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Montenegro [* 2] und Serbien [* 3] machten sich trotz offizieller Neutralitätserklärung zu Vermittlern der von Rußland ausgehenden Förderung des Aufstandes. Die lässige Bekämpfung des Aufstandes zog den Türken einige Schlappen zu; sofort wurde der Pforte auf Betrieb Rußlands von den Mächten eine Konsularkommission zur Herstellung des Friedens aufgenötigt, und als die Bemühungen dieser an der ablehnenden Haltung der Aufständischen gescheitert und sogar eine die Pacifikationsbedingungen zusammenfassende Note der Mächte verworfen worden war, als auch eine österreichischerseits versuchte Vermittelung zu nichts geführt hatte: da glaubte die Pforte endlich selbständig agieren zu können.
Durch zwei befestigte Lager [* 4] hielt sie Serbien in Schach und schnitt die Insurgenten von Montenegro ab, worauf sofort der Aufstand auf einige rauhe Gebirgsgegenden beschränkt wurde. Nun aber trat Ignatiew energisch gegen eine Bedrohung Montenegros auf und erzwang eine Verlegung der türkischen Truppen von der montenegrinischen Grenze. In diesem Augenblick trat ein andres verhängnisvolles Ereignis für die Pforte ein: in Saloniki [* 5] wurden der deutsche und der französische Konsul bei einem Tumult von fanatischen Mohammedanern, nicht ohne Verschulden der Behörden, ermordet.
Die Pforte beeilte sich, den sehr strengen Genugthuungsforderungen der Mächte gerecht zu werden; doch war ihre vermehrte Isolierung die natürliche Folge des Verbrechens. Die gegen sie ganz Europa [* 6] durchzuckende Mißstimmung wurde von Rußland geschickt benutzt. Dasselbe wußte von den beiden verbündeten Kaiserhöfen die Zustimmung zu dem sogen. Gortschakowschen Memorandum zu erlangen, welches die Schuld an dem Nichtgelingen der Pacifikation der Herzegowina lediglich dem Sultan beimaß und unter Androhung wirksamerer Maßregeln einen zweimonatlichen Waffenstillstand verlangte, um mit den Insurgenten wegen des Friedens zu unterhandeln. Auch die übrigen Mächte, mit Ausnahme Englands, erklärten sich mit dieser Staatsschrift einverstanden.
Alle Schichten der türkischen Nation waren überzeugt, daß Rußland auf das Verderben der Pforte sinne, und daß Eigennutz und Unverstand den Großherrn und seinen ersten Wesir dem Erbfeind als Gehilfen zuführten. Über die Verbindung des Sultans mit Rußland wurden die aufregendsten Gerüchte verbreitet, als wolle Rußland Konstantinopel [* 7] mit seinen Truppen besetzen, um die neue Thronfolgeordnung mit Gewalt durchzuführen und die Unzufriedenen zu züchtigen, und der russische Botschafter trat denselben mit keiner Ableugnung entgegen. Am 11. Mai kam es zu stürmischen Auftritten vor dem Palast des Sultans; die Softas (theolog. Studenten) hatten sich bewaffnet und verlangten Entlassung Mahmuds, Entfernung Ignatiews und Krieg gegen Montenegro.
Keine Hand [* 8] rührte sich für Abd ul Asis. Umsonst suchte derselbe durch Berufung eines populären Mannes auf den Posten Mahmuds sich aus der Verlegenheit zu ziehen, er war selbst unmöglich geworden. Am 29. Mai vereinigte sich der neue Großwesir, Mehemed Ruschdi, mit dem Kriegsminister Hussein Avni und Midhat Pascha, den Sultan abzusetzen und den ältesten Sohn Abd ul Medschids, Murad V., auf den Thron [* 9] zu erheben. In der Nacht zum 30. Mai ward die Palastrevolution ohne Blutvergießen durchgeführt. Der abgesetzte Sultan wurde darauf 4. Juni dem Palast Tscheragan, wohin man ihn gebracht hatte, auf Befehl der Minister ermordet; man gab vor, er habe sich durch Aufschneiden der Pulsadern selbst getötet. Am 15. Juni drang von neuem die Kunde einer grauenhaften Blutthat ins Publikum: drei Minister, darunter der energische Hussein Avni, wurden im Haus Midhats von einem tscherkessischen Offizier ermordet!
Während dies in Konstantinopel geschah, brach an verschiedenen Stellen Bulgariens der von Rußland vorbereitete Aufstand aus. Es war ein Ausrottungskrieg der Bulgaren gegen ihre in der Minderzahl befindlichen mohammedanischen Mitbürger, aber die Urheber hatten sich in betreff der Ohnmacht der Pforte verrechnet. Von den gegen ihn aufgebotenen Irregulären, denen sich später Linientruppen beigesellten, wurde der Aufstand unter noch barbarischern Greueln und entsetzlichem Blutvergießen zu Boden geworfen.
Inzwischen hatte auch Serbien seine Rüstungen [* 10] vollendet und überschritt nunmehr die Grenze, um, wie es in dem Manifest vom hieß, den aufständischen Nachbarprovinzen den Frieden wiederzugeben. Rußland sandte nach Serbien die Erfordernisse für den Krieg an Geld, Waffen, Munition und vor allem an Mannschaften. Doch fochten die Serben unglücklich und sahen sich 29. Aug. genötigt, die Mächte um Vermittelung eines Waffenstillstandes anzugehen, den sie verräterisch brachen, sobald sie durch russische Hilfe ihre Kampffähigkeit wiederhergestellt zu haben glaubten.
Neue Siege bei Alexinatz (Ende Oktober) eröffneten nunmehr den Türken den Weg in das Herz Serbiens; aber ihren Erfolgen gebot ein Telegramm des Kaisers Alexander II. aus Livadia vom Halt, welches unter Androhung sofortigen diplomatischen Bruches ihnen binnen 24 Stunden Einstellung ihrer Operationen auferlegte. Inzwischen war in Konstantinopel Murad V. wahnsinnig geworden; 31. Aug. folgte ihm sein Bruder Abd ul Hamid II. In der nichtigen Hoffnung, Rußland durch Nachgiebigkeit zu entwaffnen, unterzeichnete dieser 31. Okt. die Waffenstillstandsakte, berief seine Truppen aus Serbien zurück und gewährte dem treulosen Vasallenstaat den denkbar günstigsten Frieden unter Herstellung des Status quo ante.
Gleich nach dem Abschluß des serbisch-türkischen Waffenstillstandes schlug England eine Konferenz vor, welche unter Wahrung der Integrität des Osmanenreichs eine administrative Autonomie für die slawischen Balkanprovinzen feststellen sollte. Beim Zusammentritt derselben, welche in Konstantinopel tagte, ließ Midhat Pascha, seit Großwesir, den Sultan seinem Reich eine Verfassung oktroyieren, welche, publiziert, die völlige Rechtsgleichheit aller Pfortenunterthanen proklamierte und als Trumpf von der türkischen Regierung gegen die Ansprüche der Mächte zu gunsten der Slawen nicht ohne Geschick ausgespielt wurde.
Die Konferenz endigte ohne Resultat. Nachdem sie selbst ihre Beschlüsse herabgemildert, wurden diese von Midhat dem Großen Diwan, einer Versammlung von gegen 300 angesehenen Personen, darunter 60 Christen, zur Prüfung vorgelegt und einstimmig zurückgewiesen. Doch wurde der thatkräftige Midhat schon im Februar 1877 infolge einer Palastrevolution abgesetzt und verbannt; an seine Stelle als Großwesir trat Edhem Pascha. Daher hatte auch die erste und einzige Session der türkischen Kammer im Februar 1877 kein Ergebnis. Um so mehr fühlte sich Rußland zu energischem Vorgehen ermutigt, und nachdem es seine Rüstungen vollendet, erklärte es an die Türkei [* 11] den Krieg (vgl. Russisches Reich, Geschichte, S. 94). Derselbe entbrannte zuerst in Asien, [* 12] woselbst im obern Kurthal 17. Mai die kleine Festung [* 13] Ardahan ¶
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von den Russen erobert wurde. Im Juni gingen die Russen über die Donau, ohne daß der türkische Oberbefehlshaber Abd ul Kerim es hinderte, eroberten 6. Juli Tirnowa, überstiegen 12. Juli mittels des Twyodischkapasses den Balkan, wiegelten die Bulgaren Nordthrakiens auf, erstürmten 19. Juli den für schweres Geschütz passierbaren Schipkapaß, besetzten Jamboli, Karlowo und andre Städte im Süden des Balkans, eroberten Nikopoli an der Donau und belagerten Rustschuk.
Diesem glänzenden Anfang des Feldzugs entsprach aber der Fortgang nicht. Bei dem Versuch, die befestigten Höhen von Plewna [* 15] zu nehmen, erlitten die Russen 20., 21. und 31. Juli Niederlagen, die eine rückgängige Bewegung zur Folge hatten. In Thrakien von Suleiman Pascha angegriffen, mußten sie sich in den Schipkapaß zurückziehen, den sie mannhaft verteidigten; in der Donaugegend wurden sie über den Schwarzen Lom geworfen. Sie sahen sich genötigt, die früher nicht recht gewürdigte Bundesgenossenschaft mit den Rumänen anzunehmen, erlitten aber bei erneuten Angriffen gegen Plewna vom 7. bis 12. Sept. abermals Niederlagen, so daß bedeutende Truppennachschübe nötig wurden.
Auch in Asien stritten sie bei Zewia unglücklich gegen die Türken und wurden auf ihr eignes Gebiet zurückgeworfen, bis es ihnen 15. Okt. gelang, auf dem Aladjaberg einen glänzenden Sieg davonzutragen. Die Türken hatten militärisch mehr geleistet, als man, namentlich nach dem Beginn des Kriegs, von ihnen erwartet hatte. Da sie indes gar keine Unterstützung fanden, mußten sie endlich doch der Übermacht unterliegen. Auf dem asiatischen Kriegsschauplatz ging 18. Nov. Kars verloren, und die Türken wurden nach Erzerum zurückgetrieben; in Bulgarien aber besiegelte der Fall des lange heldenmütig verteidigten Plewna (10. Dez.) den Verlust eines großen Teils der westlichen Bulgarei, in welche zu gleicher Zeit die Serben eindrangen, während die Montenegriner in Albanien siegreich vorrückten. Anfang 1878 überschritten die Russen den Balkan an mehreren Stellen zugleich. Die Armee Suleimans wurde bei Philippopel völlig zersprengt, die Schipkaarmee gefangen genommen und in Adrianopel, das die Türken freiwillig geräumt, von den Russen, welche bereits bis zum Marmarameer und bis an die Thore Konstantinopels vorgedrungen waren, der Waffenstillstand diktiert. Diesem folgte 3. März, da die Türken nirgends Hilfe fanden, der Friede von San Stefano. In diesem wurden die Unabhängigkeit Rumäniens und Serbiens, des letztern und Montenegros Vergrößerung, die Abtretung der Dobrudscha und eines Teils von Armenien, die Bildung eines autonomen Fürstentums Bulgarien, welches außer dem eigentlichen Bulgarien einen großen Teil Rumeliens und Makedoniens umfaßte, stipuliert und die Zahlung einer beträchtlichen Kriegsentschädigung der Türkei auferlegt.
Die Ausführung des Friedens verzögerte sich indes infolge des Konflikts zwischen Rußland und England, das eine Flotte in das Marmarameer einlaufen ließ. Während die energische Haltung der englischen Regierung den Ausbruch eines Kriegs mit Rußland erwarten ließ, wenn dieses sich nicht nachgiebig zeigte, und die Mächte sich eifrig bemühten, durch einen Kongreß eine friedliche Lösung der orientalischen Wirren herbeizuführen, fehlte es in Konstantinopel an jeder klaren, entschiedenen Haltung.
Die Minister kamen und gingen je nach den Launen des Sultans und seiner Günstlinge. Die Kammern waren schon im Februar nach Haus geschickt und damit die Komödie einer »osmanischen Verfassung« geschlossen worden. Der unerfahrene Abd ul Hamid litt an fast krankhafter Furcht vor Verschwörungen zu gunsten seines Bruders Murad; eine solche wurde in der That im Mai 1878 versucht, aber blutig unterdrückt. Am 1. Juni ward Mehemed Rüschdi Pascha wieder zum Großwesir ernannt.
Unter ihm warf sich die Pforte endlich England in die Arme, indem sie 4. Juni einen geheimen Vertrag mit diesem schloß, wonach England den Schutz der asiatischen Besitzungen der Türkei übernahm, solange Rußland nicht seine Eroberungen in Armenien herausgegeben haben würde, und dafür das Recht erhielt, Cypern [* 16] zu besetzen. Mehemed ward bereits 8. Juni durch Savfet Pascha ersetzt. Dieser leitete die türkische Politik während des Berliner [* 17] Kongresses (13. Juni bis Allerdings wurden in Berlin [* 18] mehrere Bestimmungen des Friedens von San Stefano zu gunsten der Türkei verändert: Aladschkert und Bajesid in Armenien fielen an sie zurück;
das autonome Fürstentum Bulgarien wurde auf das Gebiet nördlich vom Balkan nebst Sofia beschränkt, der südliche Teil, aber ohne Makedonien und den Küstenstrich, als eine Provinz Ostrumelien (s. d.) unter türkischer Oberhoheit belassen.
Dagegen wurde Österreich [* 19] 29. Juni mit der Okkupation Bosniens und der Herzegowina beauftragt und der Protest der türkischen Bevollmächtigten dagegen zurückgewiesen. Ferner wurde Griechenland [* 20] das Recht zuerkannt, auf eine Rektifikation seiner nördlichen Grenze (Abtretung des südlichen Thessalien und Epirus mit Larissa und Janina) Anspruch zu erheben. Die Pforte unterzeichnete und ratifizierte zwar den Berliner Vertrag vom beeilte sich aber nicht mit seiner Ausführung.
Der definitive Friede mit Rußland wurde unterzeichnet und die an Rußland zu zahlende Kriegsentschädigung auf 802 Mill. Frank festgesetzt. Gegen die Okkupation Bosniens und der Herzegowina durch österreichische Truppen im August 1878 leistete die Türkei keinen Widerstand und schloß mit Österreich eine Konvention, durch welche sie die Souveränität des Sultans in jenen Proinzen ^[richtig: Provinzen] formell wahrte.
Neueste Zeit.
Die Macht des türkischen Reichs war durch den Berliner Frieden erheblich geschwächt worden, namentlich in Europa, und die große Finanznot mußte ebenfalls dazu beitragen, die Autorität der Pforte im Land selbst und bei den auswärtigen Mächten herabzusetzen. Es blieben daher weitere Zumutungen an sie nicht aus. Die Griechen verlangten dringend die Verwirklichung der Grenzrektifikation durch Abtretung von Epirus und Thessalien und erlangten auf der Berliner Konferenz 1880 eine Grenze zugebilligt, welche ihre Ansprüche beinahe völlig befriedigte, so daß die Pforte fast ganz Thessalien u. den epirotischen Bezirk Arta an Griechenland abtreten mußte. In Albanien sah sie sich 1880 genötigt, ihre eignen Unterthanen in Dulcigno mit Gewalt zur Unterwerfung unter ihre Abtretung an Montenegro zu zwingen.
Ihr Versuch, 1879 bei der Absetzung des Chedive von Ägypten [* 21] ihre Hoheitsrechte über dies Land zu vermehren, wurde durch den Einspruch der Mächte vereitelt; ihre Unthätigkeit während der von Arabi Pascha 1882 verursachten Unruhen ermöglichte England das eigenmächtige Einschreiten in Ägypten und die militärische Besetzung des Landes. Das 1871 enger an das türkische Reich gekettete Tunis [* 22] ging 1881 an Frankreich verloren. Dennoch hatte die Pforte bei diesen Vorgängen eine solche Geschicklichkeit und Sicherheit in den diplomatischen Verhandlungen gezeigt, daß sich ihre Stellung den Großmächten ¶