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In der Türkei [* 2] besteht jetzt der Theorie nach die erlassene Verfassung zu Recht, obwohl die Regierung sich um dieselbe sehr wenig kümmert. Im wesentlichen setzt dieselbe fest: die Unteilbarkeit des Reichs; die Unverantwortlichkeit und Unverletzlichkeit des Sultans, dessen Vorrechte die der übrigen europäischen Herrscher sind; die Freiheit der Unterthanen, die ohne Unterschied Osmanen heißen, ist unverletzlich. Staatsreligion ist der Islam, doch dürfen die anerkannten Konfessionen [* 3] frei ausgeübt werden und behalten ihre Privilegien.
Sodann wird Preßfreiheit, Petitions- und Versammlungsrecht, Gleichheit aller Unterthanen vor dem Gesetz (die Sklaverei existiert aber faktisch noch!), Unterrichtsfreiheit, Befähigung aller Osmanen ohne Unterschied der Religion zu allen Beamtenstellungen, gerechte Verteilung der Steuern etc. garantiert. Der Konseil der Minister soll unter dem Präsidium des Großwesirs beraten. Die Minister sind für ihr Ressort verantwortlich und können von dem Abgeordnetenhaus angeklagt werden; Auflösung des letztern oder Entlassung der Minister bei einem Konflikt zwischen beiden, Interpellationsrecht der Abgeordneten, Unabsetzbarkeit der Beamten, sofern kein rechtlicher Grund gegen sie vorliegt, alles wie in zivilisierten Staaten; ebenso die Zusammensetzung des Parlaments (seit 1878 nicht mehr einberufen) aus zwei Kammern, das Institut der Thronrede, die Freiheit der Abstimmung, die Öffentlichkeit der Sitzungen, die Votierung des Budgets etc. Doch ist diese Verfassung bald nach ihrer Entstehung nicht weiter berücksichtigt worden.
[Staatsverwaltung.]
Was die Staatsverwaltung betrifft, so übt der Sultan seine gesetzgebende und vollziehende Gewalt durch den (1878 vorübergehend abgeschafften) Großwesir und den Mufti (Scheich ul Islam) aus. Der Großwesir (Sadrasam) ist der Repräsentant des Sultans, führt im Geheimen Rat den Vorsitz und ist thatsächlich der Inhaber der Exekutivgewalt. Er erhält seine Gewalt durch einen Hattischerif des Sultans und hat seinen amtlichen Aufenthalt bei der Hohen Pforte.
Dem Mufti oder Scheich ul Islam (eingesetzt 1543 durch Mohammed II.) liegt die Auslegung des Gesetzes ob. Er ist Chef der Ulemas (s. unten), selbst aber weder Priester noch Gerichtsperson. Er nimmt an der Ausübung der gesetzgebenden Gewalt teil in dem Sinn, daß seine Zustimmung notwendig ist zur Gültigkeit jeder Verordnung, jedes von der höchsten Behörde ausgehenden Aktes. Außerdem stehen an der Spitze der Staatsverwaltung die für die einzelnen Zweige derselben bestimmten Staatsminister, nämlich: der Präsident des Staatsrats, der Minister der auswärtigen Angelegenheiten, der Kriegsminister und Großmeister der Artillerie (Seraskier), der Finanzminister, der Marineminister (Kapudan-Pascha), der Minister des Innern, der Minister des Handels, der öffentlichen Arbeiten und des Ackerbaues, der Minister des öffentlichen Unterrichts, der Justizminister und der Intendant des Evkaf (d. h. der den Moscheen und frommen Stiftungen gehörigen Güter).
Der Geheime Rat oder Diwan, dessen Mitglieder den Titel Muschir (Räte des Staatsoberhauptes) führen, besteht aus dem Scheich ul Islam, den oben genannten Ministern und dem Präsidium des Staatsrats und versammelt sich in der Regel wöchentlich. Dann folgen die beiden Reichsräte, der für Ausführung der Reformen und der 1868 gegründete Staatsrat (nachdem Muster des französischen Conseil d'État). Mit jedem der verschiedenen ministeriellen Departements, mit Ausnahme des der auswärtigen Angelegenheiten, sind permanente Räte (z. B. für das Gesundheitswesen, für Post und Telegraphie etc.) verbunden, welche die Gegenstände bearbeiten und die Verbesserungsprojekte vorbereiten.
Alle Ämter des osmanischen Reichs zerfallen in wissenschaftliche oder Ämter des Lehrerstandes (Ulema), Ämter der Feder (Administrativämter), Ämter des Säbels (Armee und Flotte) und Hofämter. Die Minister führen den Titel »Muschir« (und »Wesir«),
die andern hohen Staatsbeamten der Pforte und die Generale den Titel »Pascha«, die höhern Beamten den Titel »Efendi«, die Söhne der Paschas und die obern Offiziere den Titel »Bei«, alle niedern Offiziere und Beamten den Titel »Aga«. Behufs der Verwaltung ist das türkische Reich in Wilajets oder Generalgouvernements eingeteilt. Die Wilajets zerfallen in Liwas oder Provinzen, diese wiederum in Kazas oder Distrikte. An der Spitze eines jeden Wilajets steht ein Wali oder Generalgouverneur als Chef der Verwaltung.
Unter ihm fungieren, ohne von ihm ernannt zu werden: der Defterdar für das Finanzwesen, der Mektubdschi oder Generalsekretär, der Sekretär [* 4] der fremden Geschäfte, die Beamten für den öffentlichen Unterricht, für Handel, Ackerbau, Straßenbau, Landesvermessung, Polizei etc. Jedes Liwa wird von einem Mutessarrif verwaltet, jedes Kaza von einem Kaimakam; an der Spitze der Nahijes oder Kommunen steht ein von den Eingebornen gewählter Mudir sowie dessen Beigeordneter, der Muavin. In jedem Wilajet, Liwa, Kaza und Nahije steht dem betreffenden Verwaltungsbeamten ein Medschlis i idareh (Verwaltungsrat) zur Seite, worin die richterlichen, finanziellen, religiösen Spitzen und 3-4 von der Einwohnerschaft gewählte Personen sitzen. Am Schluß des Jahrs 1878 wurde der Entwurf eines neuen organischen Reglements für die europäischen Provinzen der Türkei veröffentlicht, wonach der Sultan die Walis aller Wilajets auf fünf Jahre ernennt.
Die Pforte soll unter je drei von dem Wali vorgeschlagenen Kandidaten die Mutessarrifs wählen und die Provinzialbeamten möglichst aus den Einwohnern der betreffenden Provinz entnehmen. Ein Generalrat, zusammengesetzt aus je zwei Delegierten jedes Kazas, soll in jedem Wilajet eingesetzt werden. Außer den Zolleinnahmen soll der Ertrag einer Grund- und Bodensteuer sowie andre Einkünfte zur Bestreitung der Ausgaben der Provinzen für die öffentlichen Arbeiten und die Gendarmerie verwendet werden. Die Urteilssprüche der Gerichte sollen in öffentlichen Sitzungen gefällt werden.
[Rechtspflege.]
Die türkischen Justizbehörden zerfallen in die ganz mohammedanischen Tscheris, an deren Spitze der Scheich ul Islam steht, und in die weltlichen Nisâmijes, die aus Christen und Mohammedanern zusammengesetzt sind. Das Tribunal der Tscheris besteht aus dem hohen Appellhof (Arsadassi) mit je einer Kammer für Europa [* 5] und Asien, [* 6] die einen Kâsi-asker (Kazilesker, s. d.) und 14 Richter zählt. In jedem Wilajet befindet sich ein Tscherigericht unter dem Vorsitz eines Mollas mit dem Titel Nâib, der zugleich dem Diwan-Temyisi (Appellationsgericht des Wilajets) präsidiert. Ebenso hat jedes Liwa und Kaza sein Tscheri-Gericht, das häufig der Bestechung sehr zugänglich ist. Für Streitigkeiten zwischen Bekennern verschiedener Religionen, zugleich auch für Kriminalfälle dienen die Nisâmijes, deren jedes Wilajet, Liwa und Kaza eins hat, und deren Mitglieder von der Bevölkerung [* 7] gewählt werden. Jedes höhere Gericht bildet die Appellinstanz für die ¶
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untern. Die höchste ist das Obertribunal in Konstantinopel [* 9] (gegründet 1868), welches unter anderm alle Todesurteile zu bestätigen hat. Außerdem bestehen in Seestädten 49 Handelsgerichte, die 1847 errichtet wurden. In Prozessen, bei denen beide Parteien Fremde sind, entscheiden die Konsulargerichte.
[Finanzen.]
Was die Finanzen anlangt, so haben sich dieselben nach dem Staatsbankrott vom (Einstellung der Zinszahlungen) ein wenig gehoben infolge der am dekretierten Konsolidation und Reduktion der äußern und der Regulierung der schwebenden Schuld. Die Anleihen von 1858 bis 1874 im Betrag von 190,997,980 Pfd. Sterl. wurden auf 106,437,234 Pfd. Sterl. reduziert, und letztere werden seitdem aus den Erträgnissen gewisser Steuern (Tabaks- und Salzmonopol, Getränke- und Fischereisteuer, Stempel, Seidenzehnt, Tribut von Bulgarien [* 10] und Ostrumelien, Überschuß der Einkünfte von Cypern) [* 11] unter Aufsicht von Vertretern der Gläubiger mit 1 Proz. verzinst und mit ¼ Proz. amortisiert. Am betrug diese Schuld noch 104,458,706 Pfd. Sterl., die zu ihrer Verzinsung bestimmten innern Steuern ergaben 1887/88: 114 Mill. Piaster (noch nicht 1 Mill. Pfd. Sterl.). Außerdem gibt es aber noch eine innere Schuld von ca. 22 Mill. türk. Pfd. (à 100 Piaster), eine schwebende Schuld von ca. 9 Mill. türk. Pfd., die unverzinsliche russische Kriegsschuld von 32 Mill. Pfd. Sterl., die an russische Private zu leistende Entschädigung von 38 Mill. Frank und Schulden für neuerdings geliefertes Kriegsmaterial (ca. 3 Mill. Pfd. Sterl.). Das Budget ist ein ganz ungeregeltes; die Zahlen desselben, soweit solche überhaupt noch veröffentlicht werden, stehen lediglich auf dem Papier und verdienen kein Vertrauen, das ständige Defizit wird durch Verringerung und Nichtauszahlung der Beamtengehalte, kleine Anleihen, selbst Zwangsanleihen nicht ausgeschlossen, und ähnliche Mittelchen gedeckt. 1881/82 belief sich dasselbe auf ca. 5¼ Mill. türk. Pfd., es schwankt meist zwischen 4 und 8 Mill. Im Finanzjahr 1884/85 waren die sonst ca. 12 Mill. türk. Pfd. betragenden Einnahmen angeblich auf 7 Mill. gesunken! Für 1887/88 schätzt man sie wieder auf 17½ Mill. türk. Pfd., ob mit Recht, ist sehr fraglich. Die Hauptposten der Einnahmen, soweit dieselben nicht an die Staatsgläubiger verpfändet sind, sind: Grundsteuer, Einkommensteuer von einzelnen Gewerben, der Zehnte von den Bodenerzeugnissen, der aber in der Höhe von 12½ Proz. erhoben wird, die Hammelsteuer, die auf den Nichtmohammedanern lastende Steuer für Befreiung vom Militärdienst, der 8proz. Einfuhr- und der 1proz. Ausfuhrzoll.
[Heer, Flotte, Wappen.]
Im Mai 1879 erließ die Armee-Reorganisationskommission eine neue Ordre de bataille für den Friedensstand des türkischen Heers. Danach umfaßt letzteres sieben Armeekorps (Ordu) mit den Hauptquartieren in Konstantinopel (Garde), Adrianopel, Monastir, Ersindschan, Damaskus, Bagdad und Sana'a in Arabien. Jedes Armeekorps soll im Frieden durchschnittlich umfassen: 6 Infanterieregimenter zu 3 Bataillonen à 800 Mann, 6 Jägerbataillone zu 800 Mann, 4 Kavallerieregimenter zu 800 Pferden, 1 Artillerieregiment zu 12 Batterien à 6 Geschütze [* 12] und 100 Mann, 1 Pionierbataillon zu 400 Mann und mehrere Gendarmeriebataillone.
Das gäbe einen Etat von 210,000 Mann (134,400 Infanteristen, 22,400 Reiter, 9600 Mann Artillerie, 3600 Pioniere und 40,000 Gendarmen) mit 576 Geschützen, wozu im Krieg noch je 100,000 Mann Reserven und Landwehr kämen mit resp. 192 und 120 Geschützen. Die Feldarmee betrüge also 410,000 Mann mit 888 Geschützen, eine Zahl, die durch Irreguläre und das ägyptische Kontingent auf eine halbe Million gebracht würde. Faktisch zählte die türkische Armee 1885: 63 Regimenter Infanterie zu 4 Bataillonen, 2 Zuavenregimenter zu 2 Bataillonen, 15 Bataillone Jäger und 1 Bataillon berittene Infanterie;
39 Regimenter Kavallerie zu 5 Schwadronen;
13 Regimenter Artillerie mit 144 fahrenden Batterien, 18 reitende und 36 Gebirgsbatterien, 8 Bataillone Festungsartillerie und 10 Bataillone Artilleriehandwerker, 6 Bataillone Genietruppen, eine Telegraphenkompanie, 5 Train-, 3 Feuerwehr- und 3 Handwerkerbataillone, zusammen 12,000 Offiziere, 170,000 Mann, 30,000 Pferde, [* 13] 1188 Feld- und 2374 Festungsgeschütze;
außerdem Kadres für 96 Redifregimenter zu 4 Bataillonen.
Die Flotte, durch Verluste im letzten russischen Krieg und nachherige Verkäufe an England wesentlich verringert, zählte zu Ende 1886 wieder 12 Panzer-, 50 hölzerne und 12 Torpedofahrzeuge; im Bau befanden sich eine Panzerfregatte und 2 Panzerkorvetten. Die Flagge besteht aus einem roten Flaggtuch mit weißem Halbmond und weißem achtstrahligen Stern (s. Tafel »Flaggen [* 14] I«); [* 15] die Handelsflagge aus drei Horizontalstreifen Rot-Grün-Rot.
Das Wappen [* 16] des türkischen Reichs ist ein grüner Schild [* 17] mit wachsendem silbernen Monde. Den Schild umgibt eine Löwenhaut, auf der ein Turban mit einer Reiherfeder liegt; hinter demselben stehen schräg zwei Standarten mit Roßschweifen. Es bestehen vier Ritterorden: der Orden [* 18] des Ruhms (Nischani iftichar, 1831 gestiftet), mit 4 Klassen;
der Medschidieh-Orden (1852 gestiftet, s. Tafel »Orden«, Fig. 33), mit 5 Klassen, der Osmanje-Orden (1861 gestiftet), mit 3 Klassen, der Verdienstorden (Nischani-Imtiaz, 1879 gestiftet), außerdem ein Damenorden (1880 gestiftet).
Sonstige Auszeichnungen sind Kriegsmedaillen, Ehrenkaftane und Ehrensäbel.
Außereuropäische Besitzungen.
Die asiatische Türkei umfaßt eine Anzahl verschiedenartiger Gebiete, welche den westlichsten Teil von Asien bilden. Diese Gebiete sind: Armenien, Kurdistan, Irak Arabi oder Babylonien, El Dschesireh oder Mesopotamien, Kleinasien, Syrien und Palästina, [* 19] die Halbinsel Sinai und das westliche Küstenland von Arabien. Hinsichtlich der Verwaltung zerfallen diese Länder in Wilajets, von denen jedes unter einem Pascha als Statthalter steht, deren Grenzen [* 20] und Namen aber häufig wechseln.
Dieselben sind im Sommer 1888, abgesehen von den zum Polizeibezirk von Konstantinopel gehörigen Liwas Bigha und Kodscha-Ili, das Inselwilajet (Dschezâiri-bahri-sefîd), Chodawendikjâr, Aïdin, Kastamuni, Angora, Konia, Siwas, Adana, Trapezunt, Erzerum, Wan, Bitlis, Diarbekr, Charput (Ma'amuret el Aziz), Mosul, Bagdad, Basra, Aleppo, Surija oder Damaskus und Beirut und in Arabien die Wilajets Hidschas und Jemen (s. die einzelnen Artikel). Die Bevölkerung der asiatischen Besitzungen der Pforte wird auf 16,133,000 Seelen veranschlagt, das Areal derselben auf ca. 1,890,000 qkm (ca. 34,300 QM.). Die direkten afrikanischen Besitzungen zählen auf 1,033,000 qkm nur etwa 1 Mill. Einw. Die gesamten unmittelbaren Besitzungen des türkischen Reichs umfassen also ca. 3,088,400 qkm mit 21½ Mill. Einw., unter Hinzurechnung aller Tributärstaaten etc. aber 4¼ Mill. qkm mit 33 Mill. Einw.
[Litteratur.]
Vgl. v. Hammer-Purgstall, Die Staatsverfassung und Staatsverwaltung des ¶