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der gesellschaftlichen Gesamtordnung von gewissen Handlungen zu besorgen ist. Wie verschieden in diesem Stück die Denkweise der Kulturvölker ist, zeigt sich am deutlichsten darin, daß die Römer [* 2] den Diebstahl nur als eine Privateigentumsverletzung mit zivilen Folgen (von Ausnahmen abgesehen) behandelten, während für uns der Diebstahl das wichtigste aller Verbrechen geworden ist. Betrachtet man ferner die Masse der regelmäßig als verbrecherisch erklärten Handlungen, so wird man nicht umhin können, drei Gruppen von Thatbeständen zu sondern:
1) solche Verbrechen, deren Inhalt ein nach Ort und Zeit besonders wandelbarer ist und sich in hohem Maß veränderlich zeigt. Es sind dies vorzugsweise die sogen. politischen oder Staatsverbrechen, in denen sich das nationale Element der einzelnen Gesetzgebungen kundgibt. Weil diese Thatbestände als schlechthin unsittlich nicht gelten können, begründen sie auch keine Ablieferungspflicht unter zivilisierten Staaten;
2) solche Verbrechen, die vergleichungsweise einen annähernd gleichen Inhalt zu allen Zeiten gehabt haben und deswegen das kosmopolitische Element der Rechtsordnung repräsentieren: Mord, Totschlag, Fälschung, Betrug, Notzucht etc.;
3) solche, bei denen die rechtswidrige Verletzung des Privatwillens die Schädigung der allgemeinen Interessen überwiegt und deswegen die Bestrafung von dem Antrag des Verletzten abhängig gemacht wird (sogen. Antragsdelikte). In dieser letztern Gruppe liegen die Berührungspunkte zwischen zivilem u. kriminellem Unrecht.
Mit dem eigentlichen Grund und Zweck der Strafe beschäftigen sich die Strafrechtstheorien. Es besteht aber in dieser Hinsicht durchaus keine wissenschaftliche Übereinstimmung. Die bisherigen, äußerst zahlreichen Straftheorien sind nach folgenden Gesichtspunkten klassifiziert worden: I. Relative Theorien (Nützlichkeitstheorien), welche die Strafe als ein Mittel betrachten, durch welches der Staat berechtigt ist, die ihm obliegenden Wohlfahrtszwecke zu fördern. II. Absolute Theorien (Gerechtigkeits-, Vergeltungs-, auch Vergütungstheorien, im Unterschied von Verhütungstheorien), welche die Strafe, unabhängig von gewissen Zweckbestimmungen, als schlechthin pflichtmäßige Bethätigung der im Staat waltenden sittlichen Idee auffassen. III. Gemischte Theorien (auch Vereinigungstheorien), welche sowohl die absolute Notwendigkeit der Strafe als auch ihre Zweckmäßigkeit hervorheben.
Die wichtigsten relativen Theorien waren: die Abschreckungstheorie, wonach durch den Strafvollzug andre von dem Begehen von Verbrechen abgehalten werden sollen;
die Androhungstheorie (Theorie des psychologischen Zwanges), namentlich von Feuerbach vertreten, wonach die Menschen durch die Strafandrohung von verbrecherischen Handlungen abgeschreckt werden sollen, von Bauer Warnungstheorie genannt.
Hierher gehören ferner die sogen. Präventionstheorie, welche den einzelnen Verbrecher durch die Strafe von der Begehung weiterer Verbrechen abhalten will, also eine »Spezialprävention« im Gegensatz zu der »Generalprävention« der Androhungstheorie beabsichtigt, namentlich von Grolman aufgestellt; dann die Besserungstheorie Röders, wonach die Sicherung der Gesellschaft durch Umstimmung des verbrecherischen Willens vermöge der strafweisen Nacherziehung erreicht werden soll; endlich die Theorie des durch Strafe zu leistenden moralischen Schadenersatzes von Welcker und die Theorie der in der Strafe bewirkten gesellschaftlichen Notwehr gegen das Verbrechen, die schon von Beccaria und von Blackstone im vorigen Jahrhundert aufgestellt und in Deutschland [* 3] von Martin verteidigt ward. - Zu den absoluten Theorien zählen vorzugsweise: die Wiedervergeltungstheorie Kants, gestützt auf den kategorischen Imperativ der Gleichheit zwischen Strafübel und Verbrechensübel (nachmals weiter entwickelt von Henke, Zachariä, Berner), und die Gerechtigkeitstheorie Hegels, wonach das Verbrechen Negation des Rechts und die Strafe Negation der Negation, also Affirmation des Rechts, sein soll. Auch die Theorie der religiösen Sühnung der göttlichen Weltordnung, wie solche von ultramontanen oder lutherisch-orthodoxen Rechtslehrern verfochten wird, gehört hierher. - Die Vereinigungstheorien (vertreten von Abegg, Berner, Heinze, Merkel u. a.) beruhen auf einer doppelten Entwickelungsreihe.
Entweder wird die Nützlichkeitsrelation als Grund der Strafe anerkannt und der Verfolgung der Nützlichkeitszwecke eine Schranke an der Gerechtigkeitsidee gegeben, oder die Gerechtigkeit soll das sittliche Fundament der Strafe abgeben, wobei aber die Zweckwidrigkeit eine Grenze für die Verwirklichung der Rechtsidee bezeichnet. Endlich hat man auch (Abegg) den Identitätsbeweis von Nützlichkeit und Gerechtigkeit auf dem Boden des Strafrechts zu führen unternommen. Zum endgültigen Austrag ist der Streit um die Strafrechtstheorie noch nicht gebracht worden.
Was Deutschland anbelangt, so beruhte der ältere Strafrechtszustand vor dem 16. Jahrh. auf denselben formellen Grundlagen wie das gesamte Recht überhaupt: auf ältern germanischen Rechtsgewohnheiten, auf der spezifischen Wirkung kirchlich-kanonischer Anschauungen, endlich auf der Rezeption des römischen Rechts. Merkwürdig genug gelangte Deutschland 1532 unter Karl V. zu einem einheitlichen Straf- und Strafprozeßgesetzbuch (Constitutio Criminalis Carolina= C. C. C.), welches unter den Denkmälern der deutschen Rechtsgesetzgebung früherer Jahrhunderte unzweifelhaft den hervorragendsten Platz verdient.
Diese notdürftig, mit großen Schwierigkeiten erreichte, den Fortbestand alter germanischer Gewohnheiten und des römischen Rechts aber anerkennende Gesetzgebungseinheit zersetzte sich im 18. Jahrh. vollständig, insofern der Gerichtsgebrauch die alten, mit der fortschreitenden Humanität unvereinbaren Leibesstrafen beseitigte. Friedrich d. Gr. erkannte zuerst die Notwendigkeit einer umfassenden neuen Kodifikation. Das alte gemeine Recht wurde mehr und mehr durch die Partikularstrafgesetzbücher aus den einzelnen Ländern verdrängt, und so entstand der Unterschied zwischen gemeinem und partikulärem deutschen S. Dem vorigen Jahrhundert gehören das Josephinische Gesetzbuch von 1787 und das Allgemeine preußische Landrecht von 1794 an. Von weitreichendem Einfluß ward der französische Code pénal von 1810, welcher in Frankreich noch gegenwärtig, wenn schon mannigfach modifiziert, in Gültigkeit ist (auch in Holland und in revidierter Gestalt selbst in Belgien). [* 4]
Verhältnismäßig minder bemerkbar war dieser Einfluß in den vor 1848 entstandenen deutschen Strafgesetzbüchern, unter denen das bayrische, dessen Urheber Feuerbach war, hervorragt und das braunschweigische von 1840 und badische von 1845 besonders erwähnenswert sind (außerdem: Königreich Sachsen [* 5] 1838, Hannover [* 6] 1840 und Hessen-Darmstadt 1841). Dagegen war nach 1848 der Einfluß des französischen Rechts dadurch gesteigert, daß man in der Eile sich zur Annahme des französischen Strafprozeßmusters bestimmen ließ. Kein Gesetzbuch hat sich jedoch dem ¶
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Code pénal in seiner Technik so eng angeschlossen wie das preußische vom das nach 1866 und 1867 auch in den neueinverleibten Landesteilen zur Geltung gelangte. Der Periode von 1848 bis 1870 gehören außerdem folgende Strafgesetzbücher an: Nassau 1849, Thüringen (nebst Anhalt, [* 8] aber ohne Altenburg) [* 9] 1850, Oldenburg [* 10] 1858, Bayern [* 11] 1861, Lübeck [* 12] 1863, Hamburg [* 13] 1869. In einigen wenigen Ländern (Mecklenburg, [* 14] Bremen, [* 15] Schaumburg-Lippe, Kurhessen) hatte sich das alte gemeine Recht im Gerichtsgebrauch erhalten.
Schon 1848 erkannte man allgemein das Willkürliche der strafgesetzlichen Zersplitterung in Deutschland; die Grundrechte verordneten ein einheitliches deutsches Strafgesetzbuch, und auch der erste deutsche Juristentag in Berlin [* 16] erklärte auf v. Kräwels Antrag die Strafrechtseinheit für notwendig. In die norddeutsche Bundesverfassung ging dieser nationale Wunsch als Verfassungsartikel über. Auf der äußerlichen Grundlage des preußischen Strafgesetzbuchs von 1851 ruhend, entstand alsdann das ehemalige norddeutsche Strafgesetzbuch vom das demnächst nach Begründung des Kaisertums in veränderter Redaktion als deutsches Reichsstrafgesetzbuch vom noch einmal publiziert ist, seit in ganz Deutschland gilt und auch im Reichsland eingeführt wurde.
Nicht alles S. ist für Deutschland einheitlich geordnet. Neben dem Reichsstrafrecht besteht ein Landesstrafrecht innerhalb derjenigen Materien, die von Reichs wegen nicht geordnet wurden oder der Gesetzgebung der einzelnen Staaten ausdrücklich überlassen blieben. Im großen und ganzen trägt das Reichsstrafgesetzbuch den Grundzug der Milde, die hauptsächlichsten Mängel des preußischen Strafgesetzbuchs sind beseitigt. Solange jedoch das vom Reichstag erforderlich erachtete Strafvollzugsgesetz fehlt, bleibt die strafrechtliche Einheit unvollständig.
Einzelnen fühlbaren Mißgriffen des Strafgesetzbuchs hat die Strafrechtsnovelle vom abgeholfen. Ein Militärstrafgesetzbuch ist für das Deutsche Reich [* 17] erlassen. Der Entwurf eines österreichischen Strafgesetzbuchs und das ungarische von 1878 schließen sich dem deutschen an. Gegenwärtig gilt in Österreich [* 18] noch das Strafgesetzbuch vom Neuere Strafgesetzbücher sind die der schweizerischen Kantone Zürich (1871), Genf [* 19] (1874), Schwyz (1881) u. a., das Strafgesetzbuch der Niederlande [* 20] (1881), Belgien (1867), Dänemark [* 21] (1866), Schweden [* 22] (1864), Island [* 23] (1869), Ungarn [* 24] (1878), Bosnien [* 25] (1881), Rußland (1866), Spanien [* 26] (1870), Rumänien [* 27] (1864) und Serbien (1860). In England fehlt ein Strafgesetzbuch.
[Litteratur.]
Unter den ältern Lehrbüchern des deutschen Strafrechts sind die Werke von Feuerbach, Grolman, Mittermaier, Wächter, Heffter und Abegg hervorzuheben.
Neuere Lehrbücher von Berner (15. Aufl., Leipz. 1888), Hugo Meyer (4. Aufl., Erlang. 1886), Schütze (2. Aufl., Leipz. 1874), v. Bar (Bd. 1, Berl. 1882), v. Lißt (2. Aufl., das. 1884) und v. Wächter (Vorlesungen, Leipz. 1881).
Vgl. auch v. Holtzendorff, Handbuch des deutschen Strafrechts in Einzelbeiträgen (verschiedene Verfasser, Berl. 1871-77).
Kommentare des Reichsstrafgesetzbuchs von Oppenhoff (11. Aufl., Berl. 1888), Schwarze (5. Aufl., Leipz. 1884), Olshausen (2. Aufl., Berl. 1886, 2 Bde.), Rüdorff (13. Aufl., das. 1885) u. a. Grundrisse zu Vorlesungen von Binding (3. Aufl., Leipz. 1884), Geyer (Münch. 1884 f.) u. a. Herbst, Handbuch des österreichischen Strafrechts (7. Aufl., Wien [* 28] 1883, 2 Bde.); Janka, Österreichisches S. (Prag [* 29] 1884); Nypels, Le [* 30] droit pénal français progressif et comparé (Par. 1864). Zeitschriften: »Der Gerichtssaal« (seit 1874 verschmolzen mit der von v. Holtzendorff seit 1861 herausgegebenen »Allgemeinen deutschen Strafrechtszeitung«);
Goltdammers »Archiv für preußisches (und seit 1871 auch für deutsches) S.«;
»Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft« (seit 1881);
»Rivista penale di dottrina, legislazione e giurisprudenza« (seit 1874).
Die Entscheidungen des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen werden unter dem Titel: »Rechtsprechung des deutschen Reichsgerichts in Strafsachen« von den Mitgliedern der Reichsanwaltschaft herausgegeben.