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unterliegen dieser Abstimmung Gesetze und allgemein verbindliche Beschlüsse nicht dringlicher Natur. Die gesetzgebende Behörde ist der Große Rat, der auf je vier Jahre durch das Volk erwählt wird. Die Exekutive übt ein Staatsrat von fünf Mitgliedern, die der Große Rat auf je vier Jahre erwählt. Die höchste richterliche Gewalt ist einem Obergericht übergeben, das ebenfalls durch den Großen Rat auf vier Jahre ernannt wird. In den acht Bezirken des Kantons ist die Exekutive durch einen Commissario der Regierung vertreten; jeder Bezirk hat sein Bezirksgericht, die Gemeinden je eine Municipalität mit einem Sindaco an der Spitze. Die Staatsrechnung für 1886 zeigt an Einnahmen 2,368,121, an Ausgaben 1,974,388 Frank. Die verzinsliche Staatsschuld belief sich am auf 8,584,957 Fr., die unverzinsliche auf 767,003 Fr. Der Sitz der Regierung wechselte bisher von sechs zu sechs Jahren zwischen den Städten Lugano, Locarno und Bellinzona; seit 1881 ist infolge eines Volksbeschlusses Bellinzona die ständige Hauptstadt des Kantons geworden.
[Geschichte.]
Das Gebiet des Kantons Tessin, ursprünglich größtenteils zum Herzogtum Mailand [* 2] gehörig, wurde von den Eidgenossen im 15. und 16. Jahrh. teils durch Eroberung, teils durch Schenkung erworben. Das Thal [* 3] Leventina (Livinen) gehörte den Urnern (seit 1440) und erfreute sich ausgedehnter Freiheiten, die ihm erst 1755 infolge eines Aufstandes entrissen wurden. Bellenz, Riviera und Bollenz (Blegnothal), von Ludwig XII. für die Hilfeleistung bei der Eroberung Mailands 1503 abgetreten, waren »gemeine« Vogteien von Uri, Schwyz und Nidwalden, Lugano, Locarno, Mendrisio und Maggiathal, ein Geschenk Maximilian Sforzas für Mailands Befreiung (1512), dagegen solche sämtlicher eidgenössischer Orte ohne Appenzell. [* 4] Die Verwaltung dieser italienischen Vogteien war ein Schandfleck der alten Eidgenossenschaft, und das Land fiel einer trostlosen Verwilderung anheim; dennoch zog es 1798 vor, bei der Helvetischen Republik zu verbleiben, die ihm Gleichberechtigung mit den ehemaligen Herren brachte, statt sich dem Wunsch Bonapartes gemäß der Cisalpinischen Republik anzuschließen.
Die Mediationsakte schuf daraus 1803 den heutigen Kanton [* 5] Tessin mit einer Repräsentativverfassung, die 1814 in aristokratischem Sinn modifiziert wurde. Im T. begann noch vor der Julirevolution in Frankreich mit einer unter der Führung des nachmaligen Bundesrats Franscini ins Werk gesetzten Verfassungsrevision vom die liberale Bewegung in der Schweiz. [* 6] Die innere Geschichte des Kantons blieb jedoch immer eine leidenschaftlich bewegte infolge des Gegensatzes zwischen den Klerikalen, welche in den nördlich vom Monte Ceneri gelegenen Alpenthälern (Sopraceneri), und den Liberalen, die im südlichen Landesteil (Sottoceneri) die entschiedene Mehrheit besaßen. Am stürzten die Liberalen eine sie mit Verfolgungen bedrohende ultramontane Regierung mit Gewalt, während ein ähnlicher Versuch der Ultramontanen 1841 mit der Hinrichtung ihres Führers Nessi endete.
Nachdem die Liberalen ihr Übergewicht im Großen Rat und im Staatsrat dazu benutzt hatten, die Klöster aufzuheben oder doch in der Novizenaufnahme zu beschränken, die Geistlichen von der Schule auszuschließen und den kirchlichen Verband [* 7] mit den Bistümern Como und Mailand seitens des Staats zu lösen (1858), entbrannte 1870 über der Frage, ob Bellinzona oder Lugano alleinige Hauptstadt des Kantons sein sollte, aufs neue ein leidenschaftlicher Parteikampf zwischen den Sopra- u. Sottocenerinern.
Der Gegensatz verschärfte sich, als 1875 die Ultramontanen die Mehrheit im Großen Rat erhielten. Dieser geriet nunmehr in Konflikt mit dem liberalen Staatsrat über ein neues Wahlgesetz. Die Aufregung stieg darüber so hoch, daß es in Stabio zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen Klerikalen und Liberalen kam. Doch ward unter Vermittelung eines eidgenössischen Kommissars ein Vergleich geschlossen und Neuwahlen für den Großen Rat auf anberaumt, bei denen die Klerikalen definitiv den Sieg errangen.
Durch ein Verfassungsgesetz vom wurde der bisherige Wechsel des Regierungssitzes zwischen Locarno, Lugano und Bellinzona aufgehoben und letzteres zur alleinigen Hauptstadt erklärt. Neuen Stoff zur Entflammung der Parteileidenschaften gab die nunmehr ausschließlich aus Klerikalen bestellte Regierung durch die rücksichtslose Entfernung aller liberalen Lehrer und Beamten, Wiederbevölkerung der Klöster etc.; durch den Versuch aber, den Prozeß wegen der Vorgänge in Stabio zur Vernichtung des Obersten Mola, eines Führers der Liberalen, zu benutzen, obschon dessen Unschuld klar zu Tage lag, brachte sie die ganze Schweiz in Aufregung, die sich erst wieder legte, als die in ihrer Mehrheit klerikale Jury den Prozeß durch eine allgemeine Freisprechung endigte Im J. 1883 wurde durch eine Verfassungsrevision das Referendum eingeführt und 1886 das Kirchengesetz in ultramontanem Sinn umgeändert, wogegen der Papst durch Verträge mit der Eidgenossenschaft (1884 und 1888) in den formellen Anschluß des an das Bistum Basel [* 8] willigte, unter der Bedingung, daß ein von der Kurie im Einverständnis mit dem Bischof aus der tessinischen Geistlichkeit zu ernennender apostolischer Administrator in Lugano die bischöfliche Gewalt im Kanton ausübe.
Aus Anlaß der Neuwahlen für den Großen Rat kam es zu einem so heftigen Streit zwischen den Konservativen und den Liberalen, welche die erstern gesetzwidriger Streichungen von Liberalen in den Wahllisten beschuldigten, daß die Bundesbehörde einschreiten mußte. Gewählt wurden 75 Konservative und 37 Liberale.
Vgl. Franscini, Der Kanton Tessin historisch, geographisch und statistisch (deutsch, St. Gallen 1835);
Osenbrüggen, Der Gotthard und das Tessin (Basel 1877);
»Bolletino storico della Svizzera italiana« (Bellinz. 1879 ff.);
Motta, Bibliografia storica ticinese (Zür.).