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russische Armee nicht im stande, die Alliierten aus der Krim zu vertreiben. Die Verpflegung, Ergänzung und Verstärkung des Heers in der Krim waren durch den völligen Mangel an Verkehrsmitteln in dem ungeheuern Reich so erschwert, daß die scheinbar unerschöpflichen Hilfsquellen an Lebensmitteln und Menschen nutzlos blieben. Obwohl die feindlichen Flotten den russischen Küsten keinen ernstlichen Schaden zufügten, so vernichtete doch ihre Blockade den russischen Handel, dem sie bloß die Landgrenze gegen Österreich und Preußen offen ließ, und erschütterte den dürftigen Wohlstand des Volkes auf lange Jahre; »Rußland erstickte in seinem Fett«, wie man damals sagte, da es nur Rohprodukte erzeugte, die es während des Kriegs nicht gegen die Erzeugnisse der Industrie umsetzen konnte. Endlich zerrütteten die Kosten des Kriegs die seit langem verwahrlosten und verschwenderisch verwalteten Finanzen. Diese herben Erfahrungen mußten einem Herrscher von dem Stolz und dem Selbstbewußtsein des Zaren besonders schmerzlich sein; in der That begann seine bis dahin eisenfeste Gesundheit zu wanken, und als im Frühjahr 1855 die Kämpfe in der Krim von neuem und zwar mit einem unglücklichen Gefecht der Russen begannen, starb er plötzlich 2. März 1855. Ihm folgte sein ältester Sohn, Alexander II. (1855-81), welcher vorläufig den Krieg fortzusetzen gezwungen war, da vor einer Entscheidung vor Sebastopol keiner der Kriegführenden Frieden schließen wollte. Nachdem aber 8. Sept. 1855 Sebastopol gefallen und durch die Eroberung von Kars 27. Nov. auch der russischen Waffenehre Genüge geschehen war, kam es 30. März 1856 auf dem Pariser Kongreß zum Frieden. Rußland trat die Donaumündungen mit einem Teil Bessarabiens ab und gab Kars zurück, versprach, keine Seearsenale am Schwarzen Meer anzulegen und auf demselben nicht mehr Kriegsschiffe zu unterhalten als die Türkei, und verzichtete auf das Protektorat über die orientalischen Christen und die Donaufürstentümer, welche unter das Gesamtprotektorat der europäischen Großmächte gestellt wurden.
Die Regierung Alexanders II.
So schwere Wunden der Krimkrieg Rußland geschlagen hatte, so war er dennoch für dasselbe von den größten und wohlthätigsten Folgen. Denn die Mißerfolge und Verluste, die es in demselben erlitten hatte, zwangen es zur Selbstbeschränkung, dann aber zu einer Reform der innern Zustände, welche die hervorgetretenen Schäden beseitigte und eine gedeihliche Entwickelung des Volkes möglich machte. Diese Aufgabe ergriff der neue Kaiser, der am 7. Sept. 1856 feierlich gekrönt wurde, mit ernstem Sinn und verfolgte sie mehrere Jahre hindurch trotz aller Schwierigkeiten mit Beharrlichkeit und ohne Entmutigung. Die auswärtige Politik, welche nach Nesselrodes Rücktritt Fürst Gortschakow leitete, war vorsichtig und maßvoll. Mit Preußen wurde wieder ein engeres Verhältnis angeknüpft. Namentlich aber suchte Rußland eine Annäherung an Frankreich, die Napoleon III. durch sein Entgegenkommen erleichterte. Nur gegen Österreich, dessen orientalische Politik während des Krimkriegs die Russen als schnöden Undank ansahen, blieb die russische Politik kühl, fast feindlich, vermied aber sorgsam alle Verwickelungen. Schon drei Wochen nach dem Pariser Frieden löste Alexander die Reichswehr auf und ordnete bei der stehenden Armee eine Reduktion an, durch welche an 200,000 Soldaten dem bürgerlichen Leben zurückgegeben wurden. Ganz Rußland wurde auf vier Jahre von der Rekrutierung befreit, 24 Mill. Rubel Steuerrückstände erlassen und endlich für die Verurteilten von 1825 eine Amnestie verkündigt. Während es bisher nur eine Eisenbahn von Petersburg nach Moskau gegeben hatte, wurde jetzt ausländisches Kapital für den Bau großer Linien nach allen Richtungen des Reichs gewonnen und 1862 eine Eisenbahnverbindung mit Deutschland vollendet. Ein neuer Zolltarif bahnte den Übergang vom Prohibitivsystem zu den Schutzzöllen an. Die Zensur wurde gemildert, und eine russische Presse entstand. Für das Volksschulwesen wurden wichtige Anordnungen getroffen. Die wichtigste Reform aber war die Aufhebung der Leibeigenschaft, welche 3. März 1861 durch kaiserliches Manifest erfolgte.
Die Befreiung der Leibeignen, deren Zahl sich auf 23 Mill. Seelen belief, war zwar unvermeidlich, wenn Rußland ein Kulturstaat werden wollte, aber schwierig, da die bisherigen agrarischen Verhältnisse auf der Leibeigenschaft beruhten. Die zur Begutachtung des Plans berufenen Adelsversammlungen hatten daher sich gegen die Emanzipation ausgesprochen, welche ihre Einkünfte erheblich verringern würde, besonders durch Fortfall des »Obrok«, des Zinses, den die Leibeignen für die Erlaubnis, selbständig ihren Lebensunterhalt zu erwerben, ihren Leibherren zahlen mußten. Aber der Kaiser ließ sich nicht beirren und gab durch die gänzliche Befreiung der Bauern auf den kaiserlichen Gütern und die unentgeltliche Überweisung der von ihnen bebauten Grundstücke ein hochherziges Beispiel. Jeder Bauer sollte fortan nicht bloß frei sein, sondern auch eine umzäunte Wohnstätte erhalten und in stand gesetzt werden, innerhalb von zwölf Jahren durch Geld oder Leistungen an den Grundherrn das freie Eigentum an einem Stück Grund und Boden zu erwerben. Die Bauernschaften sollten Landgemeinden bilden mit eignen Friedensrichtern, aber unter polizeilicher Aufsicht des Grundherrn. Die Ausführung der Emanzipation, die 1863 im wesentlichen beendet war, stieß zwar auf mancherlei Hindernisse, auch bei den Bauern selbst, die in der irrigen Meinung, mit der Freiheit sei ihnen auch der unbedingte Besitz ihrer Felder und Wiesen zugesprochen, sich zu Arbeit- und Abgabenverweigerungen, zu Aufständen und Gewaltthaten hinreißen ließen; und auch später erfüllten sich nicht alle Hoffnungen auf die geistige und materielle Entwickelung der Landbevölkerung. Dennoch war die That des »Zar-Befreiers« ein großes, edles und segensreiches Werk.
Daran schloß sich eine Reform der Rechtspflege durch Einführung von Friedens- und Geschwornengerichten mit öffentlichem Verfahren und mündlicher Verhandlung (1864) und die Errichtung von Kreis- und Provinzialversammlungen, die aus Delegierten des Adels und der grundbesitzenden und städtischen Notabilität gebildet wurden. Hierdurch sollte die Bevölkerung zur politischen Thätigkeit und Selbständigkeit des Urteils in öffentlichen Angelegenheiten erzogen und der Übergang zu einer ständischen Reichsverfassung angebahnt werden, welche wieder die kaiserliche Gewalt bei der Beseitigung des Krebsschadens im Reich, der Korruption des Beamtentums, wirksam hätte unterstützen können. Dann erst durfte man hoffen, auch die Finanzen zu regeln; einstweilen erfolgte 1862 ein wichtiger Schritt, indem zum erstenmal ein vollständiges Reichsbudget veröffentlicht wurde. Indes erfuhr die Reformthätigkeit des Kaisers eine Unterbrechung durch den Aufstand der Polen (Januar 1863), welcher gerade durch die Milde und Nachgiebigkeit des Kaisers hervorgerufen worden war. Derselbe hatte nicht nur gleich nach seiner Thronbesteigung den auf dem Land lastenden Druck
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wesentlich erleichtert, sondern auch auf den Rat Wielopolskis den Polen eine größere nationale Selbständigkeit zugestanden und seinen Bruder, den Großfürsten Konstantin, zum Statthalter ernannt, in der Hoffnung, hierdurch die Polen zu versöhnen. Aber die Geistlichkeit, ein Teil des Adels und besonders die städtische Bevölkerung Warschaus wurden durch diese Nachgiebigkeit nur zu schrofferer Opposition und zur Hoffnung auf völlige Losreißung von Rußland angestachelt, und als eine gewaltsame Rekrutenaushebung für den 14. Jan. 1863 angeordnet wurde, um die Warschauer Jugend unschädlich zu machen, kam es zum Ausbruch einer Insurrektion, die von einem geheimen Zentralkomitee geleitet und durch einen rücksichtslosen Terrorismus wachgehalten wurde. Obwohl die Aufständischen nur größere Banden, keine Heere aufbringen konnten und die Intervention der Westmächte zu gunsten Polens von Rußland kurzerhand abgewiesen wurde, so erforderte doch die Niederwerfung des Aufstandes erhebliche Anstrengungen und Opfer. In dieser Krisis vollzog sich in der nationalliberalen Partei, deren Führer Tscherkaßki, Miljutin, Samarin, Katkow, Aksakow u. a. waren, und welche die großen Reformen Alexanders hauptsächlich unterstützt hatte, ein Umschwung, indem statt der freiheitlichen Ziele die nationalen in den Vordergrund traten, die Pflege des Altrussentums und die Vereinigung aller orthodoxen Slawen unter russischer Führung (Panslawismus) fortan als die Aufgaben der russischen Politik galten. In ihrer Abneigung gegen die westliche Kultur wollten die Führer der Nation auch von konstitutioneller Verfassung nichts wissen. Die Unredlichkeit und Käuflichkeit des Beamtentums wurde nicht beseitigt, und damit beraubte sich der Staat des Organs, um den Bauernstand wirklich zu heben, durch Volksschulen ihn zur Nüchternheit, Sparsamkeit und zum Fleiß zu erziehen und durch Verbesserung der Landwirtschaft auch dem Gewerbe und Handel eine gesunde Grundlage zu verschaffen. Die Finanzen gesundeten nicht, die Reform des Steuerwesens geriet ins Stocken. Die erhebliche Vermehrung der höhern Schulen, besonders der Gymnasien, hatte zwar einen erheblich stärkern Besuch der Universitäten, aber auch die Ansammlung eines gefährlichen geistigen Proletariats zur Folge.
Seit dem polnischen Aufstand schlug die russische Politik die erobernde Richtung früherer Zeiten ein. Polen (s. d., S. 180) wurde zu völliger Russifizierung bestimmt. Gleichzeitig mit der völligen Unterwerfung der kaukasischen Bergvölker, mit der Gefangennahme Schamyls (25. Aug. 1859) und der Besiegung der Ubychen (21. März 1864) wurde das Amurgebiet durch einen Vertrag mit China (1860) erworben und von Japan Sachalin gegen die Kurilen eingetauscht, wogegen das russische Nordamerika gegen die Zahlung von 7 Mill. Dollar an die Vereinigten Staaten von Nordamerika abgetreten wurde (1867). In Mittelasien wurden dem Chan von Bochara 1867 Taschkent und 1868 Samarkand genommen, aus deren Gebiet das Gouvernement Turkistan gebildet wurde. Durch den Zug des Generals Kaufmann gegen Chiwa 1873 wurde diesem Chanat das rechte Ufer des Amu Darja entrissen und der Rest zu einem russischen Vasallenstaat gemacht, 1876 endlich das ehemalige Chanat Chokand als Provinz Ferghana dem russischen Reich einverleibt. In der europäischen Politik hielt Kaiser Alexander die panslawistischen Gelüste der altrussischen Partei, wie sie in deren Organ, der »Moskauer Zeitung« Katkows, zum Ausdruck gelangten, zunächst im Zaum und schritt aus Freundschaft für Preußen, das ihm 1863 bei der Unterdrückung des polnischen Aufstandes treu zur Seite gestanden hatte, weder 1864 im deutsch-dänischen Krieg noch 1866 im preußisch-deutschen Krieg ein. Ja, auch während des deutsch-französischen Kriegs verhielt sich Rußland neutral und hielt dadurch Österreich von einem Einschreiten zu gunsten Frankreichs ab. Zum Dank dafür bewirkte Bismarck, daß auf der Pontuskonferenz in London (Januar bis März 1871) der § 11 des Pariser Friedens von 1856 aufgehoben wurde, der die Beschränkungen der freien Aktion Rußlands im Schwarzen Meer enthielt.
Die Haltung des Kaisers während des deutsch-französischen Kriegs war aber von der russischen Bevölkerung, die entschieden französische Sympathien hatte, nicht gebilligt worden, und die Erfolge Preußens, das man als einen Vasallen Rußlands anzusehen sich gewöhnt hatte, sowie die Bildung eines starken Deutschen Reichs erregten Neid und Eifersucht. Die Regierung, welche durch Anzeichen von Gärung, wie das Attentat Karakassows auf den Zaren (10. April 1866), ängstlich geworden war und vor weitern innern Reformen zurückscheute, sah sich um so mehr gedrängt, dem nationalen Stolz eine Genugthuung zu geben. Zunächst wurde nach dem Muster der deutschen Heeresverfassung die russische 1873 vom Kriegsminister Miljutin umgestaltet, die allgemeine Wehrpflicht eingeführt und die Truppenkörper sowohl als die Zahl der Soldaten im Kriegsfall beträchtlich vermehrt. Dann wurde zunächst von der panslawistischen Partei die orientalische Frage wieder in Gang gebracht. Während der russische Botschafter in Konstantinopel, Ignatiew, den Sultan Abd ul Asis und den Großwesir Mahmud Pascha durch das Versprechen, sie im Notfall mit russischen Truppen zu unterstützen, ganz für sich gewonnen hatte, zettelten panslawistische Agitatoren 1875 einen Aufstand in der Herzegowina an, der sich 1876 auch nach Bulgarien verbreitete. Hier ward er aber von den Türken blutig unterdrückt, die Serben, die einen Krieg begonnen hatten, zurückgeschlagen und gleichzeitig der Sultan Abd ul Asis gestürzt (29. Mai 1876). Die panslawistische Partei drängte nun zum Krieg, und die Regierung begann auch zu rüsten und die Truppen an den Südgrenzen zusammenzuziehen; am 13. Nov. 1876 wurden sechs Armeekorps mobil gemacht, und 5. Dez. nahm der zum Oberbefehlshaber ernannte Großfürst Nikolaus seinen Sitz in Kischinew. Die Konferenz in Konstantinopel im Winter 1876/77 verlief resultatlos, da die Pforte die gewünschten Garantien für ihre christlichen Unterthanen verweigerte und das 31. März 1877 von den Mächten angenommene Protokoll ablehnte. Hierauf wurde von Rußland 24. April 1877 an die Türkei der Krieg erklärt.
Der sechste russisch-türkische Krieg (1877/78) wurde unternommen, um die orientalische Frage im russischen Sinn zu lösen, aber nicht, wie früher, durch Befreiung der Christen, sondern der »slawischen Brüder«. Da Rußland der wohlwollenden Neutralität Deutschlands gewiß sein konnte und Österreich sich im Januar 1877 durch einen besondern Vertrag, der ihm Bosnien und die Herzegowina zusicherte, zur Nichteinmischung verpflichtet hatte, so war die ganze russische Heeresmacht für den Krieg verfügbar, und zwei Armeen konnten gleichzeitig 24. April in Asien über die armenische und in Europa über die Grenze Rumäniens gehen, das sich zu einem Bündnis mit Rußland genötigt sah, dafür aber sich für unabhängig erklären durfte. Die kaukasische Armee, deren Oberbefehl Großfürst Michael führte, erstürmte 17. Mai