bestehen solle, welche 3000 Gulden Grundsteuer zahlten. Die Opposition versuchte vergeblich, Tisza zu stürzen; selbst ein Anfang 1889 mit Volksaufläufen verbundener heftiger Ansturm gegen das neue Wehrgesetz, welches die Pflichten der Einjährig-Freiwilligen verschärfte und die Kenntnis der deutschen Sprache [* 13] von allen Reserve- und Landwehroffizieren verlangte, vermochte die Stellung des gewandten Mannes nicht zu erschüttern.
[Litteratur.]
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Derselbe, Geschichte des Königreichs Ungarn (Wien 1814-15, 5 Bde.);
Feßler, Geschichte der Ungarn und ihrer Landsassen (neue Bearbeitung von Klein, Leipz. 1867 bis 1883, 5 Bde.);
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Szalay, Geschichte Ungarns (deutsch von Wögerer, Pest 1870 bis 1875, 3 Bde.);
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Salamon, Ungarn im Zeitalter der Türkenherrschaft (deutsch, Leipz. 1887);
Horváth, Fünfundzwanzig Jahre aus der Geschichte Ungarns, 1823-48 (deutsch, das. 1867, 2 Bde.);
Szemere, Hungary from 1848 to 1860 (Lond. 1860);
Vargyas, Geschichte des ungarischen Freiheitskampfes (Preßb. 1869);
Springer, Geschichte Österreichs seit dem Wiener Frieden 1809, Bd. 1 u. 2 (Leipz. 1863-65);
Rogge, Österreich von Világos bis zur Gegenwart (das. 1872-73, 3 Bde.);
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Léger, La Hongrie politique et religieuse (Brüssel [* 15] 1860);
Derselbe, La Hongrie et les Slaves (das. 1860);
Sayous, Histoire générale des Hongrois (Par. 1876, 2 Bde.);
»Ungarische Reichstagsakten«; »Historisches Archiv«, herausgegeben von der Ungarischen Historischen Gesellschaft.