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Sprache [* 2] ungemein verlangsamt. Ganz neue Wörter werden meist nur von Kindern erfunden, deren Neuerungsversuche in der Regel keine bleibende Wirkung hinterlassen. So berichtet Charles Darwin von einem englischen Kinde, das im Alter von einem Jahr alles Eßbare mit der Silbe »umm« bezeichnete; Taine beobachtete ein französisches Kind, das etwa im gleichen Alter einen Hund »na-na«, ein Pferd [* 3] »da-da« nannte; und der Schreiber dieser Zeilen kannte ein deutsches Kind, das umherflatternde Tauben [* 4] als »Wattel-Wattel« bezeichnete.
Aber wenige Jahre später waren diese Wörter vergessen. Dem gebildeten Deutschen, Engländer, Franzosen etc. sind daher noch jetzt Bücher, die in den zwei oder drei letzten Jahrhunderten geschrieben wurden, fast ohne Mühe verständlich. Das Englische [* 5] hat sich über alle Weltteile verbreitet, ist aber dabei vollkommen stabil geblieben. Namentlich bildet die Schrift und in der Neuzeit auch der Buchdruck, dann die ungeheure Vermehrung und Verbesserung der Verkehrsmittel die wirksamste Schranke gegen die sprachliche Neuerungssucht.
Dennoch wäre es ein vollkommener Irrtum, irgend eine moderne Sprache für vollkommen abgeschlossen zu halten. Vor allem ist auch in der Sprache unaufhörlich ein Gesetz der Trägheit wirksam, das sich besonders in der Vereinfachung oder gänzlichen Beseitigung schwer sprechbarer oder unbetonter Laute und Lautverbindungen geltend macht. Durch diese stufenweise fortschreitende Abschleifung und Verwitterung der Laute ist z. B. im Englischen überall das ch und das vor einem n stehende k abgestoßen worden, so daß knight, das deutsche »Knecht«, wie neit gesprochen wird; im Deutschen ist das tonlose e in Schlußsilben in völligem Rückzug begriffen, wodurch z. B. erst in neuester Zeit »des Königes, dem Könige« in »Königs, König«, »befestiget« in »befestigt« verwandelt wurde u. dgl. Anderseits führt der Nachahmungs- und Analogietrieb zur Erfindung und Ausbildung neuer Wörter, Formen und Bedeutungen, die entweder aus fremden Sprachen entlehnt werden, wie z. B. unsre aus dem Französischen herübergenommenen zahlreichen Verba auf -ieren, oder aus den Mundarten in die Schriftsprache eindringen, oder an ältere einheimische Wörter und Formen angelehnt werden, wie z. B. die deutsche Form der Vergangenheit auf -te, welche zusehends die alten ablautenden Verba verdrängt, wofür unser »backte« für das noch im vorigen Jahrhundert übliche »buk« als Beispiel dienen kann. Überhaupt hat die Sprachforschung dargethan, daß der Grad, bis zu dem sich Laute, Wörter, Wort- und Satzformen verändern können, an und für sich ein völlig unbegrenzter ist und oft die scheinbar unähnlichsten Sprachen durch eine Reihe von Mittelgliedern hindurch auf eine und dieselbe Grundsprache zurückgeführt werden können.
Denkt man sich die Entwickelung sämtlicher geschichtlich nachweisbarer Grundsprachen in einer vorgeschichtlichen Periode bis an ihren Ausgangspunkt fortgesetzt, so liegt es nahe, die Frage aufzuwerfen, ob nicht dieser Ausgangspunkt der gleiche, alle Grundsprachen in letzter Linie aus der nämlichen Ursprache entsprungen seien. Diese Frage, die man früher, teilweise aus religiösen Vorurteilen, voreilig zu bejahen pflegte, muß auf dem heutigen Stande der Wissenschaft entschieden verneint werden.
Standen auch eine Reihe wichtiger Sprachen einander früher viel näher als jetzt, so weichen doch die Grundsprachen, auf die sie zurückgehen, sowohl hinsichtlich der Wurzeln als des grammatischen Baues so entschieden voneinander ab, daß alle Versuche, sie (z. B. die indogermanische und semitische Grundsprache) auf eine gemeinsame Ursprache zurückzuführen, vollständig scheitern mußten. Man muß im Gegenteil annehmen, daß eine Reihe ursprünglicher Sprachtypen jetzt entweder völlig oder nur mit Hinterlassung vereinzelter Überreste, wie das rätselhafte Baskisch der Pyrenäen und die Sprachen des nördlichen Kaukasus, vom Erdboden verschwunden sind; denn je mehr die Kultur zunimmt, desto mehr nimmt die Sprachverschiedenheit ab und ist daher in Europa [* 6] trotz seiner dichten Bevölkerung [* 7] weit geringer als in allen übrigen Erdteilen. Auch die bestehenden Sprachen werden von der heutigen Sprachforschung auf eine beträchtliche Anzahl selbständiger Ursprachen zurückgeführt.
Mit dieser Erkenntnis hat sich die Frage nach dem Ursprung der Sprache, die schon Platon und Aristoteles, Epikur und die Stoiker beschäftigt und die griechischen und römischen Grammatiker in zwei Lager [* 8] gespalten hat, später mit unbegründetem Hinweis auf die Bibel, [* 9] welche die Erfindung der Sprache dem ersten Menschen beilegt, im Sinn eines übernatürlichen Ursprungs beantwortet wurde, in eine Frage nach der Entstehung der einzelnen thatsächlich nachgewiesenen Grundsprachen verwandelt.
Wie man sich dieselbe zu denken habe, läßt sich freilich historisch nicht feststellen; auch gehen die Ansichten darüber sehr auseinander, indem die einen, wie W. v. Humboldt, M. Müller, Steinthal etc., annehmen, daß sich unwillkürlich bestimmte Laute an bestimmte Begriffe oder Anschauungen anschlossen (Nativismus), die andern dagegen, wie Whitney, L. Geiger, Bleek, Marty, Madvig u. a., von der jetzigen Unabhängigkeit des Lauts vom Gedanken und des Gedankens vom Laut ausgehend, einen solchen Zusammenhang der Laute mit dem Gedanken abweisen (Empirismus).
Doch ist neuerdings eine Vermittelung zwischen den beiden sich entgegenstehenden Ansichten angebahnt und namentlich die früher versuchte Zurückführung der Sprache auf ein eigentümliches, später verlornes Vermögen der ursprünglichen Menschheit durchweg aufgegeben worden. Überhaupt ist es bei allen Mutmaßungen über den Sprachenursprung nötig, sich durchaus auf den thatsächlichen Boden zu stellen, welchen das Leben der Sprache während der durch die Geschichte beleuchteten Strecke ihrer Entwickelung und besonders bei unzivilisierten Völkern darbietet, und es sind dabei namentlich folgende Sätze festzuhalten, die sich also ebenso auf das Wesen wie auf den Ursprung der Sprache beziehen:
1) Sprache und Vernunft sind nicht identisch, so vielfach sie sich gegenseitig beeinflussen, und zwar ist das Sprechen eine weitaus beschränktere Fähigkeit als das Denken, da selbst die gebildetsten Sprachen, die das Sprachvermögen erzeugt hat, bei weitem nicht alle Gedanken auszudrücken vermögen. Es gibt Gedanken und Empfindungen, welche ein Ton oder eine Gebärde viel bezeichnender ausdrückt als ein Wort, und namentlich beim Kind und bei einem Menschen von lebhaftem Naturell ist die Gebärdensprache höchst entwickelt.
Die Taubstummen, denen gewiß niemand die Vernunft absprechen wird, haben eine höchst künstliche und ihnen gleichwohl völlig geläufige Zeichensprache. Viele Lehrsätze der Mathematik, welche sich in Worten nur mit Mühe oder gar nicht ausdrücken lassen, können durch ein paar einfache Zeichen oder eine Zeichnung leicht demonstriert werden. Musik und Malerei stehen der Poesie als selbständige Künste zur Seite. Auch sind die Gesetze der Denklehre oder Logik von den Gesetzen der Sprachlehre oder Grammatik verschieden, wie z. B. der deutsche Satz: »die ¶
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Kugel ist viereckig« grammatisch ganz richtig, aber logisch verkehrt ist. Hiernach hat es gewiß auch von allem Anfang an ein Denken ohne Sprechen gegeben.
2) Kinder und Naturmenschen bezeichnen viele Individuen oder Gegenstände dadurch, daß sie mit ihrer Stimme den Schall [* 11] nachahmen, den sie als von denselben ausgehend wahrgenommen haben. Diese einfache und nächstliegende Art der Bezeichnung, die onomatopoetische, war ohne Zweifel in jeder Ursprache sehr häufig, wenn die Wau-wau-Theorie (so genannt von dem Namen Wau-wau des Hundes in der Kindersprache) auch nicht den Anspruch erheben kann, alle Wörter zu erklären.
3) Ausrufe und Schreie (Interjektionen) spielen selbst bei gebildeten und erwachsenen Menschen noch eine mehr oder weniger große Rolle, eine sicher viel größere in den Anfängen einer Sprache. Hierin liegt die Berechtigung der sogen. Ah-ah- oder Interjektionstheorie vom Ursprung der Sprache.
4) Hiernach sind wohl auch die ersten Wörter nichts als Reflexlaute gewesen, welche im Affekt hervorgebracht wurden, gerade wie die Zuckungen oder sonstigen unwillkürlichen Reflexbewegungen, die aus Gemütsbewegungen hervorgehen. Die Reflexlaute gingen ursprünglich mit den andern unwillkürlichen Gebärden Hand [* 12] in Hand. Da die Gemütsbewegungen am leichtesten durch verschiedenerlei Geräusche verursacht wurden, so ahmte die menschliche Stimme mit Vorliebe diese Geräusche nach.
5) Erst in zweiter Linie wurden die Sprachlaute zugleich zu Mitteilungen verwendet, nachdem es wiederholt gelungen war, durch ihre Hervorbringung die Aufmerksamkeit der andern zu erregen. Es ging damit ähnlich wie mit der Gebärdensprache, die sich aus ursprünglichen Reflexbewegungen zu der ausgebildeten Zeichensprache entwickelt hat, die man z. B. bei den Indianern Nordamerikas findet. Auch die Schrift hat sich aus roher Ideenmalerei und Bilderschrift successive zu einem der vollkommensten Verständigungsmittel entwickelt.
6) Die ersten Sprachschöpfungen waren primitive Sätze, etwa wie die Ausrufe: »Diebe!« »Feuer!«, und aus diesen chaotischen Äußerungen haben sich erst allmählich selbständige Wörter und Redeteile entwickelt.
Vgl. Herder, Über den Ursprung der Sprache (zuerst Berl. 1772);
W. v. Humboldt, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues (neu hrsg. mit einer Einleitung von Pott, das. 1876, 2 Bde.);
Steinthal, Der Ursprung der Sprache im Zusammenhang mit den letzten Fragen alles Wissens (4. Aufl., das. 1888);
Derselbe, Abriß der Sprachwissenschaft (2. Aufl., das. 1881, Bd. 1: »Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft«);
J. Grimm, Über den Ursprung der Sprache (in »Kleinere Schriften«, Bd. 1, das. 1864);
Max Müller, Vorlesungen über die Wissenschaft der Sprache (deutsch von Böttger, 2. Aufl., Leipz. 1866-70, 2 Bde.);
Renan, De l'origine du langage (4. Aufl., Par. 1863);
Heyse, System der Sprachwissenschaft (Berl. 1856);
Schleicher, Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft (3. Aufl., Weim. 1873);
Wedgewood, On the origin of language (Lond. 1866);
Whitney, Die Sprachwissenschaft (bearbeitet von Jolly, Münch. 1874);
Bleek, Über den Ursprung der Sprache (Weim. 1868);
L. Geiger, Ursprung und Entwickelung der menschlichen Sprache und Vernunft (Stuttg. 1869-72, 2 Bde.);
Wackernagel, Über den Ursprung und die Entwickelung der Sprache (Basel [* 13] 1872);
Madvig, Kleine philologische Schriften (Leipz. 1875);
Marty, Über den Ursprung der Sprache (Würzb. 1875);
Noiré, Der Ursprung der Sprache (Mainz [* 14] 1877);
Paul, Prinzipien der Sprachgeschichte (2. Aufl., Halle [* 15] 1886).
Weitere Litteratur S. 182.
Sprachwissenschaft.
Die Sprachwissenschaft oder Linguistik (auch allgemeine Grammatik genannt) ist als Wissenschaft erst ein Kind des 19. Jahrh. Denn die Grammatik der Griechen und Römer [* 16] und die nicht minder bedeutenden grammatischen Forschungen der Inder und Araber waren schon durch ihre Beschränkung auf eine oder höchstens zwei Sprachen völlig ungeeignet, zu einer Einsicht in das Wesen und die Verwandtschaftsverhältnisse der Sprachen zu führen, und vom Mittelalter ab bis in die Neuzeit herein bildete besonders das Vorurteil, als sei das Hebräische die Ursprache der Menschheit, ein Hemmnis für den Fortschritt der Sprachforschung.
Erst die Entdeckung der alten heiligen Sprache Indiens, des Sanskrit, gegen Ende des 18. Jahrh. und die Aufdeckung des Zusammenhangs, in dem es mit den meisten Kultursprachen Europas steht, gaben den Anstoß zu einer ausgedehntern Sprachvergleichung und damit zur Begründung einer wirklichen Wissenschaft von der Sprache, deren Lebensprinzip, wie das jeder Wissenschaft, die Vergleichung ist. Ihrer exakten, streng induktiven Methode wegen ist die Sprachwissenschaft mehrfach den Naturwissenschaften zugezählt worden; doch gehört sie ihres Objekts wegen entschieden zu den sogen. Geisteswissenschaften, da die Sprache kein Naturprodukt, sondern ein Erzeugnis des menschlichen Geistes ist.
Auch waren die Begründer der Sprachwissenschaft durchweg Philologen. Durch die Forschungen Fr. Schlegels, Bopps und ihrer Nachfolger wurde der indogermanische Sprachstamm [* 17] nachgewiesen und die zu ihm gehörigen Sprachfamilien festgestellt wie auch die vergleichende Grammatik der indogermanischen Sprachen begründet. Zugleich regten W. v. Humboldts und Potts weitgreifende Forschungen eingehende Untersuchungen sowohl auf andern, selbst den fernst liegenden Sprachgebieten als auf dem Gebiet der Sprachphilosophie an, und die historische Sprachforschung, von J. Grimm und W. Diez begründet, schuf durch exakte und gründliche Forschung in dem enger begrenzten Bereich einzelner Sprachfamilien die Methode der historischen Grammatik. Seitdem hat der Betrieb der Sprachwissenschaft in ihren drei Hauptrichtungen, der historischen, vergleichenden und philosophischen, in allen Ländern, namentlich aber in Deutschland, [* 18] einen mächtigen Aufschwung genommen.
Die genaue Beobachtung des Lautwechsels, der sogen. Lautgesetze, bildet die Hauptgrundlage, auf der die bedeutenden Resultate der Sprachwissenschaft beruhen. Vor allem besitzen wir jetzt eine wissenschaftliche Etymologie, während früher nach dem Ausspruch des heil. Augustin die Ableitung der Wörter wie die Deutung der Träume ganz nach subjektiver Willkür betrieben und das berüchtigte Prinzip »lucus a non lucendo« nicht selten alles Ernstes angewendet wurde.
Nicht minder haben auch alle Teile der Grammatik, die Laut-, Flexions- und Wortbildungslehre wie die Syntax und die Lehre
[* 19] von der
Zusammensetzung, eine völlige Umgestaltung erfahren, der sich auch die Schulgrammatik
nicht mehr entziehen kann, seitdem
Curtius in seiner »Griechischen Schulgrammatik«
(zuerst 1852) gezeigt hat, wie wichtig auch für den Schulbetrieb
der Grammatik die Ergebnisse der vergleichenden Sprachforschung sich gestalten. Ferner ist über die Urgeschichte der Menschheit,
besonders der indogermanischen Völker, ein
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