mehr
begabte junge Magyaren kamen als Gardisten nach Wien [* 2] und mit einer höhern Kultur in Berührung, sie lernten die Bildung und die Litteraturen des Westens kennen und empfanden erst angesichts dieser glänzenden Beispiele die tiefe geistige Erniedrigung, in die ihr Volksstamm gesunken war. Sie schämten sich ihrer Barbarei und beschlossen, die Regeneratoren ihres Volkes zu werden. Die Gardisten thaten sich zusammen und schufen in klarer, bestimmter Absicht eine magyarische Schriftsprache und eine magyarische Nationallitteratur.
Allerdings gab es unter diesen Gardisten keine wahren poetischen Talente; sie schrieben nicht, um einem dichterischen, sondern um einem patriotisch-politischen Drang zu genügen, und sie beschränkten sich der Mehrzahl nach darauf, die berühmtern Werke alter und neuerer fremder Schriftsteller in magyarischer Sprache [* 3] mehr oder minder glücklich nachzuahmen. Die nennenswertesten unter diesen verdienstvollen Gardisten, welche die Gründer der modernen magyarischen Litteratur wurden, sind Georg Bessenyei (1752-1811), Abraham Barcsay (1742-1806), Alexander Baróczy (1737-1809) u. a. Früh teilten sich die Gardisten und ihre Gesinnungsgenossen außer der Garde in drei Schulen.
Die französische (Bessenyei, Barcsay, Anyos, Graf Joseph Teleki, Jos. Péczeli, Baróczy) ahmte Voltaire, Racine, Wieland etc. nach; die klassische (David Baróti Szabó, Nikolaus Révai, Joseph Rajnis, Ben. Virág) hielt sich an das Muster der Alten, und nur die volkstümliche (A. Dugonics, A. Palóci Horváth, Graf J. Gvadányi) machte den schüchternen Versuch, national und selbständig zu sein. Den ersten Bahnbrechern folgte eine Schriftstellergeneration, deren Hervorbringungen bereits wesentlich höher stehen.
Joseph Kármán (1771-98) schrieb seinen sentimentalen Roman »Fannys Hinterlassenschaft«, der Aufsehen erregte; Michael Csokonai (1773-1805) dichtete das komische Epos »Dorothea«, die Satire »Froschmäusekrieg«, einige Lustspiele, die Anlauf [* 4] zur Selbständigkeit nahmen, besonders aber lyrische Verse, welche im Munde des Volkes noch heute leben; endlich trat Alexander Kisfaludy (1772-1844) auf, dessen Sammlung lyrischer Gedichte: »Himfys Liebe«, für Ungarn [* 5] epochemachend wurde, insofern hier zum erstenmal die pedantische konventionelle Schulpoesie verlassen und neben vielem Schwulst und Unnatürlichkeit manchmal doch der Ton wahren Gefühls angeschlagen wird.
Von großem Einfluß auf die weitere
Entwickelung der ungarischen
Litteratur war
Franz
Kazinczy (1759-1831) und sein
Kreis.
[* 6]
Kazinczy,
wenig bedeutend als
Poet, that sich als
Reformator der noch wenig ausgebildeten magyarischen
Sprache hervor. Die gleiche
Richtung
(Entwickelung,
Veredelung und
Bereicherung des magyarischen
Idioms) befolgten der Odendichter
Daniel
Berzsenyi
(1776-1836), der
Lyriker M. Vitkovics (1778-1829), der Dramenübersetzer G. Döbrentei (1786-1851), der Dramendichter
Karl
Kisfaludy (1788-1830), der eigentliche Begründer des magyarischen Kunstdramas, und der Ependichter
Andreas
Horváth (1778-1839).
Was diese Schriftstellergruppe (den sogen. Kazinczyschen
Kreis) sowie deren Zeitgenossen
Kölcsey,
Andr.
Fáy,
Joseph
Katona u. a.
charakterisiert, das ist der nahezu ausschließlich patriotische
Inhalt ihrer Werke; der einzige
Stoff, den sie in allen Dichtungsarten
behandeln, ist ihr Vaterland, dessen glorreiche Vergangenheit, dessen betrübende Gegenwart und herrliche Zukunft.
Noch heute
hat sich die magyarische Litteratur von diesem durch die politischen Verhältnisse der Zeit erklärten und
gerechtfertigten
engen Stoffkreis nicht gänzlich loszuringen vermocht, und noch immer selten sind bis zu diesem
Tag die
magyarischen Werke geblieben, die sich von beschränktem Nationalismus zu freier allgemeiner Menschlichkeit emporheben.
Im 19. Jahrh. nimmt die u. L. einen kräftigen Aufschwung. Zu den bedeutendsten Leistungen derselben gehört die Tragödie »Bánk Bán« von Joseph Katona (1792-1830), welche bis heute noch als das hervorragendste dramatische Kunstwerk der Magyaren gilt. Großen Ruhm erwarb sich ferner Michael Vörösmarty (1800-1855),
den manche den größten Dichter
Ungarns nennen,
mit dem
Epos
»Zaláns
Flucht« (1824), während von seinen zahlreichen
Dramen, poetischen
Erzählungen und lyrischen Gedichten
nur die letztern höhern Wert besitzen. Im allgemeinen ist
Vörösmarty mehr
Rhetor als Dichter, seine
Stärke
[* 7] ist die
Deklamation.
Gregor
Czuczor,
Joseph
Bajza,
Johann
Garay, Alex. Vachott (1818-61) sind andere
Epiker und
Lyriker dieser
Periode, deren bedeutendster Dichter indes
Alexander
Petöfi ist (1823-1849).
Petöfi, dessen poetische
Erzählung
»Held János«,
eine vortreffliche volkstümlich humoristische
Dichtung, dessen
Roman »Der
Strick des
Henkers« und dessen
Drama
»Tiger und
Hyäne« wertlose, unreife
Produkte sind, erhebt sich als
Lyriker weit über seine Vorgänger und ist der erste,
dessen Gedichte wahr, natürlich, einfach und menschlich sind. Er ist neben
Joseph
Katona die erste
Erscheinung in der magyarischen
Litteratur, die mit dem
Maßstab
[* 8] der
Weltlitteraturen gemessen werden kann, und die neben den großen
Namen
der letztern einen Platz beanspruchen darf.
Noch bedeutender als
Petöfi ist
Johann
Arany (1817-82), der bedeutendste ungarische
Balladen und Ependichter dieses
Jahrhunderts. Vortreffliche
Balladen dichteten auch P.
Gyulai,
Joseph
Kiß (geb. 1843) und
Ludwig
Tolnai (geb. 1837). Als
Lyriker verdienen
Michael
Tompa,
Franz
Császár,
Paul Jámbor
(Pseudonym Hiador),
Kol.
Lisznyay (1823-63),
Johann Vajda (geb. 1827),
Joseph Lévay (geb. 1825),
Karl
Szász,
Emil
Abrányi (geb. 1851), Alex. Endrödy
(geb. 1850) hervorgehoben zu werden; als
Dramatiker sind
Szigligeti,
Czakó,
Obernyik,
Ludwig Dobsa (geb. 1824),
Karl
Hugo
(Hugo
Bernstein,
[* 9] 1817-77),
Kol.
Tóth, Aloys
Degré (geb. 1820),
Joseph Szigeti (geb. 1822),
Eduard
Tóth,
Gregor
Csiky),
Eugen Rákosi (geb. 1842),
L. v.
Dóczy,
Ludwig
Bartók (geb. 1851) zu erwähnen.
Auf dem Gebiet des
Romans thaten sich hervor: Freiherr
Nik.
Jósika (1794-1865), der »ungarische
Walter
Scott« genannt, dessen
Romane auch in
Deutschland
[* 10] viel gelesen wurden, ferner
Ludwig
Kuthy (1813-64; »Die Geheimnisse des Vaterlands«),
Baron
Joseph
Eötvös (1813-71; »Der
Kartäuser«, unter dem Einfluß der Chateaubriandschen christlich-romantischen
Sentimentalität
geschrieben; »Dorfgeschichten«, realistisch und voll
Humor; »Der Dorfnotar« und
»Ungarn im Jahr 1514«, satte, fleißige Gemälde
ungarischen
Lebens zu bestimmten
Perioden),
Baron
Siegmund
Kemény (1816-75),
Moritz
Jókai (geb. 1825),
Paul
Gyulai (geb. 1826), Zoltan
Beöthy (geb. 1848). Die letzten zwei Jahrzehnte haben außer einigen bedeutenden Werken
Johann
Aranys,
einigen
Dramen, die einen gewissen Tageserfolg errangen, und einigen
Romanen
Jókais nur weniges hervorgebracht, was besonderer
Erwähnung verdiente und hoffen könnte, außerhalb
Ungarns zu interessieren. Hierher gehört vor allem das
philosophische
Drama »Die
Tragödie des
Menschen« von Emerich v.
Madách (1823-1864), eine
Dichtung, reich an erhabenen
Gedanken
und
¶
mehr
poetischen Schönheiten. Ein hervorragendes Talent der Gegenwart ist Koloman Mikszáth (geb. 1849), dessen nordungarische
Dorfgeschichten
auch außerhalb Ungarns großen Beifall gefunden haben. Die lebende Schriftstellergeneration widmet sich fast ausschließlich
der Journalistik, und die Folge davon ist tiefer Verfall auf allen Gebieten der schönwissenschaftlichen Litteratur. Diese
hat bisher nicht gehalten, was sie in den 40er Jahren dieses Jahrhunderts zu versprechen schien; den Namen
Eötvös, Petöfi, Arany, Jókai haben sich keine neuern von nur annähernd gleichem Klang angefügt.
Die wissenschaftliche Litteratur Ungarns war bis ins 18. Jahrh. fast ausschließlich lateinisch, ja noch in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts bedienten sich die Gelehrten in der Litteratur wie in der Schule mit Vorliebe der Sprache Roms. Die ersten magyarischen Geschichtswerke sind die chronikartigen Aufzeichnungen aus dem 16. Jahrh. von Anton Verancsics, Franz Zay, Valentin Homonnai, Franz Wathai und die Chroniken von Stephan Székely und Kaspar Heltai. Im 17. Jahrh. schrieb Emmerich [* 12] Tököly Memoiren über mehrere seiner Feldzüge;
Fürst Johann Kemény und Niklas Bethlen verfaßten Autobiographien;
zahlreiche andre politische Persönlichkeiten von bedeutenderer Stellung zeichneten die Ereignisse auf, deren Zeugen sie waren;
die Chronik von Gregor Petheö, später von Nachfolgern fortgesetzt, blieb lange das einzige geschichtliche
Handbuch des ungarischen
Publikums. Im 18. Jahrh. ragen hervor: »Historie Siebenbürgens« von Mich. Cserey
und »Metamorphose Siebenbürgens«, ein sittengeschichtliches Werk von Peter Apor;
»Briefe aus der Türkei« [* 13] von Cl. Zágoni-Mikes, Sekretär [* 14] Franz Rákóczys II.;
ferner Esaias Budais »Geschichte von Ungarn« (erschienen 1805);
Franz Budais »Bürgerliches Lexikon«, die Biographien ausgezeichneter Ungarn enthaltend.
Unter dem Einfluß der Göttinger historischen Schule, dann der
Arbeiten der ungarischen
Historiker Georg Pray und Steph. Katona sowie der Arbeiten von Gebhardi, Feßler und Engel erwachte im
ersten Viertel des 19. Jahrh. in der Geschichtschreibung ein neuer Geist. Man begann mit großem Fleiß Daten zu sammeln, Kritik
und Quellenstudium wurden leitende Grundsätze. Georg Fehér, Nikolaus v. Jankovics, Baron Aloys Mednyánszky,
Johann Czech, Benedikt Virág, Stephan Horváth wirkten als Forscher oder eröffneten durch ihre Schriften neue Gesichtskreise.
Später thaten sich hervor: Paul Jászay, Graf Joseph Teleki (Geschichte der Hunyadys), Ladislaus v. Szalay und Michael Horváth mit bedeutenden Werken über die ganze Geschichte Ungarns und Spezialwerken über einzelne Partien und Persönlichkeiten;
Arnold Ipolyi (früher Stummer), Anton Csengery, Karl Szabó, Alexander Szilágyi, Franz Salamon (Geschichte Ungarns zur Zeit der
Türkenherrschaft u. a.), Koloman Thaly (Geschichte F. Rákóczys und seiner Zeit), Wilhelm Fraknói (früher Frankl; Biographie
Peter Pazmánys, Geschichte der ungarischen
Landtage u. a.), Julius Pauler, Wolfgang Deák, Max Falk (Biographien Széchényis und Ladislaus
Szalays) u. a. Einen bedeutenden Aufschwung hat die ungarische
Einzel-Geschichtsforschung
seit 1867 genommen, insbesondere durch die Wirksamkeit der Ungarischen
Historischen Gesellschaft, deren Organ: »Századok« (»Jahrhunderte«)
eine Fundgrube zahlreicher Spezialarbeiten und Daten ist.
Die Litteraturgeschichte ist hauptsächlich durch Franz Toldy (früher
Schedel) und Zoltán Beöthy, die Ästhetik durch A. Greguß, P. Gyulai, Z. Beöthy, Eugen Péterffy, Friedr.
Riedl u. a. vertreten. Der Beginn der rechts-, der staatswissenschaftlichen und politischen
Litteratur fällt gleichfalls ins 16. Jahrh. Das Tripartitum Verböczys erschien, von B. Veres ins Ungarische
übersetzt,
zuerst 1565. Aus dem 17. Jahrh. sind zu verzeichnen: P. Kitonich (»Leitfaden der Prozeßordnung«),
Paul Medgyesi (Werke über Kirchenverwaltung),
J. Fésüs (»Spiegel [* 15] der Könige«),
M. Teleki (»Fürstenseele«);
im 18. Jahrh. erregten Sam. Balia und Georg Aranka in Siebenbürgen mit ihren staatsrechtlichen Versuchen Aufsehen;
Elias Georch war der erste, der sämtliche ungarische Gesetze in ungarischer Sprache bearbeitete. Im 19. Jahrh. gaben die Reformbewegung und die staatsrechtlichen Bestrebungen, die erst zur Gesetzgebung von 1848, dann zum Ausgleich von 1867 führten, der rechts- und staatswissenschaftlichen Litteratur bedeutende Impulse. Zu nennen sind: Alexander Kövy, Paul Szlemenics, Ignaz Frank, Johann Fogarassy, Theodor Pauler, Ignaz Udvardy, Stephan Szokolay, Franz Deák, Aurel und Emil Dessewffy, Joseph Eötvös u. a. Deák, die Brüder Dessewffy und Eötvös sind zugleich Größen auf dem Felde der politischen Litteratur, deren epochemachender Schöpfer Stephan Széchényi (»Kredit«, »Licht«, [* 16] »Stadium«, »Ein Volk des Ostens« u. a.) war. In dessen Fußstapfen trat Nikolaus Wesselényi.
Der Schöpfer der ungarischen politischen Journalistik ist Ludw. Kossuth. Auf diesem Feld sind zu nennen: Graf Aurel Dessewffy, Siegmund Kemény, Anton Csengery, Joseph Eötvös, Johann Török. Als politische Redner ersten Ranges glänzen: Stephan Széchényi, Kossuth, Wesselényi, Kölcsey, Franz Deák, Joseph Lonovics, Aurel Dessewffy, Barth. Szemere, Gabriel Kazinczy, Eötvös, Koloman Ghyczy, Paul Somssich, Balthasar Horváth, Desidor Szilágyi, Graf Albert Apponyi u. a. Der erste, der eine philosophische Doktrin in ungarischer Sprache bearbeitete, war Johann Apáczai Cseri (»Ungarische Logik«, 1659). Vom Ende des 18. Jahrh. an ist eine große Zahl ungarischer Lehrbücher über Philosophie und Geschichte der Philosophie zu verzeichnen, die jedoch meist Kompilationen deutscher und französischer Werke sind.
Die Naturwissenschaft gelangte in Ungarn erst in neuester Zeit, unterstützt durch die Mittel, welche die Regierung unmittelbar und mittelbar diesem Zweig der Wissenschaft zuwendet, zu bedeutenderer Pflege. Die geologische Landesanstalt, das meteorologische, das chemische, das physiologische und hygieinische Landesinstitut, die neue chirurgische Klinik (sämtlich in Budapest), [* 17] die Naturwissenschaftliche und die Geologische Gesellschaft sind ebenso viele Stätten wissenschaftlicher Thätigkeit.
Die Hervorragendsten, von denen zahlreiche Arbeiten vorliegen, sind: Joseph Szabó, Joseph Krenner, Max v. Hantken (Geologie); [* 18]
A. Jedlik, Roland Eötvös, Koloman Szily (Physik);
Petzval, Véß, Hunyady (Mathematik);
Konkoly (Astronomie); [* 19]
Abt Krueß, Guido Schenzl (Meteorologie);
Lenhossek (Anatomie);
Jendrassik (Physiologie);
Semmelweis (Geburtshilfe);
Balassa und Joseph Kovács (Chirurgie) u. a. Die Naturwissenschaftliche Gesellschaft gibt eine reichhaltige Zeitschrift und die bedeutendsten naturwissenschaftlichen Werke der europäischen Litteratur in Übersetzungen heraus.
Ein gleicher Aufschwung ist auf dem Felde der Nationalökonomie (J. ^[Julius = Gyula] Kautz, M. Lónyay, A. György u. a.), der Statistik (A. Konek, Keleti, J. Körösi, Johann Hunfalvy), der Geographie und Reiselitteratur (Johann und Paul Hunfalvy, Ladislaus Magyar, Joh. Xantus u. a.), der ¶