Titel
Tessin
(Ticino), der südlichste Kanton [* 2] der Schweiz, [* 3] im N. von Wallis, Uri und Graubünden, im O. von Graubünden und Italien, [* 4] im S. und W. von Italien begrenzt, hat eine Fläche von 2818 qkm (51,2 QM.). Er umfaßt die große Masse des obern Tessingebiets, d. h. einen förmlichen Fächer [* 5] alpiner und voralpiner Thäler, welche sich gegen den Lago Maggiore, meist in südlicher Richtung, dem Fluß Tessin zu, öffnen. Soweit das Hochgebirge reicht, pflegt man die Tessiner Alpen [* 6] als Ausstrahlungen des St. Gotthard (s. d.) zu betrachten und der Gotthardgruppe beizuordnen. Es ist dies zunächst ein Zug, der von dem Knotenpunkt einerseits zum Ofenhorn (3270 m), anderseits zum Vorderrhein zieht und hier in die Graubündner Alpen übergeht. Da erheben sich unter andern die zentralen Massen des Scopi (3201 m), des Camotsch (Cima Camadra 3203 m) und insbesondere die Adulagruppe mit dem 3398 m hohen Rheinwaldhorn, der höchsten Erhebung des Kantons, von wo ein langer Kamm nach S., bis zur Mündung der Moësa, zieht.
Dieser großartigen äußern Umwallung in Halbkreisform entspricht, durch das Thal [* 7] des Tessin davon getrennt, eine innere, von den Schneehäuptern des Basodine (3276 m) und Pizzo Forno (2909 m) flankierte. Jenseit der tiefen Furche des Tessinthals und des Lago Maggiore erreicht das Gebirge nur noch voralpinen Charakter in den Zentralmassen des Monte Tamaro (1961 m), des Camoghè (2226 m) und des Monte Generoso (1695 m); die Thäler nehmen mildere Formen an und leiten allmählich in die lombardischen Ebenen über.
Eine Straße, welche den Monte Ceneri (553 m) überschreitet, jetzt eine zum Netz des Gotthardunternehmens gehörige Bahn, mit 1,673 km langem Tunnel [* 8] (1880/81 gebohrt), verbindet die hochalpinen Landschaften (Sopraceneri) mit dem voralpinen Gebiet (Sottoceneri). Der Hauptfluß des Landes ist der Tessin (s. d.), dessen Thal sich in die drei Stufen: Val Bedretto, Valle Leventina und Riviera gliedert. Ihm geht links das von Lukmanier und Greina herabsteigende, vom Brenno durchflossene Valle Blegno zu; zwei andre hochalpine, dem Tessinthal parallele Thäler münden rechts zum Lago Maggiore: das Val Verzasca und bei Locarno Valle Maggia, zu oberst Val Lavizzara genannt. Im Gegensatz zu diesen ernst und eng umrahmten Alpenthälern steht der voralpine Sottoceneri.
Hier lagert der Luganer See, dem der Agno zufließt und die klare Tresa entströmt, um in den Lago Maggiore zu münden. Dieser orographischen Gestaltung entspricht die klimatische Mannigfaltigkeit, so daß Bellinzona eine durchschnittliche Jahrestemperatur von 12,6° C. hat, während im St. Gotthard-Hospiz (2100 m) das Jahresmittel -0,6° beträgt. Der Kanton zählt (1888) 127,274 (1880: 130,777) Einw., durchweg italienischer Nationalität. Entsprechend ihrer Bodenbeschaffenheit bringen die alpinen Thäler des Sopraceneri wenig Getreide [* 9] hervor, während der Sottoceneri und die untere Stufe des Sopraceneri sehr ergiebig sind.
Hier gibt es meist zwei Ernten, und neben allerlei Obst gedeihen Feigen, Pfirsiche und Walnüsse, Kastanien und Oliven sowie Wein und Tabak. [* 10] Die Waldungen sind meist in der schonungslosesten Weise ausgeholzt worden; die früher sehr starke Holzausfuhr hat daher beinahe ganz aufgehört. Auch in der Rinderzucht findet sich nichts Bedeutendes; die Tiere sind klein und von geringer Rasse. Ein großes Heer von Ziegen und kleinen, unansehnlichen Schafen zeugt kaum für eine wirtschaftliche Entwickelung. Im Sottoceneri hält man viele Esel.
Auch Seiden- und Schneckenzucht wird betrieben. Um Locarno findet sich Gneis, um Mendrisio Kalkstein und Marmor, und im Val Lavizzara wird Lavezstein (zu Geschirren) vielfach angewendet. Die einheimischen Gewerbszweige, etwa die Geschirrdrechselei von Val Lavizzara und die Strohflechterei von Val Onsernone abgerechnet, häufen sich im Sottoceneri, namentlich um Lugano, wo Leinweberei, Gerberei, Ziegelei, Töpferei, Papierfabrikation [* 11] u. a. blühen. Den meisten Gewerbfleiß aber zeigen die Tessiner in der Fremde, wo sie in den mannigfachsten Handwerken und Arbeiten thätig sind. In neuerer Zeit wendet sich die Auswanderung auch überseeischen Ländern, hauptsächlich den La Plata-Staaten, zu. Von seinen schweizerischen Nachbarn, den Kantonen Wallis, Uri und Graubünden, durch wilde Gebirge geschieden, ist das Land von N. her schwer zugänglich; hohe und beschwerliche Bergpfade, wie die Nufenen (2441 m) und Greina (2360 m) sowie der zum Comersee hinüberleitende Paß [* 12] von Sant Jorio (1956 m), haben keine Bedeutung als Verkehrsrouten erlangt, und erst seit kurzem ist der 1917 m hohe Lukmanier gebahnt, dessen neue Straße 1877 dem Verkehr übergeben wurde.
Dagegen war der St. Gotthard (2114 m) seit dem 12. Jahrh. mehr und mehr zu einem wichtigen Übergang geworden und bekam 1820-24 eine großartige Kunststraße; ziemlich zu derselben Zeit wurde auch der Bernhardin (2063 m) gebahnt. Seit kam das Unternehmen der Gotthardbahn (s. d.) zur Ausführung. Die tessinischen Thalbahnen Biasca-Bellinzona-Locarno sowie Lugano-Chiasso wurden bereits 1874 dem Betrieb übergeben; dann folgte die Linie Bellinzona-Lugano-Chiasso (-Como), welche den Monte Ceneri passiert.
Einstweilen ist die Dampfschiffahrt auf dem Lago Maggiore, in minderm Grade diejenige auf dem Luganer See von Wichtigkeit; auf ersterm kursieren 11, auf letzterm 3 Dampfer. Die inländische Handelsthätigkeit ist nicht bedeutend; ein vorübergehendes Leben bringen die herbstlichen Viehmärkte von Airolo, Faido, Biasca und namentlich von Lugano, dem industriellsten Ort und ersten Handelsplatz des Tessin. In Bellinzona und Lugano arbeiten die zwei tessinischen Zettelbanken; Locarno hat eine Hypothekenbank.
Zur Hebung [* 13] der sehr vernachlässigten Volksbildung ist in neuerer Zeit manches geschehen. Auch im T. ist der Primarunterricht jetzt obligatorisch. Ein Lehrerseminar für beide Geschlechter besteht erst seit 1874 (in Pollegio). Neben einigen Progymnasien ist das Lyceum in Lugano die höchste Lehranstalt des Kantons. Die öffentlichen Bibliotheken enthalten nur 30,000 Bände. Seit längerer Zeit sind die kirchlichen Verhältnisse in einer Umbildung begriffen. Der Kanton Tessin gehörte früher teils zum Bistum Como, teils zum Erzbistum Mailand; [* 14] am hat die Bundesversammlung die Abtrennung vom auswärtigen Verband [* 15] ausgesprochen, und durch Staatsvertrag ist diese Ablösung ökonomisch geregelt.
Die kirchliche Seite jedoch blieb lange streitig, da der Papst die Errichtung eines besondern Bistums Tessin wünschte, die Eidgenossenschaft dagegen den Anschluß an eins der schon bestehenden schweizerischen Bistümer verlangte. Erst 1888 wurde der Streit durch einen Vergleich mit der Kurie beigelegt (s. unten, Geschichte). Die Verfassung datiert vom und erfuhr wiederholt partielle Revisionen (die letzte Tessin stand bis dahin noch durchaus auf dem Boden der Repräsentativdemokratie; dann aber wurde das fakultative Referendum eingeführt, nämlich sofern 5000 Bürger die Abstimmung verlangen, und zwar ¶
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unterliegen dieser Abstimmung Gesetze und allgemein verbindliche Beschlüsse nicht dringlicher Natur. Die gesetzgebende Behörde ist der Große Rat, der auf je vier Jahre durch das Volk erwählt wird. Die Exekutive übt ein Staatsrat von fünf Mitgliedern, die der Große Rat auf je vier Jahre erwählt. Die höchste richterliche Gewalt ist einem Obergericht übergeben, das ebenfalls durch den Großen Rat auf vier Jahre ernannt wird. In den acht Bezirken des Kantons ist die Exekutive durch einen Commissario der Regierung vertreten; jeder Bezirk hat sein Bezirksgericht, die Gemeinden je eine Municipalität mit einem Sindaco an der Spitze. Die Staatsrechnung für 1886 zeigt an Einnahmen 2,368,121, an Ausgaben 1,974,388 Frank. Die verzinsliche Staatsschuld belief sich am auf 8,584,957 Fr., die unverzinsliche auf 767,003 Fr. Der Sitz der Regierung wechselte bisher von sechs zu sechs Jahren zwischen den Städten Lugano, Locarno und Bellinzona; seit 1881 ist infolge eines Volksbeschlusses Bellinzona die ständige Hauptstadt des Kantons geworden.
[Geschichte.]
Das Gebiet des Kantons Tessin, ursprünglich größtenteils zum Herzogtum Mailand gehörig, wurde von den Eidgenossen im 15. und 16. Jahrh. teils durch Eroberung, teils durch Schenkung erworben. Das Thal Leventina (Livinen) gehörte den Urnern (seit 1440) und erfreute sich ausgedehnter Freiheiten, die ihm erst 1755 infolge eines Aufstandes entrissen wurden. Bellenz, Riviera und Bollenz (Blegnothal), von Ludwig XII. für die Hilfeleistung bei der Eroberung Mailands 1503 abgetreten, waren »gemeine« Vogteien von Uri, Schwyz und Nidwalden, Lugano, Locarno, Mendrisio und Maggiathal, ein Geschenk Maximilian Sforzas für Mailands Befreiung (1512), dagegen solche sämtlicher eidgenössischer Orte ohne Appenzell. [* 17] Die Verwaltung dieser italienischen Vogteien war ein Schandfleck der alten Eidgenossenschaft, und das Land fiel einer trostlosen Verwilderung anheim; dennoch zog es 1798 vor, bei der Helvetischen Republik zu verbleiben, die ihm Gleichberechtigung mit den ehemaligen Herren brachte, statt sich dem Wunsch Bonapartes gemäß der Cisalpinischen Republik anzuschließen.
Die Mediationsakte schuf daraus 1803 den heutigen Kanton Tessin mit einer Repräsentativverfassung, die 1814 in aristokratischem Sinn modifiziert wurde. Im T. begann noch vor der Julirevolution in Frankreich mit einer unter der Führung des nachmaligen Bundesrats Franscini ins Werk gesetzten Verfassungsrevision vom die liberale Bewegung in der Schweiz. Die innere Geschichte des Kantons blieb jedoch immer eine leidenschaftlich bewegte infolge des Gegensatzes zwischen den Klerikalen, welche in den nördlich vom Monte Ceneri gelegenen Alpenthälern (Sopraceneri), und den Liberalen, die im südlichen Landesteil (Sottoceneri) die entschiedene Mehrheit besaßen. Am stürzten die Liberalen eine sie mit Verfolgungen bedrohende ultramontane Regierung mit Gewalt, während ein ähnlicher Versuch der Ultramontanen 1841 mit der Hinrichtung ihres Führers Nessi endete.
Nachdem die Liberalen ihr Übergewicht im Großen Rat und im Staatsrat dazu benutzt hatten, die Klöster aufzuheben oder doch in der Novizenaufnahme zu beschränken, die Geistlichen von der Schule auszuschließen und den kirchlichen Verband mit den Bistümern Como und Mailand seitens des Staats zu lösen (1858), entbrannte 1870 über der Frage, ob Bellinzona oder Lugano alleinige Hauptstadt des Kantons sein sollte, aufs neue ein leidenschaftlicher Parteikampf zwischen den Sopra- u. Sottocenerinern.
Der Gegensatz verschärfte sich, als 1875 die Ultramontanen die Mehrheit im Großen Rat erhielten. Dieser geriet nunmehr in Konflikt mit dem liberalen Staatsrat über ein neues Wahlgesetz. Die Aufregung stieg darüber so hoch, daß es in Stabio zu einem blutigen Zusammenstoß zwischen Klerikalen und Liberalen kam. Doch ward unter Vermittelung eines eidgenössischen Kommissars ein Vergleich geschlossen und Neuwahlen für den Großen Rat auf anberaumt, bei denen die Klerikalen definitiv den Sieg errangen.
Durch ein Verfassungsgesetz vom wurde der bisherige Wechsel des Regierungssitzes zwischen Locarno, Lugano und Bellinzona aufgehoben und letzteres zur alleinigen Hauptstadt erklärt. Neuen Stoff zur Entflammung der Parteileidenschaften gab die nunmehr ausschließlich aus Klerikalen bestellte Regierung durch die rücksichtslose Entfernung aller liberalen Lehrer und Beamten, Wiederbevölkerung der Klöster etc.; durch den Versuch aber, den Prozeß wegen der Vorgänge in Stabio zur Vernichtung des Obersten Mola, eines Führers der Liberalen, zu benutzen, obschon dessen Unschuld klar zu Tage lag, brachte sie die ganze Schweiz in Aufregung, die sich erst wieder legte, als die in ihrer Mehrheit klerikale Jury den Prozeß durch eine allgemeine Freisprechung endigte Im J. 1883 wurde durch eine Verfassungsrevision das Referendum eingeführt und 1886 das Kirchengesetz in ultramontanem Sinn umgeändert, wogegen der Papst durch Verträge mit der Eidgenossenschaft (1884 und 1888) in den formellen Anschluß des an das Bistum Basel [* 18] willigte, unter der Bedingung, daß ein von der Kurie im Einverständnis mit dem Bischof aus der tessinischen Geistlichkeit zu ernennender apostolischer Administrator in Lugano die bischöfliche Gewalt im Kanton ausübe.
Aus Anlaß der Neuwahlen für den Großen Rat kam es zu einem so heftigen Streit zwischen den Konservativen und den Liberalen, welche die erstern gesetzwidriger Streichungen von Liberalen in den Wahllisten beschuldigten, daß die Bundesbehörde einschreiten mußte. Gewählt wurden 75 Konservative und 37 Liberale.
Vgl. Franscini, Der Kanton Tessin historisch, geographisch und statistisch (deutsch, St. Gallen 1835);
Osenbrüggen, Der Gotthard und das Tessin (Basel 1877);
»Bolletino storico della Svizzera italiana« (Bellinz. 1879 ff.);
Motta, Bibliografia storica ticinese (Zür.).