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Todesstrafen, Achtserklärungen und Gütereinziehungen nach seinem Ermessen vornehmen dürfe, trennte dann eine Anzahl Städte und Landschaften als »abgesondertes Land« (Optritschnina) von dem übrigen Reichsland (Semschtschina) mit der Bestimmung, daß jenes ganz für den Bedarf des Zaren dienen solle, und schuf aus den so gewonnenen Einkünften ein eignes Korps Schützen (Strelzi, Strelitzen), die als Garde den Kern seiner Kriegsmacht bildeten. Jetzt bekam Rußland seine despotische Willkür zu fühlen, indem der vom Volk als Heiliger verehrte Metropolit Philipp abgesetzt und im Kerker erdrosselt und Nowgorod, das verräterischer Unterhandlungen mit den Polen beschuldigt ward, fünf Wochen lang den Würgern und Plünderern preisgegeben wurde, so daß die Zahl der Erschlagenen 60,000 betragen haben soll.
Auf Iwan IV. folgte sein Sohn Feodor I. (1584-98), ein schwacher Fürst, der ganz unter der Leitung seines Schwagers und allmächtigen Ministers Boris Godunow stand. Da Feodor keine Kinder hatte, trachtete Boris selbst nach der Krone und ließ daher Feodors jüngern Bruder, Dmitrij, 1591 zu Uglitsch ermorden. Da er kraftvoll regierte, das Volk durch Gerechtigkeit und Freigebigkeit gewann und die äußern Feinde abwehrte, ja den Schweden [* 2] die 1583 abgetretenen Städte wieder entriß, so wurde er, als mit Feodors Tod der Mannesstamm Ruriks erlosch, zum Zaren erwählt Trotz seiner Tüchtigkeit und seiner wohlgemeinten Reformen vermochte aber Boris Godunow (1598-1605) sich die Anhänglichkeit der Großen nicht zu erwerben, und das Volk wandte sich von ihm ab, als Rußland drei Jahre lang (1601 bis 1604) von Mißernten und Hungersnot heimgesucht wurde. Die Unzufriedenheit und Gärung benutzte ein Mann unbekannter Herkunft, um sich, zuerst in Polen, für den dem Mordbefehl Godunows entgangenen Zarewitsch Dmitrij (der falsche Demetrius, s. Demetrius 5) auszugeben. Von dem Polenkönig Siegmund und den Jesuiten unterstützt, rückte er in Rußland ein, siegte über Boris an der Desna und fand allenthalben großen Anhang.
Als Boris Godunow nicht lange nachher plötzlich starb und sein junger Sohn Feodor II. ermordet worden war, konnte der falsche Demetrius in Moskau [* 3] einziehen. Aber da er das Volk durch die Begünstigung der Polen und Deutschen und der römischen Kirche erbitterte, gelang es dem mächtigen Adelsgeschlecht der Schuiskois, einen Aufstand zu erregen, in dem der Prätendent getötet wurde, worauf von den Bojaren und Bürgern Moskaus Wasilij Schuiskoi (1606-10) zum Zaren ausgerufen wurde.
Die allgemeine Zerrüttung, besonders die Unzufriedenheit der niedern Klassen, hatte das Auftreten neuer falscher Prätendenten zur Folge, gegen welche sich Wasilij nur mit Mühe behauptete und bei Schweden eine Stütze suchte. Aber trotz schwedischer Hilfe erlitt das Heer des Zaren bei dem Dorf Kluschino unweit Moshaisk eine schwere Niederlage, infolge deren Wasilij von den Moskauern gezwungen wurde, dem Thron [* 4] zu entsagen und sich in ein Kloster zurückzuziehen.
Daraus schlossen die Bojaren mit den Polen einen Vertrag, kraft dessen diese Moskau mit dem Kreml besetzten. Während nun ein Teil des Adels den polnischen Kronprinzen Wladislaw zum König ausersehen hatte, die Nowgoroder den schwedischen Prinzen Karl Philipp, Karls IX. Sohn, auf den Thron zu erheben gedachten, König Siegmund aber Rußland mit Polen vereinigen wollte, hatte Rußland alle Schrecken eines herrenlosen Zwischenreichs (1610-13) zu erdulden. Dieselben wurden durch den unglücklichen patriotischen Aufstand des Patriarchen Hermogenes in Moskau (März 1611), der mit einem Straßenkampf und dem Brand Moskaus endete, und durch das Auftreten eines neuen Prätendenten in dem Sohn des ersten Demetrius und der Marina gesteigert.
Endlich stellte sich ein Mann von geringer Herkunft, Kosma Minin, in Nishnij Nowgorod an die Spitze einer nationalen Erhebung, der sich auch ein Teil der Bojaren, so Dmitrij Posharski und Trubezkoi, anschloß. Ein russisches Heer zog vor Moskau und zwang die polnische Besatzung nach tapferer Verteidigung zum Abzug (Oktober 1612). Hierauf wurde der 17jährige Michael Romanow, ein Verwandter des alten Rurikschen Herrschergeschlechts, zum Zaren erwählt.
Die Herrschaft der ersten Romanows (1613-89).
Zar Michael Feodorowitsch (1613-45), dem sein Vater, der Patriarch Feodor Philaret, als einflußreicher und kluger Ratgeber 13 Jahre zur Seite stand, wußte die innere Ruhe und den äußern Frieden herzustellen, indem er die Rebellenscharen zersprengte und mit den Schweden den »ewigen« Frieden zu Stolbowa schloß, in welchem Nowgorod den Russen zurückgegeben, dagegen Kexholm, Karelien und Ingermanland dem König Gustav Adolf überlassen wurden. Mit Polen kam 1618 zu Deulino ein 14jähriger Waffenstillstand und, nachdem Michael 1633 einen erfolglosen Angriff auf Litauen gemacht hatte, der Friede von Poljanowka zu stande, in welchem der Zar seine Ansprüche auf Livland [* 5] und alle übrigen Teile des ehemaligen Ordenslandes aufgab und auf Smolensk, Tschernigow und Sewersk verzichtete, der Polenkönig dagegen dem Zarentitel entsagte.
Auf Michael folgte sein 16jähriger Sohn Alexei Michailowitsch (1645-76). Derselbe stand ganz unter der Herrschaft seines frühern Erziehers, des Bojaren Morosow, der sich auch mit der Schwägerin des Zaren vermählte. Die gewissenlose Habgier, mit der Morosow und seine Günstlinge ihre Ämter verwalteten, rief 1648 einen Aufstand hervor, in dem mehrere von Morosows Kreaturen der Volkswut zum Opfer fielen und er selbst nur durch das Versprechen des Zaren, die Mißbräuche abzuschaffen, gerettet wurde. Eine Justizkommission arbeitete darauf ein neues Gesetzbuch aus, das einer nach Moskau entbotenen großen Landesversammlung der Nation vorgelegt (Oktober 1649) und nach deren Zustimmung unter dem Namen »Uloshenie« veröffentlicht wurde. Nicht lange nachher wurde aber zur Verhütung und Unterdrückung von Volksbewegungen ein Polizeiinstitut, die »Kammer der geheimen Angelegenheiten«, errichtet.
Der schwedisch-polnische Krieg, der 1655 ausbrach, ermutigte den Zaren zu einem neuen Angriff auf Polen, um Kleinrußland zu erobern. Die Russen besetzten Wilna [* 6] und rückten gleichzeitig mit den Schweden gegen Warschau [* 7] vor, schlossen aber 1656 mit Polen einen Waffenstillstand und wandten sich gegen die Schweden, denen sie anfangs Narwa, Dorpat [* 8] und andre feste Plätze in Esthland und Livland entrissen, aber nach der vergeblichen Belagerung Rigas und einem verlustreichen Krieg im Frieden von Kardis zurückgeben mußten. Dagegen erwarb Rußland im Frieden mit Polen, der 1669 zu Andrussow abgeschlossen wurde, Kleinrußland östlich vom Dnjepr, Smolensk, Kiew [* 9] und ¶
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Sewersk. Der ungünstige Verlauf des Kriegs mit Schweden veranlaßt den Zaren, neben den alten Strelitzen, welche, 40,000 Mann stark und zumeist aus Reiterei bestehend, das stehende Heer bildeten, neue, von auswärtigen Offizieren befehligte Regimenter Fußvolk aufzustellen, wozu noch die Kosaken als Miliz kamen. Der Geistlichkeit gegenüber wahrte Alexei sein Ansehen mit thatkräftiger Entschlossenheit. Als der Patriarch von Moskau, Nikon, Moskau verließ und sich in ein Kloster zurückzog, weil der Zar ihm nicht die beanspruchte Mitwirkung bei den Staatsangelegenheiten einräumte, auch dem Befehl, nach Moskau zurückzukehren oder seine Stelle niederzulegen, nicht Folge leistete, berief der Zar 1666 ein großes Konzil der griechisch-orthodoxen Kirche, welches Nikon absetzte und in ein entlegenes Kloster verbannte, aber die Änderungen, die Nikon an den dogmatischen und rituellen Texten und Vorschriften der russischen Kirche vorgenommen hatte, weil dieselben nicht mit denen der griechischen Mutterkirche übereinstimmten, genehmigte. Doch hielt eine Partei der Altgläubigen (Raskolniki) an den frühern Satzungen fest, die gleichsam das Losungswort der nationalen Opposition gegen die westeuropäische Kultur wurden.
Nach Alexeis Tod folgte der älteste Sohn aus seiner ersten Ehe mit Maria Miloslawski, Feodor Alexejewitsch (1676-82), der die von Alexei begonnenen Reformen einen bedeutenden Schritt weiter führte durch die Vernichtung der alten Ranglisten (rasrädnüja knigi), welche den Dienstrang der Familien im Heer und bei den Staatsämtern bestimmten, und des genealogischen Verzeichnisses der zu Ämtern und Ehrenstellen Berechtigten, des sogen. Mjestnitschestwo, an dessen Stelle ein Adelsbuch angelegt wurde, das aber keinem darin Verzeichneten ein Anrecht auf Ämter und Ehrenstellen gewährte.
Feodor starb kinderlos Anfangs wurde der zehnjährige Sohn Alexeis aus seiner zweiten Ehe mit Natalia Naryschkina, Peter Alexejewitsch, als Zar ausgerufen, der näher berechtigte 16jährige Iwan wegen körperlicher Gebrechen und Geistesschwäche ausgeschlossen. Die Partei der Miloslawskis erzwang aber durch eine Empörung der Strelitzen die gemeinschaftliche Regierung Iwans und Peters unter der Regentschaft von Alexeis Tochter aus erster Ehe, der klugen und ehrgeizigen Sophia (1682-89), unter der ihr Günstling, Fürst Wasilij Galizyn, großen Einfluß besaß.
Nachdem sie den Versuch einer altrussischen Reaktion, den Iwan Chowanski mit Hilfe der Strelitzen und Raskolniken wagte, im Keim erstickt hatte, nahm sie den Titel »Selbstherrscherin aller Reußen« an. Ein Krieg gegen die Türken, den sie im Bund mit Polen begann, verlief aber unglücklich, und dieser Ausgang ermutigte den inzwischen herangewachsenen jungen Zaren Peter, gegen seine Halbschwester aufzutreten. Sophiens Partei, die Miloslawskis, beschlossen, mit Hilfe der Strelitzen Peter aus dem Weg zu schaffen; doch dieser, rechtzeitig gewarnt, entfloh nach der Troitzkischen Klosterfestung und rief von da den jüngern Adel und die fremden Truppen zu seinem Schutz auf. Die Strelitzen verloren den Mut und wagten, nachdem ihr Anführer nebst den Hauptschuldigen hingerichtet worden, keinen Widerstand. Sophia wurde im September 1689 in ein Kloster verwiesen, Iwan behielt bis zu seinem Tod (1696) den Zarentitel; alleiniger Herrscher war aber nun der Zar Peter I. (1689-1725). Unter ihm erfolgte der Eintritt Rußlands in die Kultur und die Geschichte Europas.
Die Regierung Peters des Großen.
Nichts lag dem neuen Zaren mehr am Herzen, als dem russischen Reich den Zugang zu den Meeren im Süden und Westen zu eröffnen; denn Rußland hatte bis jetzt nur in Archangel an der unwirtbaren Küste des Nördlichen Eismeers einen mit den Weltmeeren in Verbindung stehenden Hafen und Schiffahrtsort, der außerdem durch weite Einöden von den belebtern Provinzen des Reichs getrennt war. Der erste Schritt hierzu geschah mit der Eroberung von Asow (1696), das sofort zu einem Kriegshafen umgeschaffen wurde, und in dessen Nähe Peter den Bau einer neuen Stadt, Taganrog, begann.
Nachdem er hierauf die Verwaltung des Staats einigen Großen, den Oberbefehl über das Heer dem Schotten Gordon und dem General Alexei Schein übertragen hatte, trat er nach Unterdrückung einer gefährlichen Verschwörung seine erste Reise in das Ausland an (1697-98), um die europäische Kultur aus eigner Anschauung kennen zu lernen, hielt sich besonders lange in Holland auf und war eben im Begriff, sich von Wien [* 11] nach Venedig [* 12] zu begeben, als ihn die Nachricht von einem neuen, die Abschaffung der Reformen bezweckenden Aufstand der Strelitzen nach Moskau zurückrief.
Nach fürchterlicher Bestrafung der Schuldigen und Auflösung jenes Korps bildete er ein neues, von ausländischen Offizieren eingeübtes Heer, errichtete Schulen, schaffte die Patriarchenwürde ab und setzte den »hochheiligen Synod« ein, dessen Mitglieder der Zar ernannte, begünstigte die ausländische Einwanderung, um Handel und Gewerbe zu fördern, führte fremde Sitten ein und verbot althergebrachte Gebräuche der Russen. Möglichst rasch und gründlich wollte er das halbasiatische Rußland in einen europäischen Kulturstaat umwandeln.
Sein andres Ziel, die Erwerbung einer vorteilhaften Seeküste und die Erhebung Rußlands zu einer Großmacht, erreichte er im Nordischen Krieg, zu welchem er sich mit Polen gegen Schweden verband. Zwar erlitt das russische Heer bei Narwa eine völlige Niederlage; aber da sich Karl XII. gegen Polen und Sachsen [* 13] wendete und in halsstarriger Verblendung seinen gefährlichsten Feind unbeachtet ließ, konnte Peter Ingermanland sowie einen Teil von Esthland und Livland erobern und an der Newa den Grund zu seiner neuen Hauptstadt, St. Petersburg, [* 14] legen.
Als sich Karl XII. endlich gegen Rußland wendete, ward er bei Poltawa völlig besiegt und auf türkisches Gebiet gedrängt. Es glückte ihm, den Sultan zu einem Kriege gegen Rußland zu bewegen, und als Peter, im Vertrauen auf den Beistand des Hospodars der Moldau, Demetrius Kantemir, und der Balkanchristen, zu kühn vordrang, wurde er von den Türken am Pruth, zwischen Faltschi und Husch, eingeschlossen, aber vermutlich durch Bestechung des Großwesirs befreit, der dem Zaren gegen Abtretung von Asow den Frieden von Husch gewährte. Inzwischen war durch die Einnahme von Riga [* 15] die Eroberung der Ostseeprovinzen vollendet, ja sogar Wiborg [* 16] und Kexholm in Karelien, dessen Einwohner nach Petersburg übersiedeln mußten, besetzt worden, und Karl XII. versuchte auch nach seiner Rückkehr nach Schweden deren Wiedereroberung gar nicht, sondern fiel in Norwegen ein. Nach seinem Tode trat die schwedische Regierung im Frieden von Nystad Livland, Esthland und Ingermanland sowie einen Teil von Karelien und Finnland gegen Zahlung von 2 Mill. Rubel an Rußland ab; unter Gewährleistung ¶