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die Einsetzung gemischter (mohammedanisch-christlicher) Tribunale, die Wehrpflicht der Christen bei Befugnis des Stellvertreterkaufs, das Recht des Grundeigentumserwerbs für Ausländer, unbedingte Toleranz etc. Türkischerseits war gegen die gleichmäßige Zulassung von Nichtchristen zu den Staatsämtern, gegen die dem Exterritorialitätsprinzip widerstreitende Grunderwerbsbefugnis der Ausländer und gegen die unbedingte Toleranz, d. h. die Aufhebung der vom mohammedanischen Rechtsbewußtsein geforderten Strafen für Abfall vom Islam, vergeblich Einsprache erhoben worden; der Hatt, welcher den Christen die Wehrpflicht für den von ihnen immer als etwas Feindliches betrachteten Osmanenstaat auferlegte, wurde von diesen mit ebensoviel Verdruß und Argwohn aufgenommen wie von den Mohammedanern aller Parteischattierungen mit patriotischem und religiösem Ingrimm, und die türkischen Staatsmänner konnten wenigstens mit Recht beanspruchen, daß der Pforte hinlängliche Zeit für die allmähliche Ausführung der Reformen gewährt werde.
Auch bei dem Pariser Friedenskongreß kamen die türkischen Interessen nur, insofern sie mit denen der Westmächte zusammenfielen, zur Geltung. Rußland wurde um die Donaumündungen und einen denselben anliegenden Streifen Bessarabiens gekürzt, trat aber diesen letztern an die Moldau ab, während die Pforte sich mit den Donaumündungen begnügen mußte. Eine erhebliche Einbuße für Rußland war dagegen die Neutralisierung des Schwarzen Meers. Die Aufnahme der Pforte in die europäische Staatenfamilie und die Gewährleistung ihrer Unverletzlichkeit schienen die Stellung der Türkei [* 2] in Europa [* 3] beträchtlich zu heben; dagegen wurden durch die Erneuerung des Dardanellenvertrags und die Gewährung autonomer Stellung an die drei Donaufürstentümer, unter Bürgschaft der Vertragsmächte gegen Tributzahlung an die Pforte, ihre Selbständigkeit und ihre Macht erheblich verringert.
In der That wurden die Befugnisse der Pforte über die Vasallenstaaten nicht nur nicht vermehrt, sondern, da das europäische Konzert, von dem die Türkei bloß einen Teil bildete, sich die oberste Entscheidung beimaß, mehr und mehr verringert und schließlich beinahe völlig aufgehoben. Sie konnte nicht hindern, daß 1859 auf Betrieb Frankreichs in der Moldau und der Walachei derselbe Mann, Cusa, zum Fürsten erwählt und so die Union faktisch durchgeführt wurde, und mußte sich begnügen, ihre Investitur mittels zweier verschiedener Diplome zu erteilen. In Serbien [* 4] wurde der der Pforte ergebene Alexander Karageorgiewitsch 1858 zur Abdankung gezwungen und die Obrenowitsch zurückgerufen, unter denen Serbien der Herd panslawistischer Agitationen wurde, welche 1861 auch einen Aufstand in der Herzegowina erregten.
Dem Druck der Großmächte nachgebend, befahl die Pforte 1862 allen außerhalb der Festung [* 5] in Serbien lebenden Türken, auszuwandern, und schleifte mehrere Binnenbefestigungen. Die unter den Auspizien der Westmächte begonnenen Reformen in den Immediatprovinzen gerieten bald ins Stocken. Es gelang nur, eine Anzahl wichtiger materieller Verbesserungen durchzuführen: neue Heerstraßen wurden erbaut, Häfen angelegt, die Post besser eingerichtet und Telegraphenlinien gezogen.
Die Kehrseite dieser Fortschritte bildete die Zerrüttung der Finanzen. Während die Pforte sich früher in bedrängten Zeiten mit Münzverschlechterung und Papiergeld beholfen hatte, deren nachteilige Folgen bald beseitigt waren, war während des Krimkriegs neben einer bedeutenden schwebenden Schuld im Inland eine Anleihe von 7 Mill. Pfd. Sterl. in England aufgenommen worden. Dieser folgten 1858, 1860 und 1861 drei weitere Anleihen. Die Ausgaben stiegen infolge der hohen Zinsen auf 14 Mill. Pfd. Sterl. jährlich, während die Einnahmen nur 9 Mill. betrugen. 1861 brach wegen der Finanznot eine Handelskrisis aus, welcher man durch Ausgabe von 1250 Mill. Piaster Papiergeld mit Zwangskurs zu begegnen suchte. Die willkürlich verteilten und mit Härte eingetriebenen Steuern bedrückten die Bevölkerung [* 6] aufs äußerste und führten in den Provinzen allmähliche Verarmung herbei, während die hohen Beamten und die Bankiers sich übermäßig bereicherten.
Zerrüttung des Staats unter Abd ul Asis.
Am starb Abd ul Medschid; sein Nachfolger Abd ul Asis (1861-76) ward, weil er für nüchtern, sparsam und energisch galt, mit übertriebenen Hoffnungen begrüßt. Dieser Enthusiasmus kühlte sich bald ab, als man sah, daß dem neuen Großherrn allerdings die gutmütige, wohlwollende Gesinnung seines Bruders fehle, daß aber, was man für Charakterfestigkeit gehalten, nur Eigensinn sei, welcher sich, seiner mangelhaften geistigen Bildung entsprechend, in der Regel nach verkehrter Richtung äußerte. Er nahm, wie sein Vater, einen Anlauf, [* 7] der Regenerator seines Reichs zu werden; er wollte sogar dafür Opfer bringen, seinen Harem abschaffen, auf einen Teil der Zivilliste verzichten etc. Aber das auch bei ihm hervortretende Mißverhältnis zwischen Wollen und Können erzeugte Schwermutsanfälle und Ausbrüche von Despotenlaune.
Die Minister wechselten unaufhörlich, kein Regierungsplan konnte systematisch zu Ende geführt werden, die Staatseinkünfte wurden oft auf unsinnige Weise verschwendet. Den Ränken der Mächte, den Bestechungen der hohen Beamten durch Unternehmer und Bankiers waren Thür und Thor geöffnet. Dazu kam, daß die Türkei bald auch mit ihren westlichen Schutzmächten in mancherlei Konflikte geriet, welche ihr der Fanatismus der mohammedanischen Bevölkerung und die steigende Unzufriedenheit der christlichen Unterthanen verursachten. Zu Dschidda in Arabien wurden im Juni 1858 der englische und der französische Konsul ermordet. Am gräßlichsten kam die christenfeindliche Stimmung in Syrien zum Ausbruch, woselbst 1860 zunächst im Libanon nach wiederholten gegen die Christen begangenen Gewaltakten die friedliche maronitische Bevölkerung von Hasbaia, Raschaia und Deir el Kamer, nachdem sie unter Zusage vollkommenen Schutzes ihre Waffen [* 8] an die türkischen Platzkommandanten jener Orte abgegeben, von herbeieilenden Drusen [* 9] massenhaft abgeschlachtet wurde, und dann in Damaskus, der alten syrischen Landeshauptstadt, wo unter heimlicher Zustimmung der Behörde ein volles Viertel (5000 Seelen) der christlichen Bevölkerung dem Fanatismus der Mohammedaner erlag.
Entsetzt über die verübten Greuelthaten, verlangte die öffentliche Meinung ein Einschreiten der Großmächte. Bis aber diese über die Modalität eines solchen schlüssig geworden waren, verstrichen Monate. Inzwischen hatte die Pforte den Großwesir Fuad Pascha als Kommissar mit unbedingter Vollmacht an Ort und Stelle geschickt, und derselbe hatte sich angelegen sein lassen, durch zahlreiche Hinrichtungen in Damaskus und im Libanon die Einmischung der Mächte unnötig zu machen. Doch war die Ende August erfolgte Absendung eines französischen Okkupationsheers nach dem Libanon nicht überflüssig, indem erst jetzt die hochgestellten Urheber und Förderer des Blutbades zur ¶
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Strafe gezogen wurden. Erst im Juni 1861, nachdem über die Entschädigung der heimgesuchten christlichen Bevölkerungen für die erlittenen materiellen Verluste eine Einigung erzielt worden war, wurden die französischen Truppen wieder abberufen. Der Libanon wurde zu einem besondern, direkt von Konstantinopel [* 11] abhängenden Verwaltungsbezirk gemacht und unter einen Statthalter christlicher Konfession mit Wesirsrang gestellt.
Auch in der christlichen Bevölkerung der europäischen Türkei regte es sich unter dem Einfluß der panslawistischen und panhellenischen Agitationen an verschiedenen Orten. Besonders gefährlich ward der Aufstand in Kreta im Frühjahr 1866. Erst im August schickte die Pforte Truppen nach der Insel, um die Ordnung herzustellen; doch brach der Kampf im Frühjahr 1868 mit erneuter Heftigkeit aus, und erst, als die Pforte Griechenland [* 12] ein Ultimatum stellte, wenn es nicht aufhöre, den kretischen Aufstand zu unterstützen, und die im Januar 1869 in Paris [* 13] zusammengetretene Konferenz der Mächte Griechenland nötigte, sich diesem Ultimatum zu unterwerfen, gelang die Pacifizierung der Insel, nachdem sie große Opfer an Gut und Blut gekostet, für welche kein Ersatz geleistet wurde.
Dieser Ausgang mußte die andern unterworfenen Völker ermutigen. 1866 trat Serbien mit dem Verlangen der gänzlichen Räumung des Landes seitens der türkischen Truppen hervor, und im Mai 1867 fügte sich die Pforte auch wirklich demselben, da Österreich [* 14] entschieden darauf drang. Bloß Ägypten [* 15] gegenüber gelang es dem Sultan, seine Autorität aufrecht zu erhalten. Er hatte 1866 dem Vizekönig Ismail Pascha bereitwilligst die Zustimmung zur neuen Thronfolgeordnung und 1867 den Titel Chedive mit erweiterten Befugnissen erteilt.
Als dieser aber 1869 auf einer Reise nach Europa seine völlige Souveränität zu erlangen suchte, befahl ihm die Pforte 29. Nov. d. J., seine Armee auf 30,000 Mann zu reduzieren, keine neuen Panzerschiffe [* 16] zu kaufen, ohne Genehmigung des Sultans keine Anleihen zu kontrahieren, selbständigen Verhandlungen mit fremden Mächten zu entsagen etc. Der Chedive unterwarf sich, erlangte aber im Mai 1873 bei einem persönlichen Besuch in Konstantinopel durch ein großes Geldgeschenk und Erhöhung des Tributs, daß der Sultan ihm alles, mit Ausnahme der Vermehrung der Flotte, wieder erlaubte.
Bei allen Übelständen genoß die Regierung Abd ul Asis' noch eines gewissen Ansehens, solange tüchtige Staatsmänner, wie Fuad und Aali Pascha, welche, allerdings mit Unterbrechungen, gegen 15 Jahre lang in den wichtigen Posten des Großwesirs und des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten abwechselten, an der Spitze des Staats standen. Als aber Fuad 1869 und Aali 1871 gestorben waren, da schwand mit der Geschäftskunde der Regierung auch das äußere Vertrauen zu ihr mehr und mehr.
Der Sultan behielt bei der Wahl seiner Räte nur das eine Kriterium im Auge, [* 17] ob sie ihn bei seinem Plan, die Thronfolge zu ändern und durch Einführung des Rechts der Erstgeburt seinen Sohn Jussuf zum Nachfolger zu bestimmen, unterstützen würden. Zunächst ernannte er Mahmud Nedim Pascha zum Großwesir, einen unwissenden und habsüchtigen Mann, welcher, um seine Kreaturen in die einflußreichen Stellen zu bringen, auf das willkürlichste unter den tüchtigern Beamten aufräumte und sich eine große Unpopularität zuzog, von welcher ein beträchtlicher Teil auf seinen Gebieter überging.
Ganz gewissenlos wurden die Finanzen verwaltet. Der Sultan selbst ging mit der Verschwendung durch Prachtbauten voran. Das Heer und die Flotte verschlangen ungeheure Summen für die Neubeschaffung von Kanonen, Gewehren und Panzerschiffen. Telegraphen [* 18] und Eisenbahnen, mit großen Kosten, aber nur nach den Wünschen und dem Vorteil der fremden Mächte und der Unternehmer angelegt, dienten wenig dazu, die Hilfsquellen des Landes zu vermehren, und belasteten zunächst bloß den Staatsschatz.
Althergebrachte Hilfsmittel, wie stärkere Anziehung der Steuerschraube, Verpachtung von Staatsgütern, von Einkünften und Gerechtsamen, Verminderung des Gehalts der mittlern und niedern Beamten, wurden durch unverständige Ausbeutung bald abgenutzt und erfolglos und vermehrten nur die Verarmung und Unzufriedenheit im Volk. Zu immer drückendern Bedingungen mußten demnach von Jahr zu Jahr Darlehen aufgenommen werden; um nur zu Geld zu kommen, schien die türkische Regierung in ihren Zugeständnissen an die Kapitalisten keine Grenze zu kennen.
Sie konnte daher bald auch die Zinsen ihrer auf 5000 Mill. Frank angewachsenen äußern Schuld nicht mehr bezahlen. Am erklärte die Pforte, daß sie außer stande sei, von den Zinsen der Staatsschuld mehr als 50 Proz. zu bezahlen, daß sie aber über die restierenden 50 Proz. 5proz. Obligationen ausstellen wolle, welche später bar eingelöst werden sollten. Aber alle Versuche, der Mißwirtschaft im Innern Einhalt zu thun, waren erfolglos. Im Juli 1872 war es der patriotischen Opposition gelungen, Mahmud zu stürzen; aber seine Nachfolger erlagen alle nach kurzer Herrschaft den Ränken des russischen Botschafters Ignatiew, bis im August 1875 Mahmud wieder in die Regierung zurückberufen ward.
Innere Unruhen und neuer Krieg mit Rußland.
Rußland, seit 1864 durch Ignatiew in Konstantinopel vertreten, hatte unaufhörlich und mit wachsendem Erfolg daran gearbeitet, seine durch den Krimkrieg verlorne Stellung im Orient wiederzugewinnen. Da Ignatiew in Griechenland nicht mehr einen ohnmächtigen Schützling, sondern einen gefährlichen Nebenbuhler sah, so trat er fortan nicht sowohl als Protektor der orthodoxen Kirche als der slawischen Unterthanen der Türkei auf. Von ihm angestachelt, verlangten die Bulgaren ihre Loslösung von dem griechischen Patriarchat in Konstantinopel und erlangten im März 1870 auch wirklich die Errichtung eines eignen Exarchats. Um die Autorität der Westmächte zu erschüttern, stellte Rußland im Oktober 1870 während des deutsch-französischen Kriegs die Forderung, daß das durch den Pariser Frieden Rußland auferlegte Verbot, auf dem Schwarzen Meer Kriegsschiffe zu halten, aufgehoben werde.
Die Pforte suchte vergeblich Hilfe bei Europa: Frankreich war zu Boden geschmettert, England hatte sich durch seine egoistische Politik im Sommer 1870 um alles Ansehen und allen Einfluß gebracht, und auf der Londoner Konferenz im März 1871 mußte sich die Pforte dem von Bismarck unterstützten russischen Verlangen fügen. Nach diesem Erfolg setzte Ignatiew seine Bemühungen, kein vernünftiges Verwaltungssystem aufkommen zu lassen, die Türkei mit Europa zu verfeinden, im Innern durch Unruhen u. dgl. zu zerbröckeln und so die völlige Unterwerfung derselben unter Rußland herbeizuführen, rastlos fort, und es gelang ihm, Mahmud Nedim Pascha durch Bestechung, den Sultan durch die Aussicht auf russische Unterstützung seines Thronfolgeplans völlig in seine Gewalt zu bringen.
1875 brach in der Herzegowina, angeblich durch Steuerdruck hervorgerufen, ein Aufstand aus. ¶