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mißliebige Gesetze, dem fakultativen Referendum zunächst stehend, eine Form, die gegenwärtig noch im Kanton [* 2] St. Gallen besteht; c) Initiative, d. h. Volksrecht zu Anregung oder Vorlage neuer Gesetze; d) Volksabstimmung über dekretierte Ausgaben, die einen gewissen Betrag übersteigen, über Staatsanleihen etc. (finanzielles Referendum); e) direkte Wahl der obersten Vollziehungsbehörde. Es ist sofort klar, daß die bisherige Legislative, der Große oder Kantonsrat, zu einer bloßen Gesetzgebungskommission, zum Organ der Volkslegislative, herabsinkt und der Schwerpunkt [* 3] der Entscheidung in die Gesamtheit der Bürger verlegt ist.
Was den Verband [* 4] der eidgenössischen Stände betrifft, so war derselbe bis 1848 ein locker geschürzter, ganz im Sinn seiner Entstehung. Die neue Bundesverfassung vom wandelte die S. aus einem Staatenbund in einen Bundesstaat um, beschränkte die Eigenherrlichkeit der Kantone, gab allen Schweizern vor dem Gesetz gleiche Rechte, erlaubte keine fremden Militärkapitulationen, verpönte die stereotyp gewordenen »Putsche« (kantonalen Aufstände), bahnte die Zentralisation des Militärdienstes an, erklärte das Zoll-, Post-, Münz-, Maß- und Gewichtswesen für Bundessache, garantierte unter gewissen Beschränkungen das Recht der freien Niederlassung, die Ausübung jedes christlichen Gottesdienstes, die Preßfreiheit, das Vereinsrecht, das Petitionsrecht, den ordentlichen Gerichtsstand und versagte dem Jesuitenorden den Aufenthalt.
Ferner übertrug sie, im Sinn der Repräsentativdemokratie, der Bundesversammlung die Legislative und die Wahl der obersten Exekutivbehörden, dem Bundesrat die Exekutivgewalt und dem Bundesgericht die Rechtspflege, soweit sie in den Bereich des Bundes fällt. Die Bundesversammlung besteht aus zwei Kammern: dem Nationalrat mit verhältnismäßiger, dem Ständerat mit gleichmäßiger Repräsentanz. Der Nationalrat ist der Vertreter der Nation (je ein Mitglied auf 20,000 Einw., gegenwärtig 145), der Ständerat der Vertreter der eidgenössischen Stände, d. h. der Kantone (je zwei Mitglieder für den ganzen Kanton, ein Mitglied für den Halbkanton, also 44). Beide Kammern beraten in getrennten Versammlungen und entscheiden ohne Instruktion; ein Gesetz wird gültig, wenn es in jeder der beiden Kammern die Mehrheit hat.
Die Wahlen der Bundesräte etc. nimmt die Bundesversammlung in gemeinsamer Sitzung vor. Der Bundesrat besteht aus sieben Mitgliedern, eins derselben ist Bundespräsident. Durch Bundesgesetz wurde Bern [* 5] zur Bundesstadt gewählt. In der Periode lebhaften Fortschritts, welche die S. in den 50er und 60er Jahren durchmachte, gestalteten sich indessen wieder neue Verhältnisse und Anschauungen, und es regte sich das Bedürfnis einer Bundesrevision. Zwar die Versuche von 1866 und 1872 scheiterten, allein wurde der revidierte Verfassungsentwurf durch die Mehrheit des Volkes wie der eidgenössischen Stände angenommen.
Diese neue Bundesakte, ein Ausbau der 48er Verfassung und ein Kompromiß zwischen den fortschrittlichen Elementen unitarischer und föderalistischer Richtung, verstärkt in maßvoller Weise die Bundesgewalt, der Hauptsache nach schon im Militärwesen, noch entschiedener in den Richtungen des sozialen Lebens, ein Ausfluß [* 6] der volkstümlichen Forderung: Ein Recht und Eine Armee. Bleiben den Kantonen die Rekrutenaushebung, die Administration und die Offizierswahl, so fallen dem Bunde die Instruktion, die Gesetzgebung und die Überwachung zu. Die Rechtseinheit bezieht sich namentlich auf Handels-, Wechsel- und Obligationenrecht, Schuldbetreibung und Konkursrecht, persönliche Handlungsfähigkeit, litterarisches und künstlerisches Eigentum sowie auf Abschaffung der körperlichen Züchtigung und der Todesstrafe (diese seit 1882 wieder zurückgenommen). Ausgesprochen ist ferner: freie Niederlassung, Glaubens- und Kultfreiheit, Freizügigkeit der wissenschaftlichen Berufsarten, unentgeltlicher, obligatorischer und konfessionsloser, von der Kirche unabhängiger Primarunterricht etc. Eine Annäherung zur reinen Demokratie bietet das fakultative Referendum: sofern 30,000 Bürger oder acht Kantone es verlangen, sind Bundesgesetze der Volksabstimmung zu unterbreiten.
[Finanzen.]
Die eidgenössische Staatsrechnung für 1887 zeigt an Einnahmen 59,586,972 Frank, an Ausgaben 56,829,996 Fr., also einen Einnahmenüberschuß von 2,756,976 Fr. Als stärkste Posten der Einnahmen erscheinen, abgesehen von 1,134,193 Fr. Ertrag der Liegenschaften und Kapitalien, das Finanz- und Zolldepartement mit 28,283,682, das Post- und Eisenbahndepartement mit 24,670,137 Fr.; die stärksten Ausgabeposten fallen auf das Post- und Eisenbahndepartement mit 22,673,808 und auf das Militärdepartement mit 21,157,204 Fr. Von besonderm Interesse sind die Ausgaben für das eidgenössische Polytechnikum: 603,727 Fr., die Beiträge an Arbeiten wissenschaftlicher und künstlerischer Vereine: 47,650, die Beiträge an wissenschaftlich-technische Anstalten: 134,188 Fr. Zu Ende des Jahrs 1887 betrug der Vermögensbestand des Bundes an Aktiven 66,483,364 Fr., an Passiven 38,984,982 Fr., also das reine Vermögen 27,498,382 Fr. Dazu kommt eine Reihe von Spezialfonds, welche sich 1887 auf 11,519,434 Fr. beliefen.
[Heerwesen.]
Das Bundesheer der S. besteht 1) aus dem Auszug (die Mannschaft von 20-32 Jahren), 2) aus der Landwehr (die Mannschaft von 33-44 Jahren), 3) aus dem Landsturm (die nicht eingeteilte Mannschaft von 17-50 Jahren). Der Formation nach umfaßt die Infanterie im Auszug: 96 Füsilier- und 8 Schützenbataillone (zu je 4 Kompanien à 185 Mann; Landwehr ebenso);
die Kavallerie: 24 Eskadrons Dragoner (à 124 M.) und 12 Kompanien Guiden (à 43 M.) im Auszug (Landwehr ebenso);
die Artillerie: 48 fahrende Batterien (à 160 M.), 2 Gebirgsbatterien (à 170 M.), 10 Positionskompanien (à 122 M.), 16 Parkkolonnen (à 160 M.), 8 Trainbataillone (à 214 M.), 2 Feuerwerkkompanien (à 160 M.) im Auszug und 8 fahrende Batterien, 15 Positionskompanien, 8 Parkkolonnen, 8 Trainbataillone und 2 Feuerwerkkompanien in der Landwehr.
Dazu kommen 8 Geniebataillone (à 393 M. in 1 Sappeur-, 1 Pontonier- und 1 Pionierkompanie) im Auszug (Landwehr ebenso), Sanitäts- und Verwaltungstruppen. Der Generalstab besteht, einschließlich der Eisenbahnabteilung, aus 8 Obersten, 44 Oberstleutnants und Majoren und 27 Hauptleuten. Der Kontrollbestand des Heers war folgender: 123,031 M. Auszug und 80,248 M. Landwehr. Davon kamen im Auszug: auf Generalstab und sonstige Stäbe 772, auf Infanterie 93,403, Kavallerie 2946, Artillerie 17,581, Genie 4958, Sanitätswesen 1866, Verwaltung 1130 M.;
in der Landwehr: auf die Stäbe 198 M., auf Infanterie 65,988, Kavallerie 2724, Artillerie 9047, Genie 1515, Sanitätstruppen 619, Verwaltung 157 M. Das Instruktionspersonal zählte 180 Mann.
Das Wappen [* 7] der Eidgenossenschaft (s. Tafel »Wappen«) zeigt ein ¶
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silbernes Kreuz [* 9] im roten Feld (im großen Siegel umgeben von den 22 Wappenschilden der Kantone).
[Geographisch-statistische Litteratur.]
Meyer v. Knonau, Erdkunde [* 10] der schweizerischen Eidgenossenschaft (2. Aufl., Zürich [* 11] 1838-39, 2 Bde.);
Berlepsch, Die Alpen [* 12] in Natur- und Lebensbildern (5. Aufl., Jena [* 13] 1885);
Derselbe, Schweizerkunde (2. Aufl., Braunschweig [* 14] 1875);
»Beiträge zur geologischen Karte der S.« (Sammelwerk, Bern 1863 ff., bis jetzt 24 Lfgn.);
Reisehandbücher von Meyer (11. Aufl., Leipz. 1889),
Bädeker u. a.;
das »Jahrbuch des Schweizer Alpenklubs« (Bern 1864 ff.);
über die Bäder und klimatischen Kurorte der S. die Werke von Gsell Fels (2. Aufl., Zürich 1886) und Lötscher (das. 1886);
Kaden, Das Schweizerland (Stuttg. 1877, Prachtwerk);
Weber, Neues Ortslexikon der S. (2. Aufl. von Henne-Am Rhyn, St. Gallen 1886);
Studer, Geologie [* 15] der S. (Bern 1851-53, 2 Bde.);
Tschudi, Tierleben der Alpenwelt (10. Aufl., Leipz. 1875);
Heer, Urwelt der S. (2. Aufl., Zürich 1879);
Christ, Das Pflanzenleben der S. (das. 1879);
Ziegler, Die Gewerbthätigkeit der S. (Winterth. 1858);
Bär, Die Industrie der S. (Leipz. 1859);
Emminghaus, Die schweizerische Volkswirtschaft (das. 1860, 2 Bde.);
Egli, Neue Schweizerkunde (8. Aufl., St. Gallen 1889);
Derselbe, Taschenbuch schweizerischer Geographie, Volkswirtschaft und Kulturgeschichte (2. Aufl., Zürich 1878);
Böhmert, Arbeiterverhältnisse und Fabrikeinrichtungen der S. (das. 1873, 2 Bde.);
Wirth u. a., Beschreibung und Statistik der S. (das. 1870-75, 3 Bde.);
Furrer, Volkswirtschaftslexikon der S. (Bern 1885 ff.);
Bavier, Die Straßen der S. (Zürich 1878);
Grob, Jahrbuch des Unterrichtswesens in der S. (das. 1889);
Feiß, Das Wehrwesen der S. (2. Aufl., das. 1880);
Blumer, Handbuch des schweizerischen Bundesstaatsrechts (2. Aufl., Schaffh. 1877);
Dubs, Das öffentliche Recht der schweizerischen Eidgenossenschaft (Zürich 1877, 2 Bde.);
v. Orelli, Das Staatsrecht der schweizerischen Eidgenossenschaft (Freiburg [* 16] 1885);
»Bundesblatt der schweizerischen Eidgenossenschaft« (1848 ff.);
die Publikationen des eidgenössischen Statistischen Büreaus, die jährliche Statistik der einzelnen Verwaltungszweige, wie Post- und Telegraphenstatistik etc. -
Kartenwerke: »Topographische Karte der S.« (1:100,000, 1846-1865, 25 Bl.);
»Topographischer Atlas [* 17] der S. im Maßstab [* 18] der Originalaufnahmen« (Hochgebirge 1:50,000, Hochebene und Jura 1:25,000; seit 1870 sind von den 546 Bl. etwas über die Hälfte erschienen);
»Karte der S.« (1:250,000, 1871-75, 4 Bl.);
die Karten von Keller (1:200,000, in 8 Bl., 1889), Ziegler (1:380,000, 4 Bl.) und Leuzinger (1:500,000, 1882);
Studer und Escher v. d. Linth, Geologische Karte der S. (1:380,000, 1874).
Reliefkarten der S. lieferten Leuzinger (Winterth. 1884), Bürgi (Basel), [* 19] E. Beck (Bern), Imfeld (Sarnen), Schöll (St. Gallen).
Geschichte.
Die Entstehung der Eidgenossenschaft.
Die S., in ältester Zeit von den Helvetiern (s. d.) und den Rätiern (s. d.) bewohnt, gehörte seit deren Unterwerfung zum römischen Reich. Während der Völkerwanderung ließen sich zwei germanische Stämme in der S. nieder, die heidnischen Alemannen im Nordosten (um 406) und die christlichen Burgunder im Westen (um 450), erstere gewaltsam und mit Ausrottung der römisch-christlichen Kultur, letztere durch friedlichen Vertrag mit den bisherigen Einwohnern, mit denen sie bald verschmolzen; daher das romanische Volkstum der Westschweiz. Im Südosten, dem jetzigen Graubünden, erhielt sich die römisch-rätische Bevölkerung [* 20] unter dem Schutz des Ostgotenkönigs Theoderich.
Mit der Unterwerfung der Alemannen durch Chlodwig (496), der Burgunder durch seine Söhne (532) und der Abtretung Rätiens seitens der Ostgoten (536) kam die S. unter fränkische Herrschaft, durch den Vertrag von Verdun [* 21] (843) der östliche Teil an das ostfränkische Reich, während der westliche erst einen Teil des Reichs Lothars, seit 888 des hochburgundischen Reichs bildete, welches 933 mit dem niederburgundischen zum Reich Arelat vereinigt wurde und 1032 an Kaiser Konrad II. fiel; somit gehörte nunmehr die ganze S. zum Deutschen Reich.
Im 12. Jahrh. nahmen die Herzöge von Zähringen als Besitzer bedeutender Allodialgüter, als Landgrafen vom Thurgau, Reichsvögte von Zürich (seit 1097) und »Rektoren« von Burgund (seit 1127) eine fürstliche Stellung in der S. ein; als Gegengewicht gegen den Adel begünstigten sie das Städtewesen, wie denn Berchtold IV. Freiburg i. Ü. (1177) und Berchtold V. Bern (1191) gründete. Mit letzterm starb 1218 das Geschlecht aus; Friedrich II. zog ihr Rektorat und die Reichsvogtei ein, und viele Dynasten und Städte waren fortan reichsunmittelbar.
Unter den Dynasten ragten die Grafen von Habsburg hervor, welche als Landgrafen vom Aargau, Zürichgau und Thurgau, als Vögte vieler Klöster und als Besitzer zahlreicher, über das ganze Land zerstreuter Grundherrschaften ein ausgedehntes Gebiet beherrschten und voraussichtlich Landesfürsten der S. geworden wären, wenn nicht die sogen. Waldstätten, Uri, Schwyz und Unterwalden, welche sich von Kaiser Friedrich II. Freiheitsbriefe hatten erteilen lassen, zu deren Schutz gegen Albrecht von Österreich [* 22] ein ewiges Bündnis geschlossen hätten.
Indem sie sich für Adolf von Nassau erklärten, erlangten sie von diesem die Erneuerung ihrer Freiheitsbriefe und wurden von Kaiser Heinrich VII. von Luxemburg [* 23] förmlich für reichsfrei erklärt. Als die Waldstätten in dem Thronstreit zwischen Ludwig dem Bayern [* 24] und Friedrich von Österreich sich für erstern erklärten, that sie Friedrich in die Acht und beauftragte mit deren Vollziehung seinen Bruder Leopold, der aber mit seinem stattlichen Ritterheer durch die Schweizer eine blutige Niederlage am Morgarten erlitt worauf die Waldstätten zu Brunnen [* 25] den Ewigen Bund erneuerten Ludwig bestätigte den Eidgenossen ihre Freiheitsbriefe und die Habsburger schlossen mit ihnen einen Waffenstillstand Dies ist der wirkliche Verlauf der Entstehung der Eidgenossenschaft; die Erzählung vom Versuch König Albrechts, die Urkantone durch unmenschliche Vögte (Geßler und Landenberg) zur Unterwerfung zu zwingen, vom Schwur auf dem Rütli und vom Schuß Tells ist eine im 15. und 16. Jahrh. entstandene Sage (s. Tell).
Der Eidgenossenschaft traten Luzern [* 26] Zürich Glarus Zug und Bern bei, durch dessen Anschluß der Bund der sogen. acht alten Orte vollendet war. Um den Übergriffen der Geistlichkeit, namentlich ihrem Anspruch auf Exemtion von den weltlichen Gerichten, entgegenzutreten, schlossen sechs Orte (ohne Bern und Glarus) die als Pfaffenbrief bekannte Übereinkunft vom wonach auch die Geistlichen und Edlen sich den heimischen Gerichten zu stellen hatten. Zwar kam auf dem Konstanzer Tag eine Allianz zwischen den Eidgenossen und dem ¶