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von den Russen erobert wurde. Im Juni gingen die Russen über die Donau, ohne daß der türkische Oberbefehlshaber Abd ul Kerim es hinderte, eroberten 6. Juli Tirnowa, überstiegen 12. Juli mittels des Twyodischkapasses den Balkan, wiegelten die Bulgaren Nordthrakiens auf, erstürmten 19. Juli den für schweres Geschütz passierbaren Schipkapaß, besetzten Jamboli, Karlowo und andre Städte im Süden des Balkans, eroberten Nikopoli an der Donau und belagerten Rustschuk.
Diesem glänzenden Anfang des Feldzugs entsprach aber der Fortgang nicht. Bei dem Versuch, die befestigten Höhen von Plewna [* 2] zu nehmen, erlitten die Russen 20., 21. und 31. Juli Niederlagen, die eine rückgängige Bewegung zur Folge hatten. In Thrakien von Suleiman Pascha angegriffen, mußten sie sich in den Schipkapaß zurückziehen, den sie mannhaft verteidigten; in der Donaugegend wurden sie über den Schwarzen Lom geworfen. Sie sahen sich genötigt, die früher nicht recht gewürdigte Bundesgenossenschaft mit den Rumänen anzunehmen, erlitten aber bei erneuten Angriffen gegen Plewna vom 7. bis 12. Sept. abermals Niederlagen, so daß bedeutende Truppennachschübe nötig wurden.
Auch in Asien [* 3] stritten sie bei Zewia unglücklich gegen die Türken und wurden auf ihr eignes Gebiet zurückgeworfen, bis es ihnen 15. Okt. gelang, auf dem Aladjaberg einen glänzenden Sieg davonzutragen. Die Türken hatten militärisch mehr geleistet, als man, namentlich nach dem Beginn des Kriegs, von ihnen erwartet hatte. Da sie indes gar keine Unterstützung fanden, mußten sie endlich doch der Übermacht unterliegen. Auf dem asiatischen Kriegsschauplatz ging 18. Nov. Kars verloren, und die Türken wurden nach Erzerum zurückgetrieben; in Bulgarien [* 4] aber besiegelte der Fall des lange heldenmütig verteidigten Plewna (10. Dez.) den Verlust eines großen Teils der westlichen Bulgarei, in welche zu gleicher Zeit die Serben eindrangen, während die Montenegriner in Albanien siegreich vorrückten. Anfang 1878 überschritten die Russen den Balkan an mehreren Stellen zugleich. Die Armee Suleimans wurde bei Philippopel völlig zersprengt, die Schipkaarmee gefangen genommen und in Adrianopel, das die Türken freiwillig geräumt, von den Russen, welche bereits bis zum Marmarameer und bis an die Thore Konstantinopels vorgedrungen waren, der Waffenstillstand diktiert. Diesem folgte 3. März, da die Türken nirgends Hilfe fanden, der Friede von San Stefano. In diesem wurden die Unabhängigkeit Rumäniens und Serbiens, des letztern und Montenegros Vergrößerung, die Abtretung der Dobrudscha und eines Teils von Armenien, die Bildung eines autonomen Fürstentums Bulgarien, welches außer dem eigentlichen Bulgarien einen großen Teil Rumeliens und Makedoniens umfaßte, stipuliert und die Zahlung einer beträchtlichen Kriegsentschädigung der Türkei [* 5] auferlegt.
Die Ausführung des Friedens verzögerte sich indes infolge des Konflikts zwischen Rußland und England, das eine Flotte in das Marmarameer einlaufen ließ. Während die energische Haltung der englischen Regierung den Ausbruch eines Kriegs mit Rußland erwarten ließ, wenn dieses sich nicht nachgiebig zeigte, und die Mächte sich eifrig bemühten, durch einen Kongreß eine friedliche Lösung der orientalischen Wirren herbeizuführen, fehlte es in Konstantinopel [* 6] an jeder klaren, entschiedenen Haltung.
Die Minister kamen und gingen je nach den Launen des Sultans und seiner Günstlinge. Die Kammern waren schon im Februar nach Haus geschickt und damit die Komödie einer »osmanischen Verfassung« geschlossen worden. Der unerfahrene Abd ul Hamid litt an fast krankhafter Furcht vor Verschwörungen zu gunsten seines Bruders Murad; eine solche wurde in der That im Mai 1878 versucht, aber blutig unterdrückt. Am 1. Juni ward Mehemed Rüschdi Pascha wieder zum Großwesir ernannt.
Unter ihm warf sich die Pforte endlich England in die Arme, indem sie 4. Juni einen geheimen Vertrag mit diesem schloß, wonach England den Schutz der asiatischen Besitzungen der Türkei übernahm, solange Rußland nicht seine Eroberungen in Armenien herausgegeben haben würde, und dafür das Recht erhielt, Cypern [* 7] zu besetzen. Mehemed ward bereits 8. Juni durch Savfet Pascha ersetzt. Dieser leitete die türkische Politik während des Berliner [* 8] Kongresses (13. Juni bis Allerdings wurden in Berlin [* 9] mehrere Bestimmungen des Friedens von San Stefano zu gunsten der Türkei verändert: Aladschkert und Bajesid in Armenien fielen an sie zurück;
das autonome Fürstentum Bulgarien wurde auf das Gebiet nördlich vom Balkan nebst Sofia beschränkt, der südliche Teil, aber ohne Makedonien und den Küstenstrich, als eine Provinz Ostrumelien (s. d.) unter türkischer Oberhoheit belassen.
Dagegen wurde Österreich [* 10] 29. Juni mit der Okkupation Bosniens und der Herzegowina beauftragt und der Protest der türkischen Bevollmächtigten dagegen zurückgewiesen. Ferner wurde Griechenland [* 11] das Recht zuerkannt, auf eine Rektifikation seiner nördlichen Grenze (Abtretung des südlichen Thessalien und Epirus mit Larissa und Janina) Anspruch zu erheben. Die Pforte unterzeichnete und ratifizierte zwar den Berliner Vertrag vom beeilte sich aber nicht mit seiner Ausführung.
Der definitive Friede mit Rußland wurde unterzeichnet und die an Rußland zu zahlende Kriegsentschädigung auf 802 Mill. Frank festgesetzt. Gegen die Okkupation Bosniens und der Herzegowina durch österreichische Truppen im August 1878 leistete die Türkei keinen Widerstand und schloß mit Österreich eine Konvention, durch welche sie die Souveränität des Sultans in jenen Proinzen ^[richtig: Provinzen] formell wahrte.
Neueste Zeit.
Die Macht des türkischen Reichs war durch den Berliner Frieden erheblich geschwächt worden, namentlich in Europa, [* 12] und die große Finanznot mußte ebenfalls dazu beitragen, die Autorität der Pforte im Land selbst und bei den auswärtigen Mächten herabzusetzen. Es blieben daher weitere Zumutungen an sie nicht aus. Die Griechen verlangten dringend die Verwirklichung der Grenzrektifikation durch Abtretung von Epirus und Thessalien und erlangten auf der Berliner Konferenz 1880 eine Grenze zugebilligt, welche ihre Ansprüche beinahe völlig befriedigte, so daß die Pforte fast ganz Thessalien u. den epirotischen Bezirk Arta an Griechenland abtreten mußte. In Albanien sah sie sich 1880 genötigt, ihre eignen Unterthanen in Dulcigno mit Gewalt zur Unterwerfung unter ihre Abtretung an Montenegro [* 13] zu zwingen.
Ihr Versuch, 1879 bei der Absetzung des Chedive von Ägypten [* 14] ihre Hoheitsrechte über dies Land zu vermehren, wurde durch den Einspruch der Mächte vereitelt; ihre Unthätigkeit während der von Arabi Pascha 1882 verursachten Unruhen ermöglichte England das eigenmächtige Einschreiten in Ägypten und die militärische Besetzung des Landes. Das 1871 enger an das türkische Reich gekettete Tunis [* 15] ging 1881 an Frankreich verloren. Dennoch hatte die Pforte bei diesen Vorgängen eine solche Geschicklichkeit und Sicherheit in den diplomatischen Verhandlungen gezeigt, daß sich ihre Stellung den Großmächten ¶
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gegenüber zu ihrem Vorteil veränderte. Während sie den Anmaßungen Englands mit Ruhe und Festigkeit [* 17] entgegentrat, gewann sie an Deutschland [* 18] und Österreich seit Auflösung des Dreikaiserbündnisses eine immer wirksamere Stütze, wodurch es ihr möglich wurde, ihren Besitzstand in Europa zu behaupten und ihren Einfluß in Afrika [* 19] und Asien zu vermehren. Im Innern scheiterte allerdings ein Reformversuch, den der zum Großwesir ernannte, ehemals tunesische Minister Khereddin Pascha 1879 machte, an dem Widerstand der alttürkischen Partei und einiger allmächtiger Günstlinge des Sultans, wie Osman und Mahmud Damat.
Indes befreite sich der Sultan Abd ul Hamid, je mehr er in Staatsgeschäften ein selbständiges Urteil erlangte und handelnd eingriff, allmählich von diesem verderblichen Einfluß. Um die Finanzreform durchzuführen, berief er deutsche Beamte, welche auch 1881 eine durch Irade vom 20. Dez. bestätigte Einigung mit den Gläubigern zu stande brachten, durch die der Betrag der Staatsschuld von 250 auf 106 Mill. Pfd. Sterl. herabgesetzt und für diese ein zunächst auf mindestens 1 Proz. reduzierter Zinsfuß, zugleich aber auch eine Amortisation von ⅓ Proz. und deren Zahlung durch Garantie mehrerer Einkünfte gesichert wurde.
Zur Vermehrung der Einnahmen wurde die Tabaksregie eingeführt. Deutsche [* 20] Offiziere begannen auf Grund eines 1880 vom Sultan genehmigten Plans eine Reorganisation des Heerwesens und arbeiteten ein Militärgesetz für das ganze Reich aus, das 1887 in Kraft [* 21] trat. Nach außen hin beobachtete die Türkei eine große Zurückhaltung, da sie vor neuen kriegerischen Verwickelungen zurückscheute. Dies zeigte sich besonders 1885, als im September der Generalgouverneur von Ostrumelien, Chrestowitsch, in Philippopel gestürzt wurde und Fürst Alexander von Bulgarien diese türkische Provinz mit seinem Fürstentum vereinigte.
Obwohl die Türkei eine ansehnliche Truppenmacht an der Grenze aufstellte, konnte sie sich doch nicht zu bewaffnetem Einschreiten, um ihre Rechte zu wahren, entschließen und gab im Frühjahr 1886 auf der Konferenz zu Konstantinopel ihre Zustimmung dazu, daß der Fürst von Bulgarien zum Generalgouverneur von Ostrumelien ernannt wurde. Ebenso verhielt sie sich unthätig, als im August 1886 Fürst Alexander durch russische Ränke gestürzt wurde, und ließ alle weitern Ereignisse in Bulgarien geschehen, ohne sich anders als diplomatisch einzumischen, obwohl Rußland die Pforte zum thätlichen Einschreiten drängte, um die ihm verhaßte Regentschaft, dann den Fürsten Ferdinand zu beseitigen.
Sie gab damit thatsächlich die Herrschaft über Ostrumelien auf. Die Ereignisse in Bulgarien, welche wie Serbien so auch Griechenland zu einer kriegs- und eroberungslustigen Haltung veranlaßten, nötigten aber die Türkei zur Aufstellung einer großen Heeresmacht, welche so große Kosten verursachte, daß sie wieder Anleihen bei der Ottomanischen Bank machen und dafür mehrere einträgliche Zölle verpfänden mußte. 1889 kam durch Schiedsspruch endlich eine Einigung mit dem Baron Hirsch, [* 22] der die türkischen Eisenbahnen gebaut hatte u. ausbeutete, zu stande, welche der Türkei die Verfügung über die Bahnen teilweise zurückgab.
Vgl. Hammer-Purgstall, Geschichte des osmanischen Reichs (2. Aufl., Pest 1834-36, 4 Bde.);
Zinkeisen, Geschichte des osmanischen Reichs in Europa (Hamb. u. Gotha [* 23] 1840-63, 7 Bde.);
Rosen, Geschichte der Türkei, 1826-56 (Leipz. 1866-67, 2 Bde.);
Schmeidler, Geschichte des osmanischen Reichs im letzten Jahrzehnt (das. 1875);
Blochwitz, Die Türken, kurzer Abriß ihrer Geschichte (Berl. 1877);
de la Jonquière, Histoire de l'empire ottoman (Par. 1881);
Hertzberg, Geschichte der Byzantiner und des osmanischen Reichs (Berl. 1884);
v. Schlechta-Wssehrd, Die Revolution 1807-1808 (Wien [* 24] 1882);
Engelhardt, La Turquie et le Tanzimat ou l'histoire des réformes dans l'empire ottoman depuis 1826 (Par. 1882-83, 2 Bde.).