mehr
Ardahan und schloß Kars ein, das jedoch durch den Sieg Mukhtar Paschas über Loris Melikow bei Sewin (25. Juni) entsetzt wurde; die Russen mußten Mitte Juli auf ihr Gebiet zurückweichen. Einen ähnlichen Verlauf, anfängliche Erfolge, dann empfindliche Schläge, hatte aus gleichem Grund, nämlich Unterschätzung des Gegners, der Krieg in Bulgarien. [* 2] Wegen des hohen Wasserstandes der Donau konnten die Russen mit ihrer Hauptmacht erst 27. Juni bei Simnitza den Strom überschreiten, rückten dann aber, von den Türken wenig gehindert, rasch vor, erreichten bereits 7. Juli Tirnowa, und General Gurko überschritt 13. Juli den Balkan, bemächtigte sich des Schipkapasses und ließ seine Reiterabteilungen bis zwei Tagemärsche vor Adrianopel schweifen. Aber als 20. Juli General Schilder-Schuldner Plewna [* 3] angriff, wurde er von Osman Pascha mit empfindlichem Verlust zurückgeschlagen und Lowatz den Russen 27. Juli entrissen; ein zweiter, mit größern Streitkräften unternommener Angriff Krüdeners und Schachowkois auf die Stellung bei Plewna, die Osman Pascha rasch befestigt und mit 50,000 Mann besetzt hatte, 30. Juli hatte ebenfalls keinen Erfolg, und da auch östlich der Jantra beträchtliche Streitkräfte der Türken standen, so war die Rückzugslinie der Russen nach der Donau ernstlich bedroht. Auch Gurko war aus Rumelien von Suleiman Pascha vertrieben worden und mußte sich nach dem Schipkapaß zurückziehen. Wären die türkischen Befehlshaber einig gewesen, und hätten sie die Russen entschlossen angegriffen, so würden sich diese kaum auf das linke Donauufer haben retten können. Indes Osman Pascha in Plewna und Mehemed Ali am Lom blieben unthätig, und Suleiman Pascha vernichtete eine ausgezeichnete Armee durch kühne, aber völlig aussichtslose und äußerst blutige Angriffe auf die russischen Stellungen am Schipkapaß (August).
Dadurch gewannen die Russen Zeit, Verstärkungen aus Rußland und die rumänische Armee heranzuziehen und eine ungeheure Heeresmacht um Plewna zu vereinigen. Nach einem mehrtägigen Bombardement wurde 11. Sept. ein Sturm auf die Schanzen von Plewna versucht und auf den Flügeln von Skobelew und den Rumänen auch einige Schanzen erobert. Da der russische Angriff aber im Zentrum gescheitert war, so eroberten die Türken 12. Sept. die verlornen Schanzen fast alle wieder, und das Blut von 16,000 Mann war vergeblich geflossen.
Nun wurde Totleben berufen, um die Zernierung und regelrechte Belagerung Plewnas zu leiten, und Osman Pascha die Verbindung mit Sofia durch Gurko abgeschnitten. Immer enger eingeschlossen und ohne Lebensmittel, versuchte Osman Pascha 10. Dez. einen Durchbruch nach Widdin, welcher aber von den von dieser Absicht unterrichteten Russen leicht zurückgewiesen wurde, worauf die Türken in Plewna, noch 40,000 Mann stark, nach 143tägigem tapfern Kampf sich ergaben.
Inzwischen war auf dem asiatischen Kriegsschauplatz ein vollständiger Umschwung zu gunsten der Russen eingetreten, nachdem dieselben bei einem erneuten Vorstoß im August wieder zurückgewiesen worden waren. Aber 15. Okt. siegten sie entscheidend am Aladja Dagh und 4. Nov. bei Dewe-Boyun und erstürmten 18. Nov. Kars, worauf die Türken Armenien völlig preisgaben und nur der Winter dessen Eroberung verhinderte. In Bulgarien überschritt Gurko Ende Dezember den Etropol-Balkan, besetzte Sofia und drang in das Thal [* 4] der Maritza vor, in welches vom mittlern und östlichen Balkan die Armee des Zentrums, nachdem sie 9. Jan. die türkische Schipka-Armee gefangen genommen hatte, und die Lomarmee herabkamen.
Die Russen vereinigten sich in Philippopel, vernichteten hier 17. Jan. die letzte türkische Armee unter Suleiman, besetzten 22. Jan. Adrianopel und erreichten 29. Jan. bei Rodosto das Marmarameer. Der am 31. Jan. in Adrianopel abgeschlossene Waffenstillstand hemmte den weitern Vormarsch. Als jedoch die englische Flotte in das Marmarameer einfuhr, rückten die Russen bis dicht vor Konstantinopel [* 5] vor und schlossen 3. März den Frieden von San Stefano, in welchem die Türkei [* 6] einen Teil Armeniens mit Ardahan, Kars, Batum [* 7] und Bajesid an Rußland, die Dobrudscha an Rumänien, andre Gebiete an Serbien und Montenegro [* 8] abtrat und diese Staaten als unabhängig anerkannte und in die Bildung eines autonomen Fürstentums Bulgarien willigte, das außer Bulgarien selbst den größten Teil Rumeliens bis zum Ägeischen Meer und den nördlichen Teil Makedoniens umfassen sollte.
Diese letztere Bestimmung, welche den Rest der europäischen Türkei in zwei Teile zerschnitt, rief aber den energischen Einspruch Englands hervor, das eifrig rüstete, indische Truppen nach Malta zog und mit Krieg drohte, wenn Rußland nicht den Friedensvertrag einem Kongreß, den auch Österreich [* 9] verlangte, zur Prüfung und Genehmigung unterbreite. Da Rußland erkannte, daß es diesmal England mit seinen Drohungen Ernst sei, und einen Krieg mit dieser Macht nicht führen konnte, so mußte es sich zur Beschickung des Berliner [* 10] Kongresses bequemen, welcher 13. Juli bestimmte, daß der Umfang Bulgariens beschränkt und dasselbe in zwei Teile, das Fürstentum Bulgarien und die autonome Provinz Ostrumelien, geteilt, Bajesid der Türkei zurückgegeben, dagegen Kars, Ardahan und Batum sowie das 1856 von Rußland abgetretene rumänische Bessarabien gegen die Dobrudscha an Rußland fallen sollten; die Regelung der Frage einer Kriegsentschädigung wurde der direkten Verständigung der Türkei und Rußlands überlassen, die durch Abschluß eines definitiven Friedens erfolgte; die Türkei versprach die Zahlung von 300 Mill. Rubel Kriegskosten, und die Russen räumten das türkische Gebiet.
So endete dieser Krieg mit Gebietserwerbungen, welche die ungeheuern Opfer an Menschen (auf dem europäischen Kriegsschauplatz allein 172,000 Mann) und an Geld (500 Mill.) nicht aufwogen. Im russischen Heerwesen, namentlich in der Verpflegung und im Lazarettwesen, hatten sich erhebliche Schaden gezeigt, und wenn auch das militärische Ansehen Rußlands durch die letzten Erfolge wiederhergestellt worden war und die befreiten Bulgaren sich dankbar zeigten, so war doch Griechenland [* 11] unter dem Einfluß Englands ganz, Serbien unter dem Österreichs bis zum letzten Abschnitt des Kriegs neutral geblieben.
Rumänien war erbittert, daß sein Beistand, ohne den die Russen im Sommer 1877 sich in Bulgarien nicht hätten behaupten können, ihm nicht nur nicht gedankt, sondern ihm sogar noch Bessarabien entrissen wurde. Vor allem aber war man in Rußland verletzt, daß Österreich, dem gemäß seinem Vertrag vom Januar 1877 in Berlin [* 12] Bosnien und die Herzegowina zugesprochen wurden, damit, ohne einen Mann und einen Gulden geopfert zu haben, diese herrschende Position auf der Balkanhalbinsel [* 13] gewann. Die Presse [* 14] und die Führer der panslawistischen Partei schoben die Schuld an diesem ungünstigen Ergebnis dem Verhalten Deutschlands [* 15] zu, das sich undankbar bewiesen habe, und fanden mit dieser unbegründeten Behauptung um so mehr Glauben bei der Menge, als selbst ¶
mehr
hochgestellte Männer, namentlich Gortschakow, sie bestätigten und gegen Österreich und Deutschland [* 17] eine immer schroffere Haltung annahmen, während mit Frankreich Beziehungen angeknüpft wurden. Als Rußland sich schließlich sogar zu Drohungen gegen Deutschland verstieg, löste der deutsche Reichskanzler das bisherige engere Verhältnis zu Rußland und schloß ein Schutz- u. Trutzbündnis mit Österreich.
Auch im Innern hatte der Krieg bemerkenswerte Folgen. Die lange Dauer desselben, die Wechselfälle des Glücks in ihm, die bedeutenden Opfer und Kosten und das zweifelhafte Ergebnis regten die Nation in ihren Tiefen auf und erweckten, da die panslawistischen Hoffnungen sich nicht erfüllt hatten, die Wühlereien der Nihilisten (s. d.), welche durch Schreckensthaten eine Änderung des Regierungssystems zu erzwingen strebten. Hervorgegangen aus dem geistigen Proletariat, das keine seinen Ansprüchen genehme Beschäftigung fand, erhofften die Nihilisten von einem völligen Umsturz alles Bestehenden die Erfüllung ihrer politischen und sozialen Ideen und fanden unter der männlichen und weiblichen Jugend, die von den herrschenden Zuständen angeekelt war, zahlreiche Anhänger.
Sie verfügten über bedeutende Mittel und konnten sich, begünstigt durch die Bestechlichkeit der Beamten und die Gleichgültigkeit der gebildeten Klassen, vortrefflich organisieren; sie gründeten ein revolutionäres Exekutivkomitee, überzogen das Land mit Zweigvereinen, gründeten geheime Druckereien und gaben Manifeste und Zeitungen heraus. Schon 1878 geschahen das Attentat der Wjera Sasulitsch auf General Trepow, die Freisprechung derselben durch das Geschwornengericht und die Ermordung des Chefs der Gendarmerie, Generals Mesenzow, der am die des Gouverneurs von Charkow, Fürsten Krapotkin, und das Attentat auf Mesenzows Nachfolger, General Drenteln folgten; mehrere andre Personen wurden in der Provinz ermordet.
Noch größern Schrecken verbreiteten drei Mordversuche auf den Kaiser: schoß Solowjew in Petersburg [* 18] auf Alexander II., 1. Dez. explodierte auf dem Bahnhof in Moskau [* 19] eine Mine, welche den Zug in die Luft sprengen sollte, mit welchem der Kaiser aus dem Süden zurückkehrte, und wurde das Erdgeschoß unter dem Speisesaal des Winterpalais in Petersburg in die Luft gesprengt. Es wurden nun die umfassendsten Maßregeln getroffen, um die öffentliche Sicherheit zu schützen, die tüchtigsten Generale an die Spitze der Generalgouvernements gestellt, in welche das Reich geteilt wurde, und ihnen außerordentliche Vollmachten verliehen und schließlich eine oberste Exekutivkommission eingesetzt, deren Chef, General Loris-Melikow, eine Art Diktatur ausübte.
Auch wurden viele Mitglieder der nihilistischen Verschwörung entdeckt und teils mit dem Tode, teils mit Zwangsarbeit bestraft. Mit diesen Zwangsmitteln begnügte sich aber Alexander II. nicht; auf den Rat Loris-Melikows, der im August 1880 zum Minister des Innern ernannt wurde, wollte er das Reformwerk des Beginns seiner Regierung durch die Berufung einer Nationalvertretung krönen, die an seinem Geburtstag, 29. April, erfolgen sollte: da fiel er einem neuen Attentat der Nihilisten, die Dynamitbomben gegen ihn schleuderten, zum Opfer.
Neueste Zeit.
Alexanders Sohn und Nachfolger Alexander III. der unter dem furchtbaren Eindruck der That vom 13. März den Thron [* 20] bestieg, führte den Plan seines Vaters, eine Konstitution zu geben, nicht aus, verkündete vielmehr in einem Manifest 11. Mai, daß er die selbstherrscherliche Gewalt zum Wohl des Volkes befestigen und vor jeder Anfechtung bewahren wolle. Loris-Melikow erhielt seine Entlassung und wurde durch Ignatiew ersetzt, und der streng orthodoxe Pobjedonoszew sowie der Vertreter des Altrussentums, Katkow, waren die einflußreichen Ratgeber des Zaren, der in nur selten unterbrochener Zurückgezogenheit auf dem Schloß Gatschina lebte.
Ignatiew berief eine Menge Kommissionen, um Reformen zu beraten, doch führten dieselben zu keinem praktischen Ergebnis; nur die Abschaffung der Kopfsteuer wurde beschlossen. Die Nihilisten vermochte er nicht zu unterdrücken und an neuen Mordthaten zu hindern. Da er 1882 wegen anfänglicher Begünstigung der Judenhetzen auch mit Katkow in Konflikt geriet, wurde er im Juni 1882 entlassen und der streng konservative Graf Tolstoi zum Minister des Innern ernannt. Unter ihm entdeckte man eine geheime Druckerei der Nihilisten im Marineministerium und verhaftete hochgestellte Beamte, auch einen Husarenmajor, als Mitglieder einer nihilistischen Verschwörung.
Durch energische Maßregeln wurde die Umsturzpartei so geschwächt, daß die feierliche Kaiserkrönung mit großem Pomp in Moskau stattfinden konnte, ohne von einem Attentat gestört zu werden; von einer Verfassung enthielt das Krönungsmanifest nichts, sondern verkündete nur den teilweisen Erlaß der Kopfsteuer, eine sehr beschränkte Amnestie und eine mildere Behandlung der Sektierer. Alexander III. zeigte sich allen konstitutionellen Reformen abgeneigter denn je und schloß sich ganz der Ansicht an, daß nur die absolute Herrschergewalt des Zaren, verbunden mit der orthodoxen Kirche und gestützt auf die altrussischen Institutionen, das Reich erhalten könne.
Die Nihilisten glaubte man durch Repressivmaßregeln im Zaum halten zu können; dennoch kamen wiederholt Mordthaten an Beamten oder Verrätern an der nihilistischen Sache vor, und ein Attentat auf den Kaiser selbst wurde nur durch einen Zufall verhindert. Alles Unheil für Rußland suchte man in dem Eindringen der westlichen Kultur, und demgemäß bekämpfte man die fremden Einflüsse. Die baltischen Provinzen wurden nach Möglichkeit russifiziert, die lutherische Kirche unterdrückt und die Ausbreitung des orthodoxen Glaubens mit List und Gewalt befördert. Die russischen Universitäten wurden einer strengen Überwachung unterworfen, die Zahl der Studenten beschränkt und bei der geringsten Störung der Ruhe an einer Universität dieselbe geschlossen.
Sowohl bei seinem Regierungsantritt als bei seiner Krönung hatte Alexander III. seine Friedensliebe betont. Allerdings machten die wirtschaftlichen Verhältnisse und die Finanzen die Aufrechthaltung des Friedens höchst wünschenswert. Handel und Gewerbe hatten durch den Krieg schwer gelitten, die Landwirtschaft lag so danieder, daß die Besitzverhältnisse zwischen den Grundherren und den befreiten Bauern noch immer nicht überall hatten geregelt werden können.
Die Schulden und die für ihre Verzinsung erforderlichen Ausgaben waren seit 1876 außerordentlich angewachsen, und das jährliche Budget konnte, wenn überhaupt, nur scheinbar ins Gleichgewicht [* 21] gebracht werden, zumal die Zinsgarantie für die neuen Eisenbahnen beträchtliche Summen erforderte und das Heer und die Flotte mit erheblichen Kosten vermehrt und verbessert wurden. Der Kurs des Rubels sank immer mehr, und der Kredit Rußlands im Ausland war gering. Daher beschränkte sich Rußland auf die Ausdehnung [* 22] seiner Grenze in Mittelasien, und die ¶