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hochgestellte Männer, namentlich Gortschakow, sie bestätigten und gegen Österreich [* 2] und Deutschland [* 3] eine immer schroffere Haltung annahmen, während mit Frankreich Beziehungen angeknüpft wurden. Als Rußland sich schließlich sogar zu Drohungen gegen Deutschland verstieg, löste der deutsche Reichskanzler das bisherige engere Verhältnis zu Rußland und schloß ein Schutz- u. Trutzbündnis mit Österreich.
Auch im Innern hatte der Krieg bemerkenswerte Folgen. Die lange Dauer desselben, die Wechselfälle des Glücks in ihm, die bedeutenden Opfer und Kosten und das zweifelhafte Ergebnis regten die Nation in ihren Tiefen auf und erweckten, da die panslawistischen Hoffnungen sich nicht erfüllt hatten, die Wühlereien der Nihilisten (s. d.), welche durch Schreckensthaten eine Änderung des Regierungssystems zu erzwingen strebten. Hervorgegangen aus dem geistigen Proletariat, das keine seinen Ansprüchen genehme Beschäftigung fand, erhofften die Nihilisten von einem völligen Umsturz alles Bestehenden die Erfüllung ihrer politischen und sozialen Ideen und fanden unter der männlichen und weiblichen Jugend, die von den herrschenden Zuständen angeekelt war, zahlreiche Anhänger.
Sie verfügten über bedeutende Mittel und konnten sich, begünstigt durch die Bestechlichkeit der Beamten und die Gleichgültigkeit der gebildeten Klassen, vortrefflich organisieren; sie gründeten ein revolutionäres Exekutivkomitee, überzogen das Land mit Zweigvereinen, gründeten geheime Druckereien und gaben Manifeste und Zeitungen heraus. Schon 1878 geschahen das Attentat der Wjera Sasulitsch auf General Trepow, die Freisprechung derselben durch das Geschwornengericht und die Ermordung des Chefs der Gendarmerie, Generals Mesenzow, der am die des Gouverneurs von Charkow, Fürsten Krapotkin, und das Attentat auf Mesenzows Nachfolger, General Drenteln folgten; mehrere andre Personen wurden in der Provinz ermordet.
Noch größern Schrecken verbreiteten drei Mordversuche auf den Kaiser: schoß Solowjew in Petersburg [* 4] auf Alexander II., 1. Dez. explodierte auf dem Bahnhof in Moskau [* 5] eine Mine, welche den Zug in die Luft sprengen sollte, mit welchem der Kaiser aus dem Süden zurückkehrte, und wurde das Erdgeschoß unter dem Speisesaal des Winterpalais in Petersburg in die Luft gesprengt. Es wurden nun die umfassendsten Maßregeln getroffen, um die öffentliche Sicherheit zu schützen, die tüchtigsten Generale an die Spitze der Generalgouvernements gestellt, in welche das Reich geteilt wurde, und ihnen außerordentliche Vollmachten verliehen und schließlich eine oberste Exekutivkommission eingesetzt, deren Chef, General Loris-Melikow, eine Art Diktatur ausübte.
Auch wurden viele Mitglieder der nihilistischen Verschwörung entdeckt und teils mit dem Tode, teils mit Zwangsarbeit bestraft. Mit diesen Zwangsmitteln begnügte sich aber Alexander II. nicht; auf den Rat Loris-Melikows, der im August 1880 zum Minister des Innern ernannt wurde, wollte er das Reformwerk des Beginns seiner Regierung durch die Berufung einer Nationalvertretung krönen, die an seinem Geburtstag, 29. April, erfolgen sollte: da fiel er einem neuen Attentat der Nihilisten, die Dynamitbomben gegen ihn schleuderten, zum Opfer.
Neueste Zeit.
Alexanders Sohn und Nachfolger Alexander III. der unter dem furchtbaren Eindruck der That vom 13. März den Thron [* 6] bestieg, führte den Plan seines Vaters, eine Konstitution zu geben, nicht aus, verkündete vielmehr in einem Manifest 11. Mai, daß er die selbstherrscherliche Gewalt zum Wohl des Volkes befestigen und vor jeder Anfechtung bewahren wolle. Loris-Melikow erhielt seine Entlassung und wurde durch Ignatiew ersetzt, und der streng orthodoxe Pobjedonoszew sowie der Vertreter des Altrussentums, Katkow, waren die einflußreichen Ratgeber des Zaren, der in nur selten unterbrochener Zurückgezogenheit auf dem Schloß Gatschina lebte.
Ignatiew berief eine Menge Kommissionen, um Reformen zu beraten, doch führten dieselben zu keinem praktischen Ergebnis; nur die Abschaffung der Kopfsteuer wurde beschlossen. Die Nihilisten vermochte er nicht zu unterdrücken und an neuen Mordthaten zu hindern. Da er 1882 wegen anfänglicher Begünstigung der Judenhetzen auch mit Katkow in Konflikt geriet, wurde er im Juni 1882 entlassen und der streng konservative Graf Tolstoi zum Minister des Innern ernannt. Unter ihm entdeckte man eine geheime Druckerei der Nihilisten im Marineministerium und verhaftete hochgestellte Beamte, auch einen Husarenmajor, als Mitglieder einer nihilistischen Verschwörung.
Durch energische Maßregeln wurde die Umsturzpartei so geschwächt, daß die feierliche Kaiserkrönung mit großem Pomp in Moskau stattfinden konnte, ohne von einem Attentat gestört zu werden; von einer Verfassung enthielt das Krönungsmanifest nichts, sondern verkündete nur den teilweisen Erlaß der Kopfsteuer, eine sehr beschränkte Amnestie und eine mildere Behandlung der Sektierer. Alexander III. zeigte sich allen konstitutionellen Reformen abgeneigter denn je und schloß sich ganz der Ansicht an, daß nur die absolute Herrschergewalt des Zaren, verbunden mit der orthodoxen Kirche und gestützt auf die altrussischen Institutionen, das Reich erhalten könne.
Die Nihilisten glaubte man durch Repressivmaßregeln im Zaum halten zu können; dennoch kamen wiederholt Mordthaten an Beamten oder Verrätern an der nihilistischen Sache vor, und ein Attentat auf den Kaiser selbst wurde nur durch einen Zufall verhindert. Alles Unheil für Rußland suchte man in dem Eindringen der westlichen Kultur, und demgemäß bekämpfte man die fremden Einflüsse. Die baltischen Provinzen wurden nach Möglichkeit russifiziert, die lutherische Kirche unterdrückt und die Ausbreitung des orthodoxen Glaubens mit List und Gewalt befördert. Die russischen Universitäten wurden einer strengen Überwachung unterworfen, die Zahl der Studenten beschränkt und bei der geringsten Störung der Ruhe an einer Universität dieselbe geschlossen.
Sowohl bei seinem Regierungsantritt als bei seiner Krönung hatte Alexander III. seine Friedensliebe betont. Allerdings machten die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Finanzen die Aufrechthaltung des Friedens höchst wünschenswert. Handel und Gewerbe hatten durch den Krieg schwer gelitten, die Landwirtschaft lag so danieder, daß die Besitzverhältnisse zwischen den Grundherren und den befreiten Bauern noch immer nicht überall hatten geregelt werden können.
Die Schulden und die für ihre Verzinsung erforderlichen Ausgaben waren seit 1876 außerordentlich angewachsen, und das jährliche Budget konnte, wenn überhaupt, nur scheinbar ins Gleichgewicht [* 7] gebracht werden, zumal die Zinsgarantie für die neuen Eisenbahnen beträchtliche Summen erforderte und das Heer und die Flotte mit erheblichen Kosten vermehrt und verbessert wurden. Der Kurs des Rubels sank immer mehr, und der Kredit Rußlands im Ausland war gering. Daher beschränkte sich Rußland auf die Ausdehnung [* 8] seiner Grenze in Mittelasien, und die ¶
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Unterwerfung der Achal-Teke 1881 sowie die Besetzung Merws (1884), das mit dem Kaspischen Meer durch eine Eisenbahn verbunden wurde, waren bedeutende Erfolge. Den panslavistischen Agitationen ward 1882 ein Zügel angelegt und nach Verabschiedung Gortschakows ein durchaus friedliebender Staatsmann, v. Giers, zum Minister der auswärtigen Angelegenheiten ernannt. Auf der Balkanhalbinsel [* 10] entwickelten sich indes die Dinge durchaus nicht nach dem Wunsch Rußlands.
Nur Montenegro [* 11] blieb hier ein treuer Anhänger des Zaren. Serbien [* 12] und Rumänien schlossen sich an den Bund Österreichs und Deutschlands [* 13] an, und in Bulgarien stießen die russischen Generale, welche der junge Staat als Minister annehmen mußte, durch ihre Anmaßung den Fürsten und das Volk von sich ab. Fürst Alexander reizte durch sein Bestreben, sich selbständiger zu machen, den Zorn des Zaren, und als im September 1885 der Aufstand in Ostrumelien (s. d.) ausbrach und der Fürst dessen Vereinigung mit Bulgarien, ohne vorher die Genehmigung des Zaren eingeholt zu haben, verkündete, rief dieser alle Russen aus dem bulgarischen Dienst ab. Daß die Bulgaren sodann allein die Serben glänzend besiegten, verletzte die Russen im höchsten Grad, und durch eine von Rußland aus geleitete Verschwörung wurde Fürst Alexander gestürzt und durch schroffe Ablehnung seiner demütigen Unterwerfung vom Zaren zur Abdankung genötigt.
Indes zeigte sich, daß die russische Annahme, nur der Fürst sei das Hindernis für die Herrschaft der Russen in Bulgarien, irrtümlich war, und sowohl die Sendung des Generals Kaulbars nach Bulgarien als verschiedene Versuche, einen Aufstand hervorzurufen, bewirkten nur, daß die Bulgaren sich ganz von Rußland abwendeten und den von Rußland gewünschten Fürsten nicht wählten. In Rußland führte man dies Verhalten auf Ränke Österreichs zurück. Da die Pforte nicht in Bulgarien einschreiten wollte, die russische Regierung aber von einem eignen bewaffneten Einschreiten Verwickelungen mit Österreich fürchtete, so verlangte man von Deutschland, daß es Rußland aus der Sackgasse befreie, in welche es durch eigne Fehler geraten war.
Weil Bismarck sich dazu nicht verstand, steigerte sich die Gereiztheit gegen Deutschland und Österreich von neuem. In den westlichen Provinzen wurden strategische Eisenbahnen erbaut, zahlreiche Befestigungen errichtet und eine große Heeresmasse, besonders Reiterei, zusammengezogen. Von einem Bündnis mit Frankreich war ernstlich die Rede. Indes gelang es dem deutschen Reichskanzler und dem jungen Kaiser Wilhelm II. 1888, das Mißtrauen des Zaren zu beschwichtigen.
Litteratur.
[Allgemeine Geschichtswerke.]
Karamsin, Geschichte des russischen Reichs (deutsch, Leipz. 1820-33, 11 Bde.);
Ustrjalow, Geschichte Rußlands (deutsch, Stuttg. 1839-43, 2 Bde.);
Strahl und Herrmann, Geschichte des russischen Staats (Hamb. u. Gotha [* 14] 1832-66, 7 Bde.);
Solowjew, Geschichte Rußlands (Mosk. 1857-79, 29 Bde.);
Bestushew-Rjumin, Geschichte Rußlands (deutsch von Schiemann, Mitau [* 15] 1873);
Derselbe, Quellen und Litteratur zur russischen Geschichte (deutsch, das. 1876);
»Abriß der Geschichte Rußlands« (anonym, Dorp. 1875);
Ilowaisky, Kurzgefaßte Geschichte des russischen Reichs (deutsch, 2. Aufl., Reval [* 16] 1881);
Rambaud, Histoire de la Russie (Par. 1878; deutsch, Berl. 1886);
Schiemann, Rußland, Polen und Livland [* 17] bis ins 17. Jahrhundert (in Onckens »Allgemeiner Geschichte«, das. 1884 ff.);
Kostomarow, Geschichte Rußlands in Biographien (deutsch, Leipz. 1886 ff.);
v. d. Brüggen, Wie Rußland europäisch wurde (Berl. 1885);
Kojalowitsch, Geschichte der russischen Selbsterkenntnis (Petersb. 1884);
Brückner, Bilder aus Rußlands Vergangenheit (Leipz. 1887 ff.);
Derselbe, Die Europäisierung Rußlands (Gotha 1888).
Vgl. auch Russische Litteratur, [* 18] S. 56.
[Werke über einzelne Partien.] M. J. ^[Magnus Jacob] v. Crusenstolpe, Der russische Hof [* 19] von Peter I. bis auf Nikolaus I. (Hamb. 1855-59, 9 Bde.);
Sugenheim, Rußlands Einfluß auf unsre Beziehungen zu Deutschland von Peter I. bis zum Tod Nikolaus' I. (Frankf. 1856, 2 Bde.);
v. Bernhardi, Geschichte Rußlands und der europäischen Politik von 1814 bis 1831 (Leipz. 1863-77, 3 Bde.);
Schmeidler, Das russische Reich unter Alexander II. (Berl. 1878);
(J. ^[Julius] Eckardt) Von Nikolaus I. bis Alexander III. (Leipz. 1881);
Thun, Geschichte der revolutionären Bewegungen in Rußland (das. 1883);
Dalton, Verfassungsgeschichte der evang.-luther. Kirche in Rußland (Gotha 1887 ff.);
Beitzke, Geschichte des russischen Kriegs im Jahr 1812 (2. Aufl., Berl. 1862);
v. Pfuel, Der Rückzug der Franzosen aus Rußland (das. 1867);
Herzen, Die russische Verschwörung und der Aufstand vom (Hamb. 1858);
v. Korff, Die Thronbesteigung Kaiser Nikolaus' I., aus seinen eignen Papieren von 1825 (deutsch, Frankf. 1857);
Custine, Rußland im Jahr 1839 (deutsch, 3. Aufl., Leipz. 1847, 4 Bde.);
Über den Krimkrieg und den Feldzug nach Chiwa s. die betreffenden Artikel;
Bodenstedt, Die Völker des Kaukasus und ihre Freiheitskämpfe gegen die Russen (2. Aufl., Berl. 1855, 2 Bde.);
über den letzten Krieg: Greene, The Russian army and its campaigns in Turkey 1877-78 (Lond. 1880);
Kuropatkin, Kritische Rückblicke auf den russisch-türkischen Krieg (übers. von Krahmer, Berl. 1885-87, 7 Hefte);
v. Jagwitz, Von Plewna [* 20] bis Adrianopel (das. 1880).