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Kassationsinstanz, der bei Appellationen prüft, ob die Gesetze genau eingehalten sind. Die Friedensrichter werden aus einer vom Gouverneur verifizierten Bezirksliste der Qualifizierten (Unbescholtenheit, Alter von 25 Jahren, Grundbesitz, Besuch höherer oder mittlerer Unterrichtsanstalten oder dreijährige juristische Praxis) von allen Ständen gemeinschaftlich auf drei Jahre gewählt und vom Senat bestätigt. Die andern Richter werden auf Vorschlag des Justizministers vom Kaiser ernannt und zwar nur aus solchen Personen, die eine juristische Bildung genossen oder dieselbe im Dienst bewiesen haben.
Die Ukase (Gesetze) der Zaren wurden 1649 zu einem Gesetzbuch (Uloshenie) vereinigt, welches, wiederholt überarbeitet, noch jetzt in Gültigkeit ist. Doch wurden in das in Kraft getretene neuere Gesetzbuch (Swod Sakonow, »Zusammenstellung der Gesetze«) auch die inzwischen erlassenen Bestimmungen in systematischer Bearbeitung aufgenommen. Von diesem Gesetzbuch sind verschiedene Ausgaben veranstaltet worden. Neben dem Strafgesetzbuch (3. Ausg. 1866) besteht ein Friedensrichterstrafgesetz für die Polizeiübertretungen.
Gerichts, Straf und Zivilprozeßordnungen sind erlassen. Im Kriminalprozeß ist die Untersuchung von der Urteilsfällung getrennt. Die öffentliche Anklage erhebt der Prokureur, die Privatanklage der bevollmächtigte vereidigte Rechtsanwalt. Die Todesstrafe ist, abgesehen von dem Militärstrafverfahren, noch für Attentate auf den Kaiser beibehalten. Die körperlichen Strafen sind in ihrer Anwendbarkeit wesentlich eingeschränkt. Die Verbannung nach Sibirien kann auch im administrativen Weg verhängt werden.
Die Geschwornengerichte werden gebildet durch drei Richter des Bezirksgerichts und zwölf Geschworne. Diese entscheiden unter einem von ihnen selbst gewählten Obmann durch Stimmenmehrheit über Schuldig oder Nichtschuldig. Für den Zivilprozeß gilt als Grundform das kontradiktorische Verfahren mit den zwei Hauptarten des ordentlichen und summarischen Verfahrens. Ausnahmen von der allgemeinen Zivilprozeßordnung finden statt in Sachen, die das Interesse der Krone, des Apanage- und Hofressorts und andrer Kronverwaltungen oder geistlicher Stiftungen berühren, sowie in Ehe- und Legitimitätssachen.
Friedensrichter und Geschwornengerichte etc. bestehen in Finnland nicht, die letztern fehlen auch den Ostseeprovinzen. Der Paßzwang besteht für Ausländer in Rußland noch im vollen Umfang. Auch russischen Unterthanen wird zur Reise ins Ausland ein Paß auf bestimmte Zeitdauer ausgestellt, eine Prolongation findet durch die heimatliche Paßbehörde statt; doch darf die Gesamtdauer der Abwesenheit in der Regel fünf Jahre nicht übersteigen. Für Reisen innerhalb Rußlands sind Legitimationen, welche dem polizeilichen Visum unterliegen, unentbehrlich.
Vgl. über das russische Staatsrecht: Engelmann in Marquardsens »Handbuch des öffentlichen Rechts«, Bd. 4 (Freiburg 1888);
Leuthold, Russische Rechtskunde (Leipz. 1888).
Finanzen.
Die russische Staatsschuld belief sich Anfang 1888 (nach dem gegenwärtigen Kurs des Papierrubels) auf 11,100 Mill. Mk. (3440 Mill. Silberrubel). Im Verkehr befanden sich 780 Mill. Rub. Kreditbillets.
Vgl. Clercq, Les finances de l'empire de Russie (Petersb. 1886);
Vesselofsky, Annuaire des finances russes; Kaufmann, Die Statistik der Staatsfinanzen Rußlands (Petersb. 1887, russ.).
Das allgemeine Reichsbudget zeigte in den beiden letzten Jahren die auf folgender Tabelle ersichtlichen Aufstellungen:
Reichseinnahmen.
Voranschlag für 1888 | Budget für 1887 | |
---|---|---|
I. Gewöhnliche Einnahmen: | ||
1) Steuern direkte | 83857897 | 77765741 |
Steuern indirekte u. Gebühren | 480665239 | 441704210 |
2) Regierungsregalien | 29982089 | 29009725 |
3) Staatseigentum | 49968617 | 44019573 |
4) Loskaufszahlungen | 96692560 | 97811119 |
5) Verschiedene Einnahmen | 110601226 | 102887398 |
Gewöhnliche Einnahmen: | 851767628 | 793197766 |
II. Durchgehende Einnahmen | 2589587 | 3171078 |
III. Außerordentliche Einnahmen | 33724895 | 84972828 |
Einnahmen im ganzen: | 888082110 | 881341672 |
Reichsausgaben.
Voranschlag für 1888 | Budget für 1887 | |
---|---|---|
I. Gewöhnliche Ausgaben: | ||
1) Staatsschuld: a) Anleihen | 185689830 | 17628515 |
b) Eisenbahnobligationen | 70674269 | 65545643 |
c) Spezialanleihen der Loskaufsoperation | 31603373 | 36117536 |
2) Höchste Regierungsinstitutionen | 2125305 | 2066376 |
3) Ressort des heiligen Synods | 11030477 | 10988142 |
4) Ministerium des kaiserl. Hofs | 10560000 | 10560000 |
5) Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten | 4545438 | 4338408 |
6) Kriegsministerium | 208412108 | 208466551 |
7) Marineministerium | 39594424 | 39247488 |
8) Finanzministerium | 109244340 | 104877745 |
9) Ministerium der Reichsdomänen | 22253897 | 22385121 |
10) Ministerium des Innern | 73448261 | 73874208 |
11) M. der Volksaufklärung | 21381405 | 20835314 |
12) M. der Wegeverbindungen | 28883707 | 25642189 |
13) Ministerium der Justiz | 21331022 | 20505817 |
14) Reichskontrolle | 3392107 | 3275583 |
15) Hauptverwaltung der Reichsgestüte | 1100460 | 1101764 |
16) Ausgaben für in den Etats nicht vorgesehene Extrabedürfnisse | 6000000 | 3000000 |
Gewöhnliche Ausgaben: | 851242423 | 829756400 |
II. Durchgehende Ausgaben | 2589587 | 3171078 |
III. Außerordentliche Ausgaben | 34250100 | 48414194 |
Ausgaben im ganzen: | 888082110 | 881341672 |
Heerwesen und Marine.
Die bewaffnete Landmacht umfaßt das stehende Heer mit der Reichswehr (Opoltschenie) und die Kosakenheere. Durch Gesetz vom 1. (13.) Jan. 1874 besteht die allgemeine Wehrpflicht ohne Loskauf und ohne Stellvertretung, ausgenommen das asiatische Rußland; seit 1887 ist ihr jedoch auch die russische Bevölkerung Sibiriens unterworfen. Die mohammedanischen Kaukasier sind gegen Zahlung einer Wehrsteuer von der persönlichen Dienstpflicht entbunden. Die Wehrpflicht währt vom vollendeten 20. bis 43. Lebensjahr.
Die Gesamtdienstzeit im stehenden Heer beträgt im europäischen Rußland 15, im asiatischen und bei den Seetruppen 10 Jahre, davon im aktiven Dienst 5, bei den Seetruppen 7 Jahre, in der Reserve 10, bez. 3 Jahre. Bei Nachweis eines gewissen Bildungsgrades tritt Verkürzung der Dienstzeit ein. Die Reserve dient zur Ergänzung der aktiven Armee auf Kriegsfuß. Eine Landwehr im deutschen Sinn besteht in Rußland nicht, denn die Opoltschenie, welche alle Dienstpflichtigen bis zum 43. Lebensjahr umfaßt, die sich freigelost oder aus dem stehenden Heer entlassen sind, entspricht mehr unserm Landsturm; ihre 4 ersten Jahrgänge, welche im Krieg
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zur Ergänzung der aktiven Armee dienen, bilden die 1., alle übrigen die 2. Klasse der Reichswehr. Von den etwa 850,000 Dienstpflichtigen jedes Jahrgangs werden nur etwa 235,000 eingestellt, woraus sich das außerordentliche Anwachsen der Reichswehr erklärt. Von dem Ergänzungskontingent dienen aus Sparsamkeitsrücksichten 45,000 nur 9 Monate. Behufs Heeresersatz ist das Reich in Ersatzbezirke, behufs Heeresverwaltung in 14 dem Kriegsministerium unterstellte Militärbezirke geteilt; es sind:
1) St. Petersburg, 2) Helsingfors (Finnland), 3) Wilna, 4) Warschau, 5) Kiew, 6) Odessa, 7) Charkow, 8) Moskau, 9) Kasan, 10) Tiflis (Kaukasus), 11) Omsk, 12) Taschkent (Turkistan), 13) Irkutsk (Ostsibirien), 14) Chabarowka (Amur, Transbaikal). Dem Oberkommandierenden, welcher in 8 Militärbezirken (Helsingfors, Wilna, Warschau, Kiew, Moskau, Omsk, Irkutsk, Taschkent) in seiner Person die höchste Militär- und Zivilgewalt vereinigt, sind sämtliche Truppen des Bezirks unterstellt.
Die Armee ist zwar (seit Ende 1876) in 19 Armeekorps eingeteilt, doch ist dies nur formell, die eigentliche taktische Einheit ist die Division. 2-3 Infanterie- und 1 Kavalleriedivision sowie 2-3 Artilleriebrigaden bilden je 1 Armeekorps, das kaukasische Armeekorps hat jedoch 2 Kavalleriedivisionen. Hiernach besteht die Armee aus 3 Garde-, 3 Grenadier-, 41 Armeeinfanterie-, 2 Garde-, 4 Kosaken-, 14 Armeekavalleriedivisionen. Jede Division besteht aus 2 Brigaden zu 2 Regimentern Infanterie oder Kavallerie.
Nach dem amtlichen Verzeichnis der Landtruppen bestand die russische reguläre Armee am aus:
1) Infanterie: 192 (12 Garde-, 16 Grenadier-, 164 Armee-) Regimentern zu 4 Bataillonen und 1 Kompanie Nichtkombattanten, welche im Krieg 192 Ersatzbataillone bilden, etwa 337,000 Mann;
58 (darunter 6 Garde-, 20 Armee-) Schützenbataillonen zu 4 Kompanien, etwa 26,000 Mann;
33 (turkistanischen und sibirischen) Linienbataillonen, etwa 21,300 Mann;
115 Reservekadrebataillonen zu 5 Kompanien, aus welchen im Krieg 115 Regimenter formiert werden;
2 kaukasischen Schützendruschinen.
2) Kavallerie: 56 (4 Kürassier-, 2 Dragoner-, 2 Ulanen-, 2 Husaren-, Garde- und 46 Dragoner-) Regimenter zu 6 Eskadrons, etwa 48,000 Mann;
14 Kosakenregimenter (3 Kosakendivisionen und 1 Kosakenbrigade);
außer dem Divisionsverband stehen ferner: 4 Tatarensotnien, 5 Feldgendarmerieeskadrons, 18 Ersatzkadres und 4 Ersatzabteilungen.
3) Artillerie. a) Feldartillerie: 51 (darunter 3 Garde-, 4 Grenadier-) Feld-, 5 Reservefeldartilleriebrigaden mit zusammen 336 (98 Armee-, 188 leichte, 20 Gebirgs-) Batterien und 1442 Geschützen (im Krieg werden noch 5 Reservebrigaden mit 80 Batterien und 640 Geschützen sowie 5 Ersatzbrigaden mit 40 Batterien und 320 Geschützen gebildet); außer dem Brigadeverband stehen 3 Gebirgs-, 5 Ausfall- und 2 Reservefußbatterien. b) Reitende Artillerie: 25 reitende und 7 Kosakenbatterien. c) Festungsartillerie: 50 Bataillone und 6 selbständige Kompanien. d) Ingenieurtruppen: 17 Sappeurbataillone zu 5 Kompanien und 5 asiatische Sappeurkompanien, 8 Pontonierbataillone; 6 Eisenbahnbataillone; 17 Kriegstelegraphenparke, 6 Feldingenieurparke.
Zur regulären Armee gehören ferner die den 24 Lokalbrigaden und den Oberkommandierenden der Militärbezirke unterstellten Lokaltruppen; sie bestehen aus 1) 13 Bataillonen Infanterie für den Wacht- und Sicherheitsdienst;
2) den Lehrtruppen und zwar der Infanterieoffizierschießschule in Oranienbaum, der Offizierkavallerieschule mit Lehrschmiede in St. Petersburg, der Offizierartillerieschule in Zarskoje Selo, der Galvanischen Lehrkompanie in St. Petersburg und dem Unteroffizierlehrbataillon in Riga;
3) den Hilfsabteilungen und zwar den Schloßgrenadieren (kaiserliche Schloßwache), den Lokal-, Artillerie-, Ingenieur- und Hospitalkommandos für den Arbeitsdienst in den Artilleriewerkstätten, Festungen und Lazaretten, den Disziplinarbataillonen, Arrestantenabteilungen, der Grenzwache (21,300 Mann), welche militärisch organisiert und dem Finanzministerium unterstellt ist, der (1886 neuformierten) Konvoiwache in 565 Begleitkommandos zum Transport von Gefangenenkommandos und zum Polizeidienst.
Die reguläre Armee hat eine Friedensstärke von rund 660,000 Mann; sie schwillt aber bei der Mobilmachung infolge des Überflusses an Reserven zu der allerdings nur auf Schätzung beruhenden gewaltigen Höhe von etwa 1,690,000 Kombattanten (darunter 36,600 Offiziere) mit 204,400 Pferden und 3776 Geschützen an. Die Infanterie zählt mehr als 1600 Bataillone, die Kavallerie etwa 450 Eskadrons, die Artillerie nahezu 500 Feldbatterien. Bei den ungeheuern Entfernungen im russischen Reich und den weiten Maschen seines Eisenbahnnetzes bedarf die Ausführung der Mobilmachung und die Zusammenziehung großer Heeresmassen indessen sehr viel längerer Zeit als in andern europäischen Staaten. Deshalb sind schon im Frieden gegen die Westgrenze (Österreich und Deutschland) große Streitkräfte angehäuft; im Militärbezirk Wilna stehen 8 Infanterie-, 3 Kavalleriedivisionen, die gleiche Zahl im Bezirk Warschau, in Kiew 4 Infanterie- und 2 Kavalleriedivisionen.
Mit dieser gewaltigen Truppenmacht ist die Wehrkraft Rußlands noch keineswegs erschöpft, ihr treten vielmehr noch die Kosaken und die irregulären Truppen der Fremdvölker hinzu. Die Kosakentruppen, von denen ein großer Teil den Kavalleriedivisionen der regulären Armee zugeteilt ist, zerfallen in 3 Klassen: die 1. Klasse thut auch im Frieden Dienst, die 2. ist mit Waffen und Pferden, die 3. nur mit Waffen beurlaubt, beide letztern treten erst im Krieg in aktiven Dienst.
Der jedesmalige Großfürst Thronfolger ist Ataman aller Kosaken, deren Angelegenheiten in einer besondern Abteilung des Kriegsministeriums bearbeitet werden. Alle dienstfähigen Kosaken treten mit 18 Jahren auf 3 Jahre in die militärische Vorbereitung, dann auf 12 Jahre in den Frontdienst, verbleiben jedoch in der Regel nur 4 Jahre aktiv und werden dann in die 2. und 3. Klasse beurlaubt. Die Kosakenabteilungen werden nach ihrer Heimat als Don-, Kuban-, Terek-, Astrachan-, Orenburg-, Ural- etc. Kosaken-Woissko bezeichnet; das Donische ist das stärkste, es bildet im Frieden das Leibgarde-Donkosakenregiment, 15 Armeekosakenregimenter, 1 Garde- und 7 Armeekosakenbatterien. Im Frieden bilden alle Kosaken 262 Sotnien (Eskadrons) zu Pferd, 20 zu Fuß, 20 Batterien mit 98 Geschützen und 47,150 Mann, im Krieg dagegen 812 Sotnien zu Pferd, 60 zu Fuß, 40 Batterien mit 236 Geschützen, 140,000 Mann, darunter 3640 Offiziere. Die irregulären Truppen (krimsche, gurische, grusinische, tereksche etc. Sotnien) bestehen aus 1420 Mann Infanterie und 4349 Mann Kavallerie, im Krieg etwa 8400 Mann. Im ganzen darf man die Kriegsstärke des russischen Heers auf etwa 2 Mill. Mann veranschlagen; hierzu käme noch der Landsturm, über dessen Stärke nur Schätzungen bestehen. Er soll nach einigen Angaben auch etwa 2 Mill. betragen. Eine
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eigentliche Traintruppe besteht nicht. Die Truppen führen selbst einen großen Bagagetrain mit.
Die Zahl der Festungen ist, namentlich in den westlichen Gebieten, in den letzten Jahrzehnten sehr vermehrt worden. Festungen im großen Stil sind hier Warschau und Brest-Litowsk, nächstdem Kowno, Gonionds, Nowo-Georgiewsk, Iwangorod, Luzk, Kamenez Podolsk, Chotin; verschanzte Orte sind Lomsha, Grodno, Robno, Dubno. Außerdem besteht im Innern des Reichs noch eine große Anzahl Festungen; wir nennen: Dünamünde, Dünaburg, Bobruisk, Kiew, Bender, Kars und an den Küsten Kronstadt, Wiborg, Sweaborg, Odessa, Otschakow, Sebastopol, Kertsch, Batum etc. Bewaffnung: Die Infanterie führt das Berdan-Gewehr, die Kavallerie das Dragonergewehr, gleich dem Infanteriegewehr, nur 10 cm kürzer;
das Kosakengewehr gleicht ihm, nur hat es kein Bajonett.
Das erste Glied der Kosaken hat noch die Lanze außer dem Gewehr; Offiziere u. Unteroffiziere haben den Smith-Wesson-Revolver. Die gesamte Kavallerie führt einen Säbel mit Lederscheide (Schaschka), mit der Krümmung nach oben getragen. Die Feldartillerie hat 4 Geschützkaliber, die schweren 10,68, die leichten 8,69 (der reitenden Batterien), die Gebirgsbatterien haben eine ältere Bronzekanone von 7,62 und eine neue Stahlkanone (Baranowski) von 6,35 cm Kaliber. Als Positionsgeschütze werden 15 cm Stahlfeldmörser mitgeführt. Die Uniform, früher der deutschen ähnlich, ist jetzt national russisch. Der grüne Waffenrock hat keine Knöpfe, seine Brustklappen werden übereinander gehakt, die weiten grünen Hosen stecken in hochschäftigen Stiefeln; die Kopfbedeckung ist eine niedrige Lammfellmütze. Die Kosaken haben blaue Uniform.
[Kriegsflotte.]
Das schwimmende Material der Kriegsflotte zerfällt, den heimatlichen Gewässern entsprechend, in die Ostseeflotte, die Flotte des Schwarzen Meers, die sibirische Flotte und die Flotte im Kaspischen Meer. In der Ostseeflotte liegt naturgemäß der Schwerpunkt der russischen Seemacht; sie zählte Anfang 1888 außer einer Anzahl Last- und Hafenfahrzeuge 231 Schiffe, unter diesen 31 Panzerschiffe, von denen allerdings 20 noch aus den 60er Jahren stammen, also nur sehr geringen Kampfwert haben.
Die Flotte des Schwarzen Meers ist noch in der Entwickelung, der man in neuester Zeit eine besondere Aufmerksamkeit durch Beschaffung schwerer Panzerschlachtschiffe zuwendet, so daß dieselbe zu einer mächtigen Schlachtflotte, entsprechend der ihr beigelegten politischen Bedeutung, anwachsen wird. Sie besteht zur Zeit aus 176 Schiffen, darunter 5 Panzerschiffe, einschließlich der beiden kreisrunden, jetzt wertlosen Popowken. Die sibirische Flotte, die jüngste, ist noch im Entstehen und auf den Hafen Wladiwostok angewiesen; sie zählt 53 meist kleinere Schiffe und Fahrzeuge.
Noch kleiner ist die Flotte im Kaspischen Meer, welche nur aus 20 kleinern Schiffen, unter diesen 4 Kanonenboote, besteht. Die ehemalige Flotte im Aralsee ist eingegangen, seitdem Rußland das ganze Ufergebiet beherrscht. Einen besondern Wert hat man in Rußland stets auf das Torpedowesen gelegt, dem auch die verhältnismäßig sehr starke Torpedobootflottille entspricht; letztere enthält zwar eine große Anzahl alter Boote, doch läßt man sich die Beschaffung neuer Boote sehr angelegen sein.
Kriegshäfen sind: 1. Klasse Kronstadt, St. Petersburg, Nikolajew, Wladiwostok;
2. Klasse Reval, Sweaborg, Sebastopol, Batum, Baku und Nikolajew am Amur.
Das Personal zählte 1886: 3777 Offiziere, darunter 117 Admirale und Generale, 1452 Seeoffiziere aller Grade, 185 Offiziere der Marineartillerie 655 Maschineningenieure etc.
Vgl. »Das russisch Reich in Europa« (Berl. 1884);
»Beiträge zur Kenntnis der russischen Armee« (Hannov. 1884);
v. Drygalski, Die russische Armee in Krieg und Frieden (Berl. 1882);
Derselbe, Die Entwickelung der russischen Armee seit 1882 (das. 1884);
»Rußlands Wehrkraft«, von E. S. (Wien 1887);
v. Stein, Geschichte des russischen Heers bis Nikolaus I. (Hannov. 1885);
»Kurzes Verzeichnis der russischen Landtruppen« (Metz 1888);
»Rußland und die russische Armee, ein Sattelbuch« (3. Aufl., Leipz. 1888).
Wappen, Flagge, Orden.
Das Reichswappen (s. Tafel »Wappen«) ist auf goldenem Schild, über welchem die Kaiserkrone mit zwei blauen, goldeingefaßten Bändern schwebt, ein schwarzer zweiköpfiger und dreifach gekrönter Adler mit rotem Schnabel, roten Füßen und ausgebreiteten Flügeln, in der rechten Klaue das goldene Zepter, in der linken den goldenen Reichsapfel haltend; auf der Brust das moskowitische Wappen, nämlich St. Georg zu Pferde, den Lindwurm durchbohrend. Auf jedem Flügel des Adlers befinden sich drei Schilde: die Wappen von Astrachan, Nowgorod und Kiew rechts und die von Sibirien, Kasan und Wladimir links.
Der Adler ist von der Kette des Andreasordens umgeben. Die Entstehung des russischen Reichswappens fällt in das Jahr 1497, als der Zar Iwan III., der die griechische Prinzessin Sophia zur Gemahlin hatte, das byzantinische Reichswappen, den zweiköpfigen Adler, annahm und diesem das Wappen des Großfürstentums Moskau beifügte. Die Landesfarben sind Schwarz, Orange, Weiß, in horizontalen Streifen; die Flagge (s. Tafel »Flaggen I«) [* ] weiß, durch ein blaues Kreuz diagonal geteilt (doch gibt es noch besondere Flaggen für die Flotte der Ostsee, des Schwarzen Meers etc.); bei Kauffahrteischiffen: weiß, blau, rot, in horizontalen Streifen.
Großmeister aller russischen Orden ist der Kaiser. Der älteste in Rußland gestiftete Orden ist der des heil. Andreas, von Peter d. Gr. 1698 gestiftet (s. Tafel »Orden«); er besteht nur aus einer Klasse, und jedes Kind des kaiserlichen Hauses erhält ihn bei der Taufe. Andre sind: der weibliche St. Katharinenorden, gestiftet 1714 von Peter d. Gr. zum Andenken an seine Befreiung aus dem Lager am Pruth 1711 durch die Klugheit seiner Gemahlin Katharina, mit zwei Klassen der Orden des heil. Alexander Newskij, gestiftet 1722 ebenfalls von Peter d. Gr., mit nur einer Klasse der St. Annenorden, ursprünglich holsteinischer Orden, gestiftet 1735 vom Herzog Georg Karl Friedrich zu Ehren seiner Gemahlin Anna, der Tochter Peters d. Gr., 1797 vom Kaiser Paul unter die Zahl der russischen Orden aufgenommen, mit drei Klassen; der ursprünglich polnische Weiße Adlerorden, vom polnischen König Wladislaw IV. gestiftet, von August dem Starken 1705 erneuert, mit einer Klasse; der ebenfalls ursprünglich polnische Stanislausorden, gestiftet 1765 vom König Stanislaus Poniatowski, mit drei Klassen. Für ausgezeichnete Tapferkeit wird der St. Georgsorden verliehen, der 1769 von der Kaiserin Katharina II. gestiftet wurde und vier Klassen hat; als fünfte Klasse kann das silberne Tapferkeitskreuz für Untermilitärs hinzugezählt werden. Der Orden des apostelgleichen Wladimir, 1782 von der Kaiserin Katharina II. gestiftet, hat vier Klassen, und jeder Bürgerliche, dem dieser Orden verliehen wird, erhält die Rechte des Adels. - Die Haupt- und Residenzstadt des Kaisers ist St. Petersburg, die Krönungsstadt aber die frühere Hauptstadt Moskau.
bearbeitet von Karl Wolf.
1:18.000000
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Über das asiatische Rußland s. die Einzelartikel Kaukasien, Sibirien und Turkistan.
Litteratur.
Außer den ältern Werken von Pallas, Gmelin u. a. sowie den bei den betreffenden Abschnitten bereits angeführten Werken sind wichtige Schriften über Rußland: »Beiträge zur Kenntnis des russischen Reichs« (hrsg. von Baer, Helmersen, Schrenck u. a., Petersb. 1839-73, 26 Bde.; 2. Folge 1879-86, 9 Bde.; 3. Folge, 1886 ff.);
H. Kletke, Alex. v. Humboldts Reisen im europäischen und asiatischen Rußland (Berl. 1855, 2 Bde.);
Erman, Archiv zur wissenschaftlichen Kunde Rußlands (das. 1841-66, 25 Bde.);
I. ^[Iwan] Strelbitsky, Arealbestimmungen des russischen Reichs (russ.);
Haxthausen, Studien über die innern Zustände Rußlands (Hannov. 1847-52, 3 Bde.);
Tengoborski, Études sur les forces productives de la Russie (Par. 1852-54, 3 Bde.);
Schnitzler, L'empire des Tsars (das. 1856-69, 4 Bde.);
Bodenstedt, Russische Fragmente;
Beiträge zur Kenntnis des Staats- und Volkslebens in seiner historischen Entwickelung (Leipz. 1862, 2 Bde.);
Schedo-Feroti, Études sur l'avenir de la Russie (Berl. 1857-68, 10 Tle.);
Matthäi, Die wirtschaftlichen Hilfsquellen Rußlands (Dresd. 1883-84, 2 Bde.);
W. Stieda, Aus der Wirtschaftsstatistik Rußlands (Jena 1883) und verschiedene Aufsätze in den »Jahrbüchern für Nationalökonomie« und in Schmollers »Jahrbuch«;
v. Sarauw, Das russische Reich in seiner finanziellen und ökonomischen Entwickelung (Leipz. 1873);
Lankenau und Ölsnitz, Das heutige Rußland (2. Ausg., das. 1881, 2 Bde.);
Wallace, Rußland (deutsch, 6. Aufl., das. 1880);
A. Leroy-Beaulieu, L'empire des Tsars (Par. 1881-82, 2 Bde.; deutsch, Berl. 1883);
Roskoschny, Rußland, Land und Leute (Leipz. 1882-84);
Meyer v. Waldeck, Rußland, Einrichtungen, Sitten und Gebräuche (das. 1882-1886);
Neelmeyer-Vukassowitsch, Rußland (das. 1887);
Reisehandbücher von Bädeker (das. 1883) und Murray (4. Aufl., Lond. 1887);
Besobrasof, Études sur l'économie nationale de la Russie (Petersb. 1883 bis 1886, 2 Bde.);
Jahnson, Vergleichende Statistik Rußlands (russ., das. 1878-81);
Semenow, Geographisch-statistisches Lexikon des russischen Reichs (russ., das. 1862 ff.);
ferner die Schriften der kaiserl.-russischen Geographischen Gesellschaft in Petersburg, herausgegeben von Bestushew-Rjumin (1861 ff.);
die Schriften des kaiserlichen Statistischen Zentralkomitees in Petersburg (1866 ff.);
die Schriften des Departements für Landwirtschaft beim Domänenministerium, die statistischen Sammelwerke über Eisenbahnen des Ministeriums der öffentlichen Bauten, alle in russischer Sprache;
die »Russische Revue« (jetzt Vierteljahrsschrift, seit 1872, Petersb.),
die »Baltische Monatsschrift« (Dorpat, seit 1862),
die »Nordische Rundschau« (Reval, seit 1884),
»St. Petersburger Kalender«.
Unter den Karten sind außer den nach genauen Messungen vom russischen Generalstab herausgegebenen großen Karten fast eines jeden der europäisch-russischen Gouvernements (russ.) und Pedischews großem »Atlas géographique de l'empire de Russie« zu bemerken: Weiland, Karte des russischen Reichs europäischen Anteils (Weim. 1854, 4 Blätter);
Kiepert, Karte des russischen Reichs in Europa (Berl. 1865, 6 Blätter);
Schubert, Spezialkarte des westlichen Teils der russischen Monarchie (Petersb., 59 Blätter und 3 Beiblätter);
F. Handtke, Generalkarte vom europäischen Rußland (Glogau);
Petermann, Osteuropa (Gotha 1875, 6 Blätter).
Geologische Karten lieferten Grewingk für die Ostseeprovinzen (2. Aufl. 1880), Murchison (1845, engl.) und Helmersen (1874, russ.) für das ganze Reich. Die vollständige Litteratur über Rußland in allen Sprachen findet sich vereinigt im »Catalogue de la Bibliothèque impériale publique de St-Pétersbourg: Russica« (Petersb. 1874, 2 Bde.).
Geschichte des russischen Reichs.
(Hierzu »Karte zur Geschichte des Russischen Reichs«.)
Übersicht der Regenten.
862-1598 | Warägo-russische Herrscher aus Ruriks Stamm |
862-879 | Rurik |
879-912 | Oleg |
912-945 | Igor |
945-972 | Swjätoslaw |
980-1015 | Wladimir I. |
1019-1054 | Jaroslaw |
1054-1238 | Zeit der Teilfürsten. |
1238-1480 | Herrschaft der Mongolen. |
Moskowische Zaren: | |
1462-1505 | Iwan III. |
1505-1533 | Wassilij Iwanow. |
1533-1584 | Iwan IV., d. Schreckl. |
1584-1598 | Feodor Iwanowitsch |
1598-1613 | Thronstreitigkeiten. |
1613-1762 | Haus Romanow: |
1613-1645 | Michael Romanow |
1645-1676 | Alexei |
1676-1682 | Feodor Alexejewitsch |
1682-1689 | Iwan III. u. Peter I. |
1689-1725 | Peter I., d. Gr. |
1725-1727 | Katharina I. |
1727-1730 | Peter II. |
1730-1740 | Anna |
1740-1741 | Iwan IV. |
1741-1762 | Elisabeth. |
Haus Holstein-Gottorp: | |
1762 | Peter III. |
1762-1796 | Katharina II. |
1796-1801 | Paul |
1801-1825 | Alexander I. |
1825-1855 | Nikolaus |
1855-1881 | Alexander II. |
1881 | Alexander III. |
[Die Gründung des Reichs.]
Die Russen (s. d.) bildeten einen Zweig des großen Völkerstammes der Slawen; derselbe umfaßte die am weitesten nach Nordosten wohnenden Völkerschaften der Slowenen, Kriwitschen, Polotschanen, Drjägowitschen, Radimitschen, Sewerjänen, Poljänen, Drewljänen, Bushanen, Duleben, Chorwaten, Ulitschen, Tiwerzen und Wjätitschen. Sie hatten das obere u. mittlere Gebiet des Dnjepr, der Oka, des Wolchow, der Düna, des Niemen u. des Bug inne, aber von keinem dieser Flüsse das Mündungsgebiet; die Meeresküsten waren auf allen Seiten von fremden Stämmen, Finnen im Norden, Chasaren und Petschenegen im Süden, besetzt.
Die Verbindung zwischen den gut schiffbaren Stromgebieten war eine leichte, da sie nur durch niedrige Wasserscheiden getrennt waren, über welche die Fahrzeuge bequem geschafft werden konnten. Der nördliche Teil des Landes war meist mit Wald bedeckt, der südliche fruchtbarer Kornboden, soweit er nicht in die Steppe überging. Die Russen trieben Viehzucht und Ackerbau, Jagd und Fischerei und lebten in Dörfern zusammen; die Dorfgemeinde bildete die Grundlage ihrer Verfassung.
Zur Sicherung ihrer Habe in Kriegszeiten errichteten sie ringartige Umwallungen (grad, später gorod), aus denen die ältesten Städte erwuchsen; andre entwickelten sich aus den Handelsplätzen an der lebhaften Handelsstraße, welche vom Finnischen Meerbusen nach dem Schwarzen Meer führte. Ihre Religion glich der der übrigen Arier, war aber wenig entwickelt. Ihre vornehmen Toten verbrannten sie und errichteten über der Asche große Grabhügel, von denen viele erhalten sind. Eine staatliche Organisation fehlte den russischen Stämmen, ebenso ein Bewußtsein ihrer nationalen Zusammengehörigkeit.
Schon früh waren Skandinavier (Normannen) von der Südostküste Schwedens auf dem »Ostweg« (austrvegr) bis zu den Gestaden des Finnischen Meerbusens und von da weiter landeinwärts vorgedrungen; die Finnen nannten dieselben Rus (Rodsen, »Ruderer«),
sie selbst nannten sich Vaeringjar (Wâreng, »Gefolge«),
aus welchen Namen die Slawen Russen und Waräger machten. Die Normannen
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unter ihren Seekönigen kamen in immer größern Scharen nach dem Gebiet des Ladogasees, das sie zeitweilig unterwarfen. Obwohl es den vereinigten Finnen und Slawen gelang, sie wieder zu vertreiben, wurden dieselben doch bald, um die Mitte des 9. Jahrh., durch innere Wirren veranlaßt, von den Warägern sich Fürsten zu holen. Drei Brüder, Rurik (Hrurekr), Sineus (Sikniutr) und Truwor (Thorvadr), folgten dem Ruf und gründeten sich in Ladoga, Bjelo Osero und Isborsk Fürstentümer, welche nach dem frühen Tod seiner Brüder Rurik unter seine Herrschaft vereinigte. So entstand das russische Reich, als dessen offizielles Gründungsjahr 862 angenommen wird. Rurik verlegte seinen Sitz nach Nowgorod, von wo er seine Macht bis zum Wolok ausdehnte. Zwei seiner Mannen, die Waräger Askold und Dir, setzten sich in Kiew fest und unternahmen von hier aus 865 mit 300 Booten und 14,000 Mann einen Raubzug gegen Konstantinopel, der aber scheiterte.
Rurik starb 879 und hinterließ nur einen unmündigen Sohn, Igor, für den ein älterer Verwandter, Helgi oder Oleg (879-912), die Herrschaft übernahm. Dieser besetzte Smolensk im Lande der Kriwitschen, drang dann den Dnjepr abwärts in das Gebiet der Sewerjänen und bemächtigte sich 882 Kiews, nachdem er Askold und Dir hatte töten lassen. Er unterwarf mit Ausnahme der Ulitschen alle russischen Stämme. 907 zog er mit 80,000 Mann Warägern und Slawen auf 2000 Booten gegen Konstantinopel und setzte die Griechen (Rhomäer) so in Schrecken, daß deren Kaiser Leo VI. sich zu einem 911 bestätigten Handelsvertrag verstand, der den Russen große Handelsvorteile und Vorrechte zugestand.
Nach Olegs Tod folgte Ruriks Sohn Igor (912-945), der mit einer Skandinavierin fürstlichen Geschlechts, Helga oder Olga, vermählt war. Anfangs überließ er die Regierung seinem Mannen Svenald; erst später führte er sie selbst und zog 941 gegen Konstantinopel, das aber durch das griechische Feuer, welches die russische Flotte zerstörte, gerettet ward. Erst auf einem zweiten Zug erlangte Igor eine Erneuerung des Vertrags von 911. Er fiel bei einem Aufstand der Drewljänen 945 und hinterließ einen minderjährigen Sohn, Swjätoslaw (945-973), für den bis 964 Olga die Vormundschaft führte.
Dieselbe nahm an den Drewljänen grausame Blutrache, ordnete die Tributverhältnisse der unterworfenen Stämme und regelte in umsichtiger Weise den fürstlichen Haushalt. 957 zog sie mit großem Gefolge nach Konstantinopel und trat hier in Gegenwart des Kaisers Konstantin Porphyrogennetos, der ihr Pate war, zum Christentum über, wobei sie den Namen Helena empfing. Obgleich in Kiew schon vorher eine ansehnliche Christengemeinde bestand, blieb Swjätoslaw unter dem Einfluß seiner warägischen Umgebung dem Heidentum getreu.
Nachdem er 964 die Herrschaft selbst angetreten, unternahm er einen Feldzug gegen die Chasaren, deren wichtigste Städte er einnahm, und deren Macht er für immer brach, besiegte darauf die Wjätitschen und zog 968, vom byzantinischen Kaiser Nikephoros durch eine große Geldsumme gewonnen, mit 60,000 Mann gegen die Donaubulgaren. Er eroberte einen großen Teil ihres Gebiets, mußte aber dann nach Kiew zurückkehren, das von den Petschenegen hart bedrängt wurde. Er besiegte dieselben, teilte aber dann sein russisches Reich unter seine drei unmündigen Söhne, Jaropolk, Oleg und Wladimir, und zog 970 wieder nach Bulgarien, das er für sich erobern wollte. Er drang bis über den Balkan vor, wurde aber dann von den Byzantinern bei Arkadiopol und bei Drstr (Silistria) geschlagen und mußte, in Drstr eingeschlossen, den Kaiser Johann Tzimisces um Frieden bitten, der ihm freien Abzug gewährte. Auf dem Rückweg nach Kiew wurde Swjätoslaw von den Petschenegen erschlagen (973).
Nach seinem Tod brach zwischen seinen Söhnen Zwist aus; Jaropolk von Kiew vertrieb 977 Oleg, der auf der Flucht ertrank, und Wladimir, der über das Meer zu den Warägern floh, aber bald von da mit einem Warägerheer zurückkehrte, Jaropolk aus Kiew verjagte und dann meuchlings töten ließ (980). Nun ward Wladimir der Heilige (980-1015) Alleinherrscher. Er war anfangs ein eifriger Anhänger des Heidentums und ließ den von ihm in Kiew neuaufgerichteten Götzenbildern Menschenopfer darbringen.
Der anmaßenden Waräger wußte er sich zu entledigen, indem er sie nach Byzanz schickte, und unterjochte darauf die Wjätitschen, Radimitschen und Wolgabulgaren. Von den byzantinischen Kaisern gegen einen Aufstand zu Hilfe gerufen, schickte er ihnen ein warägisches Heer und zog selbst nach der Krim, wo er Cherson eroberte. Auf sein Verlangen erhielt er die griechische Prinzessin Anna, Schwester der deutschen Kaiserin Theophano, zur Gemahlin, worauf er Cherson zurückgab und selbst zum Christentum übertrat (989). Die Götzenbilder in Kiew ließ er zerschlagen, das des höchsten Gottes Perun in den Dnjepr werfen und befahl, daß alles Volk sich taufen lasse. In Kiew und der Umgegend wurde dem Befehl bereitwillig Folge geleistet, während der Norden und Osten Rußlands erst später sich vom Heidentum lossagten. Dadurch, daß die Russen das Christentum und damit die höhere Kultur von Byzanz empfingen, erlangten sie zwar manche Vorteile für ihren Handel und Verkehr, traten aber zu dem Abendland in einen Gegensatz, der ihre Entwickelung hemmte, zumal das griechische Kaiserreich, von dem ihre Kultur nun abhängig wurde, bereits im Verfall war.
Wladimir beförderte die Ausbreitung des Christentums durch die Verkündigung desselben in slawischer Sprache und durch volkstümliche Gestaltung der christlichen Feste. Als er 1015 starb, stritten sich seine acht Söhne um die Herrschaft. Swjätopolk warf sich zum Herrn in Kiew auf und ließ drei seiner Brüder, Boris, Gleb und Swjätoslaw, ermorden, ward aber 1016 von seinem ältern Bruder, Jaroslaw von Nowgorod, am Dnjepr besiegt und gezwungen, bei seinem Schwiegervater Boleslaw Chrobry von Polen Zuflucht zu suchen.
Zwar wurde er von diesem nach einem Sieg über Jaroslaw am Bug (1017) zurückgeführt, konnte sich aber, als Boleslaw wieder nach Polen abzog, nachdem er sich der tscherwenischen Städte bemächtigt hatte, nicht halten, wurde trotz seines Bundes mit den Petschenegen 1019 von Jaroslaw an der Alta besiegt und floh ins Ausland, wo er starb. Jaroslaw (1019-1054) mußte seinem Neffen Brjätschislaw von Polozk die Städte Witebsk und Usjwät und seinem Bruder Mstislaw von Tmutarakan nach einer Niederlage bei Listwen (1023) das Land östlich vom Dnjepr abtreten (1026). Darauf wurden die Esthen unterworfen und den Polen 1031 die tscherwenischen Städte wieder entrissen, und nach Mstislaws Tod (1034) wurde Jaroslaw Alleinherrscher. Er machte durch einen glänzenden Sieg die Petschenegen für immer unschädlich, während ein Zug seines Sohns Wladimir gegen Konstantinopel mit völliger Vernichtung des russischen Heers endete. Das Christentum befestigte er durch den Bau steinerner Kirchen in Kiew u. a. O., und
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wenn er auch selbst noch in Verbindung mit den Normannen stand, hatte sich doch allmählich ein slawisches Gemeinwesen gebildet, dessen Fürstenhaus in Sprache, Sitte und Religion mit dem Volk verschmolzen war.
Rußland unter den Teilfürsten.
Jaroslaw hinterließ fünf Söhne, an die er das Reich 1054 so verteilte, daß Isjaslaw als Großfürst Oberhaupt wurde und Kiew, Swjätoslaw Tschernigow, Wsewolod Perejeslawl, Wjätschislaw Smolensk, Igor Wladimir erhielt. Außerdem erhob noch ein Enkel Jaroslaws, Rostislaw, und nach dessen Tod (1066) ein Enkel Wladimirs des Heiligen, Wseslaw, Fürst von Polozk, Ansprüche auf die Herrschaft und bemächtigte sich 1068 während eines Einfalls der Polowzer Kiews.
Isjaslaw floh zum Herzog Boleslaw von Polen, der ihn 1069 nach Kiew zurückführte. Zum zweitenmal wurde Isjaslaw durch seinen Bruder Swjätoslaw von Tschernigow 1073 vertrieben und suchte nun vergeblich Beistand beim deutschen König Heinrich IV. und dem Papst Gregor VII. Erst nach dem Tod Swjätoslaws (1076) verständigte er sich mit Wsewolod und nahm 1077 den Großfürstensitz in Kiew wieder ein, fiel aber im Kampf gegen seinen Neffen Ihm folgte Wsewolod I. (1078-93), dessen Regierung aber für das Reich unheilvoll war, da er mit den übrigen Fürsten in fortwährendem Streit lag, Polowzer und Chasaren Einfälle machten und Hungersnot und Pest das Land heimsuchten. Nun ward Isjaslaws Sohn Swjätopolk (1093-1113) als Großfürst von Kiew anerkannt. Derselbe, ein gewaltthätiger und unbesonnener Mann, führte unglückliche Kriege mit den Polowzern und vermochte die Teilfürsten nicht in Botmäßigkeit zu halten, die durch fortwährende Kämpfe das Reich zerrütteten. Erst 1111 gelang es, den Polowzern eine entscheidende Niederlage beizubringen.
Mit Umgehung der Nachkommen Swjätoslaws, der Olgowitschi, wurde nun Wsewolods Sohn Wladimir II. Monomach (1113-25), ein tapferer, menschenfreundlicher Fürst, von den Kiewern auf den Thron erhoben; er sicherte das Reich nach außen, steuerte dem Wucher und milderte die Lage der halbfreien Bauern (Zakupi). Als er starb, verteilte er seine Lande an seine Söhne, von denen Mstislaw I. (1125-32) tapfer und erfolgreich regierte und Polozk erwarb; unter Jaropolk (1132-39) aber brachen unter den Brüdern erneute Bürgerkriege aus, welche das Haus Monomachs zerfleischten, und infolge deren das Haupt der Olgowitschi von Tschernigow, Wsewolod II. (1139-46), Großfürst von Kiew wurde.
Nach dessen Tod gelangte wieder Mstislaws Sohn Isjaslaw II. (1146-54) auf den Thron, unter dem die Kämpfe zwischen den Teilfürsten nicht aufhörten und auch die Kirche durch einen Zwiespalt zerrüttet wurde. Nach Isjaslaws Tod ging die großfürstliche Würde in fünf Jahren fünfmal in andre Hände über. Kiew und Südrußland litten unter diesen Wirren so, daß sie das Übergewicht, das sie bisher besessen, verloren und das Großfürstentum Kiew nicht mehr bedeutete als die übrigen Teilfürstentümer.
Juri Dolgorukijs (1154-57) Sohn Andrei Bogoljubski (1157-75) verlegte daher seinen Sitz nach Susdal im Norden. Nach seiner Ermordung behauptete noch sein Bruder Wsewolod Jurjewitsch (1177-1212) einen gewissen Einfluß auf die übrigen Teilfürstentümer. In dem Streit seiner Söhne um den Thron ging auch dieser verloren, und Rußland war in mehrere völlig unabhängige Teilfürstentümer Zersplittert, als der Einfall der Mongolen erfolgte.
Die mongolische Fremdherrschaft.
Die Mongolen unter Dschengis-Chan hatten 1222 die Alanen nördlich vom Kaukasus besiegt und sich der Krim bemächtigt. Vor ihnen hatten die Polowzer bei den Russen Schutz gesucht, und die Großfürsten von Halicz, Kiew und Tschernigow zogen ihnen über den Dnjepr entgegen, erlitten aber im Juni 1223 an der Kalka eine entscheidende Niederlage. Jedoch erst 1237 unternahm Dschengis-Chans Enkel Batu die Eroberung Rußlands. Er drang in Nordrußland ein, erstürmte Rjäsan, Wladimir, Kolomna und Moskau, die zerstört und deren Einwohner grausam niedergemetzelt wurden, und besiegte den Großfürsten von Wladimir, Juri II., am Flusse Sit; Juri wurde auf der Flucht getötet.
Südrußland wurde 1240 von Batu erobert, Tschernigow und Kiew zerstört. Nach seiner Rückkehr aus dem Westen infolge des Todes des Großchans Oktai gründete Batu 1242 das Reich der Goldenen Horde von Kiptschak, als dessen Mittelpunkt er die Stadt Sarai an der Achtuba, einem Nebenfluß der Wolga, gründete. Von dieser Hauptstadt aus ernannte der Chan nach freiem Ermessen den Großfürsten und die Teilfürsten von Rußland. Er war ihr höchster Richter und forderte von ihnen einen Tribut, der um so drückender war, als er nicht von den Fürsten, sondern durch Amtsleute, die der Chan bestellte, eingetrieben oder an fremde Kaufleute verpachtet wurde.
Jedoch enthielt er sich jedes Eingriffs in die innern Einrichtungen der russischen Fürstentümer; das Verhältnis der Fürsten zu ihren Unterthanen wurde nicht gestört, auch wich man bei Besetzung der Stellen der Großfürsten und der Teilfürsten nicht von Ruriks Stamm ab. Wer sich widerspenstig zeigte, mußte den starken Arm des Tyrannen fühlen; wer willfährig war, durfte ungehindert sein Herrscheramt üben und selbst seine Waffen gegen auswärtige Feinde kehren. So führten der Großfürst Jaroslaw II. (1238-46), der Bruder Juris II., und sein jüngerer Sohn, Andrei II. (1246-52), selbständig Krieg, und Jaroslaws älterer Sohn, der Großfürst Alexander Newskij (1252 bis 1263), siegte als Fürst von Nowgorod über die Schweden 1240 an der Newa, wofür er den Beinamen Newskij erhielt, und über die livländischen Schwertbrüder 1242 am Peipussee.
Nach Alexanders Tod zerstörten die Fürsten aus Ruriks Stamm ihr Ansehen und die Wohlfahrt des Landes, indem sie sich bei den Chanen verleumdeten und dieselben veranlaßten, die Großfürsten oft zu wechseln, bald aus dieser, bald aus jener Familie zu wählen und keinen sich dauernd in der Herrschaft befestigen zu lassen. So folgte auf die Brüder und Söhne Alexanders, Jaroslaw (1264 bis 1271), Wasilij (1271-76), Dmitrij (1276-1294) und Andrei (1294-1304), Alexanders Neffe Michael von Twer (1304-19); dieser wurde infolge von Verleumdungen seitens Juris von Moskau, eines Enkels Alexanders, auf Befehl des Chans ermordet, worauf Juri (1319-25) selbst den Thron bestieg. Doch er wurde bald von Michaels erstem Sohn, Dmitrij, getötet, welcher seine Frevelthat auch mit dem Tod büßte, worauf für kurze Zeit Michaels zweiter Sohn, Alexander (1325-28), zur Regierung kam. Endlich wurde Juris Bruder, Iwan Kalita von Moskau, vom Chan zum Großfürsten ernannt.
Iwan (1328-40), mit dessen Thronbesteigung der Sitz des Großfürstentums nach Moskau verlegt wurde, das er mit Palästen und Kirchen schmückte, und wo er die mit dem tatarischen Namen Kreml (Festung) benannte Burg erbaute, wußte sich durch äußerliche Devotion, durch Geschenke und
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Huldigungen die Gunst des Chans zu erhalten, die großfürstliche Würde in seiner Familie zu befestigen und Moskau zur Hauptstadt Rußlands zu erheben; auf sein Andringen verlegte der Metropolit Peter seinen Sitz nach Moskau. Als sein ältester Sohn, Simeon (1340-53), Gordije, d. h. der Stolze, benannt von dem Ansehen, welches er sich bei den Teilfürsten zu verschaffen wußte, vom schwarzen Tod weggerafft worden war, folgte der jüngere, Iwan II. (1353-1359), diesem nach kurzem Interregnum sein unmündiger Sohn Dmitrij (1362-89), welcher sich durch einen glänzenden Sieg über die Mongolen auf dem Feld von Kulikowo, am Einfluß der Neprädwa in den Don, den Beinamen »Donskoi« erwarb; doch wurde er schon 1382 durch die Plünderung und Verbrennung Moskaus wieder zur Anerkennung der mongolischen Oberhoheit genötigt.
Wichtig war, daß Dmitrij an Stelle der bisherigen Thronfolgeordnung, nach welcher das älteste Mitglied der Fürstenfamilie erbberechtigt war, das Recht der Erstgeburt im Großfürstentum einführte, indem er seinen Vetter Wladimir bewog, seinen Ansprüchen zu gunsten von Dmitrijs ältestem Sohn zu entsagen, der darauf als Wasilij I. (1389-1425) den Thron bestieg. Unter ihm fielen die Mongolen unter Timur auch in Rußland ein und plünderten mehrere Städte, wie Kasan und Nishnij Nowgorod; auch entriß Wasilijs Schwiegervater, der Großfürst Witold von Litauen, Rußland das Gebiet bis zur Ugra. Indes hatte sich die großfürstliche Macht so gefestigt, daß selbst die schwache Regierung seines Sohns Wasilij II. Temnyi (der Geblendete, 1425-62) die Einheit des Reichs nicht erschütterte, im Gegenteil im Lauf der Zeit mehrere Fürstentümer mit dem Großfürstentum vereinigt wurden; auch ward das Reich von Kiptschak außer durch die Angriffe Timurs noch durch die Bildung der selbständigen Chanate Kasan und Krim geschwächt.
Rußland unter den letzten Ruriks.
Wasilijs II. Sohn Iwan III. (1462-1505) machte sich 1469 das Chanat Kasan zinspflichtig, zwang die Stadt Nowgorod, nachdem sein Feldherr Cholmskij ihre Kriegsmacht an den Ufern des Schelon geschlagen und zersprengt hatte (1471), zur unbedingten Unterwerfung (1478) und wehrte 1480 einen Angriff des Chans der Goldenen Horde, Mohammed, ab; als dieser den Rückzug antrat, wurde er von den tatarischen Horden der Schibanen und Nogaier bei Asow überfallen, getötet und sein Heer vernichtet. Damit brach das Reich der Goldenen Horde zusammen, und Rußland war vom Tatarenjoch befreit.
Durch seine Vermählung (1472) mit der Prinzessin Sophie, der Nichte des letzten paläologischen Kaisers von Byzanz, welche in Rom Zuflucht gefunden hatte, trat Iwan in engere Verbindung zu dem übrigen Europa, die er, übrigens ohne großen Erfolg, durch Heranziehung fremder Künstler und Handwerker zu stärken suchte. Auch nahm er das Wappen der griechischen Kaiser, den zweiköpfigen Adler, an, welchen er mit dem frühern Moskauer Wappen, dem Bilde des heil. Georg des Siegers, verband, und nannte sich Großfürst und Selbstherrscher (Gossudar) von ganz Rußland.
Mit dem Großfürsten Alexander von Litauen hatte er 1494 einen Bund geschlossen und ihm seine Tochter Helena vermählt, wofür Alexander Wjasma und Mossalsk abtrat. 1500 geriet er aber mit Alexander in Streit und besiegte die Litauer an der Wedroscha, erlitt aber 1501 bei Isborsk und 1502 am Smolinasee von den mit Litauen verbündeten Livländern empfindliche Niederlagen. Dennoch gewann er durch seine schlaue Politik im Frieden, der 1503 zu stande kam, ein sehr beträchtliches Gebiet, so daß sein Reich, welches bei seinem Regierungsantritt etwa 600,000 qkm umfaßt hatte, nunmehr 2¼ Mill. qkm zählte. Vor seinem Tode teilte er zwar seinen jüngern Söhnen auch beträchtliche Besitzungen zu, aber ohne landesherrliche Rechte. Diese kamen allein dem ältesten Sohn, Wassilij III. (1505-33), zu, der überdies zwei Drittel des Reichs bekam; derselbe bezog die durch italienische Architekten und Ingenieure neuaufgebaute Burg des Kreml, die starke Citadelle von Moskau, und erwarb Smolensk.
Wasilijs III. Sohn und Nachfolger Iwan IV. (1533-84), bei dem Tod seines Vaters erst 3 Jahre alt, wuchs unter den verderblichen Einflüssen einer verbrecherischen Regentschaft voll wilder Frevelthaten und leidenschaftlicher Parteiwut auf, die in ihm den Grund zu jener rohen Gemütsart legten, welche ihm den Beinamen des »Schrecklichen« (Grosnyj) erwarb. Kaum hatte er als Zar von Rußland die Zügel der Regierung in die eigne Hand genommen (Januar 1547), so richtete er seine Waffen gegen Kasan und machte nach der Eroberung der Hauptstadt dem Chanat ein Ende.
Hierauf wurde auch Astrachan, der Sitz eines andern tatarischen Reichs, mit leichter Mühe eingenommen (1556) und zu einem Hauptverkehrsplatz mit Persien und dem fernen Orient umgeschaffen. Gegen die Tataren der Krim schützte er die Grenze durch Befestigungen und unternahm auch wiederholt verheerende Einfälle in ihr Gebiet, den erfolgreichsten 1559, konnte es aber nicht hindern, daß die krimschen Tataren 1571 unvermutet in Rußland einfielen, Moskau verbrannten und 100,000 Menschen in die Gefangenschaft schleppten.
Der Wunsch, durch die Erwerbung eines Küstenstrichs an der Ostsee in Handelsverkehr mit dem westlichen Europa zu treten, veranlaßte ihn zu dem Krieg mit Livland, in dem die Russen viele feste Plätze, wie Narwa, Dorpat u. a., einnahmen. Als aber der Heermeister des Schwertordens, Kettler, Esthland an Schweden, Livland an Polen abtrat und sich unter polnische Lehnshoheit stellte, sah sich Iwan in einen Krieg mit Polen und Schweden verwickelt und mußte 1582 nicht bloß im Waffenstillstand mit Polen auf Livland verzichten, sondern 1583 den Schweden noch die russischen Städte Jam, Iwangorod und Kaporje abtreten. Im Osten dagegen drang 1568 eine tapfere Kosakenschar über das Uralgebirge in Asien ein und begann die Eroberung Sibiriens. Von wichtigen Folgen war auch die Entdeckung des Seewegs nach dem Weißen Meer durch die Engländer (1553), denen Iwan wertvolle Handelsprivilegien gewährte, wie er denn auch sonst die fremde Einwanderung, besonders von deutschen Handwerkern, Lehrern, Ärzten und Gewerbtreibenden aller Art, begünstigte.
Für die innere Entwickelung war die Verkündigung eines neuen Rechtsbuches, »Sudebnik«, von Bedeutung, welches die Privilegien des Adels und der Geistlichkeit festsetzte und Bestimmungen traf, um die Bestechlichkeit der Richter abzustellen und der Rechtspflege durch Beiziehung von Geschwornen eine größere Gleichmäßigkeit und Sicherheit zu geben. Sein Streben ging ferner dahin, jede vom Zaren unabhängige Macht zu brechen und jeden Widerstand gegen seinen Willen rücksichtslos niederzuschlagen, wobei er in den letzten Jahren seines Lebens seinem Hang zur Grausamkeit oft allzusehr nachgab. Durch die Drohung, er werde das Reich verlassen, weil die Geistlichkeit die widerspenstigen Bojaren vor Bestrafung schütze, erzwang er 1565 das Zugeständnis, daß er ohne alle Einsprache von seiten der Geistlichkeit
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Todesstrafen, Achtserklärungen und Gütereinziehungen nach seinem Ermessen vornehmen dürfe, trennte dann eine Anzahl Städte und Landschaften als »abgesondertes Land« (Optritschnina) von dem übrigen Reichsland (Semschtschina) mit der Bestimmung, daß jenes ganz für den Bedarf des Zaren dienen solle, und schuf aus den so gewonnenen Einkünften ein eignes Korps Schützen (Strelzi, Strelitzen), die als Garde den Kern seiner Kriegsmacht bildeten. Jetzt bekam Rußland seine despotische Willkür zu fühlen, indem der vom Volk als Heiliger verehrte Metropolit Philipp abgesetzt und im Kerker erdrosselt und Nowgorod, das verräterischer Unterhandlungen mit den Polen beschuldigt ward, fünf Wochen lang den Würgern und Plünderern preisgegeben wurde, so daß die Zahl der Erschlagenen 60,000 betragen haben soll.
Auf Iwan IV. folgte sein Sohn Feodor I. (1584-98), ein schwacher Fürst, der ganz unter der Leitung seines Schwagers und allmächtigen Ministers Boris Godunow stand. Da Feodor keine Kinder hatte, trachtete Boris selbst nach der Krone und ließ daher Feodors jüngern Bruder, Dmitrij, 1591 zu Uglitsch ermorden. Da er kraftvoll regierte, das Volk durch Gerechtigkeit und Freigebigkeit gewann und die äußern Feinde abwehrte, ja den Schweden die 1583 abgetretenen Städte wieder entriß, so wurde er, als mit Feodors Tod der Mannesstamm Ruriks erlosch, zum Zaren erwählt Trotz seiner Tüchtigkeit und seiner wohlgemeinten Reformen vermochte aber Boris Godunow (1598-1605) sich die Anhänglichkeit der Großen nicht zu erwerben, und das Volk wandte sich von ihm ab, als Rußland drei Jahre lang (1601 bis 1604) von Mißernten und Hungersnot heimgesucht wurde. Die Unzufriedenheit und Gärung benutzte ein Mann unbekannter Herkunft, um sich, zuerst in Polen, für den dem Mordbefehl Godunows entgangenen Zarewitsch Dmitrij (der falsche Demetrius, s. Demetrius 5) auszugeben. Von dem Polenkönig Siegmund und den Jesuiten unterstützt, rückte er in Rußland ein, siegte über Boris an der Desna und fand allenthalben großen Anhang.
Als Boris Godunow nicht lange nachher plötzlich starb und sein junger Sohn Feodor II. ermordet worden war, konnte der falsche Demetrius in Moskau einziehen. Aber da er das Volk durch die Begünstigung der Polen und Deutschen und der römischen Kirche erbitterte, gelang es dem mächtigen Adelsgeschlecht der Schuiskois, einen Aufstand zu erregen, in dem der Prätendent getötet wurde, worauf von den Bojaren und Bürgern Moskaus Wasilij Schuiskoi (1606-10) zum Zaren ausgerufen wurde.
Die allgemeine Zerrüttung, besonders die Unzufriedenheit der niedern Klassen, hatte das Auftreten neuer falscher Prätendenten zur Folge, gegen welche sich Wasilij nur mit Mühe behauptete und bei Schweden eine Stütze suchte. Aber trotz schwedischer Hilfe erlitt das Heer des Zaren bei dem Dorf Kluschino unweit Moshaisk eine schwere Niederlage, infolge deren Wasilij von den Moskauern gezwungen wurde, dem Thron zu entsagen und sich in ein Kloster zurückzuziehen.
Daraus schlossen die Bojaren mit den Polen einen Vertrag, kraft dessen diese Moskau mit dem Kreml besetzten. Während nun ein Teil des Adels den polnischen Kronprinzen Wladislaw zum König ausersehen hatte, die Nowgoroder den schwedischen Prinzen Karl Philipp, Karls IX. Sohn, auf den Thron zu erheben gedachten, König Siegmund aber Rußland mit Polen vereinigen wollte, hatte Rußland alle Schrecken eines herrenlosen Zwischenreichs (1610-13) zu erdulden. Dieselben wurden durch den unglücklichen patriotischen Aufstand des Patriarchen Hermogenes in Moskau (März 1611), der mit einem Straßenkampf und dem Brand Moskaus endete, und durch das Auftreten eines neuen Prätendenten in dem Sohn des ersten Demetrius und der Marina gesteigert.
Endlich stellte sich ein Mann von geringer Herkunft, Kosma Minin, in Nishnij Nowgorod an die Spitze einer nationalen Erhebung, der sich auch ein Teil der Bojaren, so Dmitrij Posharski und Trubezkoi, anschloß. Ein russisches Heer zog vor Moskau und zwang die polnische Besatzung nach tapferer Verteidigung zum Abzug (Oktober 1612). Hierauf wurde der 17jährige Michael Romanow, ein Verwandter des alten Rurikschen Herrschergeschlechts, zum Zaren erwählt.
Die Herrschaft der ersten Romanows (1613-89).
Zar Michael Feodorowitsch (1613-45), dem sein Vater, der Patriarch Feodor Philaret, als einflußreicher und kluger Ratgeber 13 Jahre zur Seite stand, wußte die innere Ruhe und den äußern Frieden herzustellen, indem er die Rebellenscharen zersprengte und mit den Schweden den »ewigen« Frieden zu Stolbowa schloß, in welchem Nowgorod den Russen zurückgegeben, dagegen Kexholm, Karelien und Ingermanland dem König Gustav Adolf überlassen wurden. Mit Polen kam 1618 zu Deulino ein 14jähriger Waffenstillstand und, nachdem Michael 1633 einen erfolglosen Angriff auf Litauen gemacht hatte, der Friede von Poljanowka zu stande, in welchem der Zar seine Ansprüche auf Livland und alle übrigen Teile des ehemaligen Ordenslandes aufgab und auf Smolensk, Tschernigow und Sewersk verzichtete, der Polenkönig dagegen dem Zarentitel entsagte.
Auf Michael folgte sein 16jähriger Sohn Alexei Michailowitsch (1645-76). Derselbe stand ganz unter der Herrschaft seines frühern Erziehers, des Bojaren Morosow, der sich auch mit der Schwägerin des Zaren vermählte. Die gewissenlose Habgier, mit der Morosow und seine Günstlinge ihre Ämter verwalteten, rief 1648 einen Aufstand hervor, in dem mehrere von Morosows Kreaturen der Volkswut zum Opfer fielen und er selbst nur durch das Versprechen des Zaren, die Mißbräuche abzuschaffen, gerettet wurde. Eine Justizkommission arbeitete darauf ein neues Gesetzbuch aus, das einer nach Moskau entbotenen großen Landesversammlung der Nation vorgelegt (Oktober 1649) und nach deren Zustimmung unter dem Namen »Uloshenie« veröffentlicht wurde. Nicht lange nachher wurde aber zur Verhütung und Unterdrückung von Volksbewegungen ein Polizeiinstitut, die »Kammer der geheimen Angelegenheiten«, errichtet.
Der schwedisch-polnische Krieg, der 1655 ausbrach, ermutigte den Zaren zu einem neuen Angriff auf Polen, um Kleinrußland zu erobern. Die Russen besetzten Wilna und rückten gleichzeitig mit den Schweden gegen Warschau vor, schlossen aber 1656 mit Polen einen Waffenstillstand und wandten sich gegen die Schweden, denen sie anfangs Narwa, Dorpat und andre feste Plätze in Esthland und Livland entrissen, aber nach der vergeblichen Belagerung Rigas und einem verlustreichen Krieg im Frieden von Kardis zurückgeben mußten. Dagegen erwarb Rußland im Frieden mit Polen, der 1669 zu Andrussow abgeschlossen wurde, Kleinrußland östlich vom Dnjepr, Smolensk, Kiew und
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Sewersk. Der ungünstige Verlauf des Kriegs mit Schweden veranlaßt den Zaren, neben den alten Strelitzen, welche, 40,000 Mann stark und zumeist aus Reiterei bestehend, das stehende Heer bildeten, neue, von auswärtigen Offizieren befehligte Regimenter Fußvolk aufzustellen, wozu noch die Kosaken als Miliz kamen. Der Geistlichkeit gegenüber wahrte Alexei sein Ansehen mit thatkräftiger Entschlossenheit. Als der Patriarch von Moskau, Nikon, Moskau verließ und sich in ein Kloster zurückzog, weil der Zar ihm nicht die beanspruchte Mitwirkung bei den Staatsangelegenheiten einräumte, auch dem Befehl, nach Moskau zurückzukehren oder seine Stelle niederzulegen, nicht Folge leistete, berief der Zar 1666 ein großes Konzil der griechisch-orthodoxen Kirche, welches Nikon absetzte und in ein entlegenes Kloster verbannte, aber die Änderungen, die Nikon an den dogmatischen und rituellen Texten und Vorschriften der russischen Kirche vorgenommen hatte, weil dieselben nicht mit denen der griechischen Mutterkirche übereinstimmten, genehmigte. Doch hielt eine Partei der Altgläubigen (Raskolniki) an den frühern Satzungen fest, die gleichsam das Losungswort der nationalen Opposition gegen die westeuropäische Kultur wurden.
Nach Alexeis Tod folgte der älteste Sohn aus seiner ersten Ehe mit Maria Miloslawski, Feodor Alexejewitsch (1676-82), der die von Alexei begonnenen Reformen einen bedeutenden Schritt weiter führte durch die Vernichtung der alten Ranglisten (rasrädnüja knigi), welche den Dienstrang der Familien im Heer und bei den Staatsämtern bestimmten, und des genealogischen Verzeichnisses der zu Ämtern und Ehrenstellen Berechtigten, des sogen. Mjestnitschestwo, an dessen Stelle ein Adelsbuch angelegt wurde, das aber keinem darin Verzeichneten ein Anrecht auf Ämter und Ehrenstellen gewährte.
Feodor starb kinderlos Anfangs wurde der zehnjährige Sohn Alexeis aus seiner zweiten Ehe mit Natalia Naryschkina, Peter Alexejewitsch, als Zar ausgerufen, der näher berechtigte 16jährige Iwan wegen körperlicher Gebrechen und Geistesschwäche ausgeschlossen. Die Partei der Miloslawskis erzwang aber durch eine Empörung der Strelitzen die gemeinschaftliche Regierung Iwans und Peters unter der Regentschaft von Alexeis Tochter aus erster Ehe, der klugen und ehrgeizigen Sophia (1682-89), unter der ihr Günstling, Fürst Wasilij Galizyn, großen Einfluß besaß.
Nachdem sie den Versuch einer altrussischen Reaktion, den Iwan Chowanski mit Hilfe der Strelitzen und Raskolniken wagte, im Keim erstickt hatte, nahm sie den Titel »Selbstherrscherin aller Reußen« an. Ein Krieg gegen die Türken, den sie im Bund mit Polen begann, verlief aber unglücklich, und dieser Ausgang ermutigte den inzwischen herangewachsenen jungen Zaren Peter, gegen seine Halbschwester aufzutreten. Sophiens Partei, die Miloslawskis, beschlossen, mit Hilfe der Strelitzen Peter aus dem Weg zu schaffen; doch dieser, rechtzeitig gewarnt, entfloh nach der Troitzkischen Klosterfestung und rief von da den jüngern Adel und die fremden Truppen zu seinem Schutz auf. Die Strelitzen verloren den Mut und wagten, nachdem ihr Anführer nebst den Hauptschuldigen hingerichtet worden, keinen Widerstand. Sophia wurde im September 1689 in ein Kloster verwiesen, Iwan behielt bis zu seinem Tod (1696) den Zarentitel; alleiniger Herrscher war aber nun der Zar Peter I. (1689-1725). Unter ihm erfolgte der Eintritt Rußlands in die Kultur und die Geschichte Europas.
Die Regierung Peters des Großen.
Nichts lag dem neuen Zaren mehr am Herzen, als dem russischen Reich den Zugang zu den Meeren im Süden und Westen zu eröffnen; denn Rußland hatte bis jetzt nur in Archangel an der unwirtbaren Küste des Nördlichen Eismeers einen mit den Weltmeeren in Verbindung stehenden Hafen und Schiffahrtsort, der außerdem durch weite Einöden von den belebtern Provinzen des Reichs getrennt war. Der erste Schritt hierzu geschah mit der Eroberung von Asow (1696), das sofort zu einem Kriegshafen umgeschaffen wurde, und in dessen Nähe Peter den Bau einer neuen Stadt, Taganrog, begann.
Nachdem er hierauf die Verwaltung des Staats einigen Großen, den Oberbefehl über das Heer dem Schotten Gordon und dem General Alexei Schein übertragen hatte, trat er nach Unterdrückung einer gefährlichen Verschwörung seine erste Reise in das Ausland an (1697-98), um die europäische Kultur aus eigner Anschauung kennen zu lernen, hielt sich besonders lange in Holland auf und war eben im Begriff, sich von Wien nach Venedig zu begeben, als ihn die Nachricht von einem neuen, die Abschaffung der Reformen bezweckenden Aufstand der Strelitzen nach Moskau zurückrief.
Nach fürchterlicher Bestrafung der Schuldigen und Auflösung jenes Korps bildete er ein neues, von ausländischen Offizieren eingeübtes Heer, errichtete Schulen, schaffte die Patriarchenwürde ab und setzte den »hochheiligen Synod« ein, dessen Mitglieder der Zar ernannte, begünstigte die ausländische Einwanderung, um Handel und Gewerbe zu fördern, führte fremde Sitten ein und verbot althergebrachte Gebräuche der Russen. Möglichst rasch und gründlich wollte er das halbasiatische Rußland in einen europäischen Kulturstaat umwandeln.
Sein andres Ziel, die Erwerbung einer vorteilhaften Seeküste und die Erhebung Rußlands zu einer Großmacht, erreichte er im Nordischen Krieg, zu welchem er sich mit Polen gegen Schweden verband. Zwar erlitt das russische Heer bei Narwa eine völlige Niederlage; aber da sich Karl XII. gegen Polen und Sachsen wendete und in halsstarriger Verblendung seinen gefährlichsten Feind unbeachtet ließ, konnte Peter Ingermanland sowie einen Teil von Esthland und Livland erobern und an der Newa den Grund zu seiner neuen Hauptstadt, St. Petersburg, legen.
Als sich Karl XII. endlich gegen Rußland wendete, ward er bei Poltawa völlig besiegt und auf türkisches Gebiet gedrängt. Es glückte ihm, den Sultan zu einem Kriege gegen Rußland zu bewegen, und als Peter, im Vertrauen auf den Beistand des Hospodars der Moldau, Demetrius Kantemir, und der Balkanchristen, zu kühn vordrang, wurde er von den Türken am Pruth, zwischen Faltschi und Husch, eingeschlossen, aber vermutlich durch Bestechung des Großwesirs befreit, der dem Zaren gegen Abtretung von Asow den Frieden von Husch gewährte. Inzwischen war durch die Einnahme von Riga die Eroberung der Ostseeprovinzen vollendet, ja sogar Wiborg und Kexholm in Karelien, dessen Einwohner nach Petersburg übersiedeln mußten, besetzt worden, und Karl XII. versuchte auch nach seiner Rückkehr nach Schweden deren Wiedereroberung gar nicht, sondern fiel in Norwegen ein. Nach seinem Tode trat die schwedische Regierung im Frieden von Nystad Livland, Esthland und Ingermanland sowie einen Teil von Karelien und Finnland gegen Zahlung von 2 Mill. Rubel an Rußland ab; unter Gewährleistung
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ihrer alten Einrichtungen und Rechte, ihrer Sprache und lutherischen Religion wurden die baltischen Provinzen dem russischen Reich einverleibt. Kurland war ein russischer Vasallenstaat, seitdem Peters Nichte Anna Iwanowna zuerst als Gemahlin des Herzogs Friedrich Wilhelm, nach dessen frühem Tod in eignem Namen das Herzogtum regierte. Rußland trat jetzt an die Stelle Schwedens als die nordische Großmacht in Europa. Peter d. Gr., der sich nach dem Nordischen Krieg »Kaiser u. Selbstherrscher aller Reußen« nannte, hatte während desselben die Umgestaltung Rußlands nach europäischem Muster fortgesetzt und erweiterte dessen äußere Macht gleich darauf in einem dreijährigen Krieg mit Persien (1722-24), welches zur Abtretung der Landschaften Gilan, Masenderan und Astrabad gezwungen wurde.
Seinen einzigen Sohn, Alexei, der schon lange durch Trotz und störrisches Wesen und durch seine altrussischen Anschauungen die Liebe seines Vaters verscherzt und endlich, der väterlichen Strafreden müde, sich ins Ausland geflüchtet hatte, aber von dort in die Heimat zurückgebracht worden war, hatte Peter zum Tod verurteilen lassen (1718) und darauf einen Ukas gegeben, welcher die Bestimmung der Thronfolge dem regierenden Herrscher überließ; noch ehe er aber eine Verfügung getroffen, starb er ohne Testament.
Die Nachfolger Peters des Großen (1725-62).
Durch die Entschlossenheit Menschikows, der den Oberbefehl über die Truppen der Hauptstadt führte, wurde Peters Gemahlin Katharina I. (1725-27) auf den Thron erhoben. Als sie schon nach zwei Jahren starb, folgte nach Bestimmung ihres wenn auch angezweifelten Testaments der Sohn des Zarewitsch Alexei, Peter II. (1727-30), besonders durch die Unterstützung Menschikows, der unter dem unmündigen Fürsten noch höher zu steigen hoffte. Aber seine hochfliegenden Pläne nahmen ein schnelles Ende. Er verlor die Gunst des Kaisers und wurde nach Sibirien verbannt, worauf die Dolgorukijs den Zaren und das Reich in altrussischem Sinn beherrschten.
Peter wurde nach Moskau zurückgeführt, Katharina Dolgorukij ihm verlobt, und schon war der Hochzeitstag bestimmt, als Peter II. an den Blattern erkrankte und starb Die Mitglieder des Obersten Geheimen Rats, in welchem die Dolgorukijs und Galizyns den maßgebenden Einfluß übten, riefen die zweite Tochter von Peters d. Gr. älterm Bruder, Iwan, Anna Iwanowna (1730-40), bisher Herzogin von Kurland, als Zarin aus, nötigten ihr aber das Versprechen ab, nichts ohne Mitwirkung des Geheimen Rats zu thun.
Sobald sie jedoch im Besitz der Gewalt war, vereitelte Anna den Versuch der Großen, Rußland in eine Adelsrepublik zu verwandeln, durch einen Staatsstreich, verbannte die Dolgorukijs und Galizyns und übertrug die oberste Leitung der Geschäfte ihrem Günstling Biron, dem tüchtige Männer aus der Schule Peters d. Gr., wie Ostermann und Münnich, zur Seite standen. Der Geheime Rat wurde aufgehoben und unter Ostermanns Vorsitz das Kabinett errichtet, welches über alle wichtigen Angelegenheiten des Staats zu entscheiden hatte.
Im Bund mit Österreich, mit dem Rußland schon im polnischen Erbfolgekrieg eine nahe Beziehung angeknüpft hatte, wurde ein Türkenkrieg (1735-39) unternommen, in welchem Münnich bis an die Küste des Schwarzen Meers vordrang, Asow eroberte, nach Erstürmung der Linien von Perekop in die Krim einrückte und sich Otschakows an der Mündung des Dnjepr sowie nach einem Sieg über die Türken bei Stawutschani des festen Chotin am Dnjestr bemächtigte (August 1739). Aber Österreich führte den Krieg lässig und ungeschickt und schloß den übereilten Frieden von Belgrad; Rußland mußte demselben beitreten und seine Eroberungen außer Asow, das jedoch geschleift wurde, herausgeben. Die von Peter I. eroberten persischen Provinzen Gilan, Masenderan und Astrabad wurden wegen der großen Kosten ihrer Verwaltung gegen Handelsbegünstigungen freiwillig an Persien zurückgegeben.
Anna starb nachdem sie ihren unmündigen Großneffen Iwan (1740-41), den Sohn ihrer mit dem Herzog Anton Ulrich von Braunschweig vermählten Nichte Anna Leopoldowna, unter Birons Regentschaft zum Nachfolger bestimmt hatte. Aber schon 19. Nov. wurde Biron durch einen von Münnich ins Werk gesetzten Staatsstreich gestürzt und nach Sibirien verbannt, worauf Anna Leopoldowna die Regentschaft übernahm, ihren Gemahl Anton Ulrich zum Oberbefehlshaber der Landarmee und den Grafen Münnich zum Premierminister ernannte.
Anna zeigte sich ihrer Stellung nicht gewachsen, und da sie sich in der auswärtigen Politik ganz an Österreich anschloß, trat Münnich im März 1741 zurück. Durch eine vom französischen Gesandten La Chetardie angezettelte Verschwörung wurde Annas Herrschaft gestürzt, sie selbst mit ihrem Gemahl verbannt, Iwan in den Kerker geworfen und Münnich, Ostermann und andre hochgestellte Männer zum Tod verurteilt, aber auf dem Schafott zur Verbannung nach Sibirien begnadigt. Darauf riefen die Verschwornen Peters d. Gr. Tochter Elisabeth (1741-62) als Kaiserin aus.
Von Frankreich angestiftet, hatten die Schweden schon im Sommer 1741 einen Krieg gegen Annas Regierung begonnen, waren aber bei Wilmanstrand geschlagen worden. Noch unglücklicher verlief der Krieg für sie 1742, indem sie die Festung Frederikshamn mit bedeutenden Vorräten preisgeben und ein schwedisches Heer von 17,000 Mann im September 1742 in Helsingfors die Waffen strecken mußte. Fast ganz Finnland fiel in die Hände der Russen, wurde aber im Frieden von Abo an Schweden zurückgegeben, nachdem der schwedische Reichsrat auf Wunsch Elisabeths den Oheim des russischen Thronfolgers, den Herzog Adolf Friedrich von Holstein, zum schwedischen Thronfolger gewählt hatte; nur Kymmenegård und Nyslott behielt Rußland.
Der Hof Elisabeths in Petersburg war ein Tummelplatz der Ränke der europäischen Höfe und der leitende Minister der auswärtigen Angelegenheiten, Graf Bestushew, fremden Einflüssen zugänglich. Von England bestochen, trat er im österreichischen Erbfolgekrieg auf dessen und Österreichs Seite und wirkte durch Aufstellung russischer Heere auf das Zustandekommen der Friedensschluß von Dresden und Aachen ein. Auch im Siebenjährigen Krieg (1756-63) stand Elisabeth aus Haß gegen Friedrich II. auf Österreichs Seite, ja sie betrieb mit besonderm Eifer den Kampf, in dem sie Ostpreußen zu erwerben hoffte. Nachdem der russische General Apraxin nach dem Sieg bei Großjägersdorf über Lehwaldt Ostpreußen besetzt, aber voreilig wieder geräumt hatte, fiel 1758 ein russisches Heer unter Fermor in Brandenburg ein; zwar wurde es 25. Aug. bei Zorndorf zurückgeschlagen, doch behielten die Russen Ostpreußen besetzt, siegten bei Kunersdorf und eroberten 1761 auch Hinterpommern mit Kolberg.
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In der innern Verwaltung des Reichs waren die Brüder Iwan und Peter Schuwalow Elisabeths vorzüglichste Ratgeber. Zunächst wurde der lange Zeit in den Hintergrund gedrängte Senat Peters d. Gr. wiederhergestellt, die den Handel und die Industrie behindernden Zölle innerhalb des Reichs aufgehoben, die Außenzölle dagegen erhöht; die fremde Einwanderung, namentlich die von Serben in den südlichen Steppen, wurde befördert, 1755 in Moskau die erste russische Universität, 1758 die Akademie der Künste in Petersburg gegründet und die Akademie der Wissenschaften daselbst (seit 1726 bestehend) reorganisiert. Auch einige Gymnasien wurden errichtet. Prächtige Bauten, wie das Winterpalais in Petersburg, der Palast und die Kirche zu Zarskoje Selo, erhoben sich, das erste russische Theater ward eröffnet. Französische Sitten und Gebräuche wurden ebenso wie die französische Sprache am Petersburger Hof herrschend.
Nach Elisabeths Tod folgte ihr der Sohn von Peters d. Gr. zweiter Tochter, Anna Petrowna, der Herzog Peter von Holstein-Gottorp, als Peter III. Derselbe, ein ebenso leidenschaftlicher Verehrer Friedrichs d. Gr., wie Elisabeth eine Feindin desselben gewesen war, schloß nicht nur sofort mit Preußen Waffenstillstand, sondern 5. Mai auch ein Schutz- und Trutzbündnis, bewog auch Schweden, Frieden zu schließen, räumte Pommern und Ostpreußen ohne jede Entschädigung und schickte Friedrich ein Hilfsheer.
Diese Preisgebung aller in dem langen und kostspieligen Krieg errungenen Vorteile erregte im Heer Unzufriedenheit, die Peter III. durch übereilte Neuerungen im Heerwesen steigerte. Da er gleichzeitig die Geistlichkeit durch Reformen in ihrem Einfluß beeinträchtigte, so entstand allgemeine Unzufriedenheit, die seine Gemahlin Katharina, Prinzessin von Anhalt-Zerbst, die in gespanntem Verhältnis mit ihm lebte, und die er mit Scheidung und Verweisung in ein Kloster bedroht hatte, benutzte, um ihn durch einen Militäraufstand vom Thron zu stoßen; der gestürzte Zar wurde 17. Juli im Schloß Ropscha von einigen Verschwornen ermordet.
Die Regierung Katharinas II. (1762-96).
Katharina II., als Kaiserin und Selbstherrscherin proklamiert, widmete sich anfangs besonders der innern Verwaltung des Reichs. Als Anhängerin der damals herrschenden Aufklärung wollte sie Rußland der westlichen Kultur öffnen und alle materiellen und geistigen Kräfte zur vollsten Entwickelung bringen. Sie teilte das Reich von neuem in 50 Gouvernements, die wieder in Kreise zerfielen, und zog auch Kleinrußland und das Gebiet der Saporogischen Kosaken in diese Einteilung.
Eine neue Städteordnung (1785) setzte an die Spitze der Städte einen Rat, der aus dem von den Bürgern gewählten Stadthaupt (Bürgermeister) und mehreren Mitgliedern bestand. Die Kaufleute wurden in drei Gilden, die Handwerker in Innungen oder Zünfte geteilt, die Vorrechte des Adels festgestellt und bestätigt. Um das höchst mangelhafte Justizwesen zu verbessern, berief Katharina, welche auch die Tortur abschaffte, 1766 eine Kommission rechtsverständiger Mitglieder aus allen Provinzen, um ein neues Gesetzbuch auszuarbeiten, das aber nicht vollendet wurde.
Die Kirchengüter zog sie ein und ließ sie durch eine eigne Behörde, das Ökonomiekollegium, verwalten, welches den Geistlichen einen bestimmten Gehalt zahlte und den Überschuß der Einkünfte für wohlthätige Zwecke verwendete. Sie gründete Armen-, Kranken- und Findelhäuser und führte die Kuhpockenimpfung ein. Ihre religiöse Duldung zeigte sie den Raskolniken gegenüber, und Künste und Wissenschaften fanden bei ihr freigebige Unterstützung. Gelehrte und Künstler wurden zu ihrer Ausbildung ins Ausland gesandt, die geistlichen Seminare vermehrt und erweitert, Gymnasien und Militärschulen errichtet, sogar 1783 eine russische Akademie zur Ausbildung der nationalen Sprachen gestiftet; in allen bedeutenden Städten und in vielen kleinern Ortschaften wurden Volksschulen eingerichtet, für welche die nötigen Lehrer in einem zu diesem Behuf 1778 geschaffenen Oberschulkollegium gebildet wurden.
Gleich im ersten Jahr ihrer Regierung lud Katharina durch ein Manifest Ausländer zur Niederlassung in ihrem Reich ein und setzte zur Leitung der Kolonisation eine eigne Behörde nieder; in den Gouvernements Petersburg und Saratow siedelten sich auch zahlreiche deutsche Einwanderer an. Für Hebung der Industrie und des Handels sorgte sie durch Abschaffung vieler Monopole und Vermehrung der Wertzeichen, durch Förderung der Schiffahrt und durch Handelsverträge mit den auswärtigen Staaten. Nicht immer und überall wurden ihre guten Absichten gewürdigt, vielmehr rief die Unzufriedenheit mit manchen Neuerungen wiederholt Unruhen hervor, unter denen der Aufstand Pugatschews (s. d.) 1773-74 wirklich gefährlich wurde.
In der auswärtigen Politik richtete Katharina zunächst ihr Augenmerk auf Polen, das sie ganz unter russischen Einfluß bringen wollte, um hierdurch seine völlige Einverleibung in Rußland vorzubereiten. Sie bewirkte 1764 die Wahl ihres Günstlings Stanislaus Poniatowski zum König von Polen und führte durch ihre Einmischung zu gunsten der Dissidenten den Aufstand der Konföderation von Bar herbei, bei dessen Niederwerfung russische Truppen mitwirkten. Als diese bei der Verfolgung der Konföderierten die türkische Stadt Balta in Brand steckten, erklärte der Sultan den Krieg. In diesem ersten russisch-türkischen Krieg (1768-74) siegten die Russen am Fluß Larga und bei Kartal (1. Aug.), eroberten einen Teil Bessarabiens und 1771 die Krim, wo die Tataren den von ihnen eingesetzten Chan anerkennen mußten, vernichteten 5. Juli bei Tschesme, gegenüber von Chios, die türkische Flotte, überschritten Ende 1771 auch die Donau und schlugen die Türken 21. Okt. bei Babadagh in Bulgarien. Nach einer Unterbrechung durch den Waffenstillstand und die Friedensverhandlungen von Fokschani (1772) wurde der Krieg in Bulgarien 1773-74 mit wechselndem Erfolge fortgesetzt und durch den Frieden von Kütschük Kainardschi beendet, durch welchen Rußland das Land zwischen Dnjepr und Bug, die Städte Kinburn, Kertsch, Jenikale und Perekop in Taurien erwarb, ferner das Recht freier Schiffahrt auf dem Schwarzen und Marmarameer und der Durchfahrt durch die Dardanellen, endlich die Schutzherrschaft über die Moldau und Walachei erhielt.
Inzwischen hatte sich Katharina infolge der Vereinigung Preußens mit Österreich 1772 zu der ersten Teilung Polens verstehen müssen, in welcher sie Weißrußland gewann. Der bayrische Erbfolgekrieg gab ihr aber bald Gelegenheit, die deutschen Mächte ihren Einfluß fühlen zu lassen, und 1780 gewann sie den Kaiser Joseph II. für ein Bündnis, welches ihr die Türkei preisgab. Nachdem ihr Günstling Potemkin 1783 die Tataren auf der Krim mit blutiger Gewalt unterworfen und diese Halbinsel nebst den Nachbarländern mit Rußland vereinigt hatte, begann die Kaiserin nach einer zweiten Zusammenkunft mit
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Joseph II. in Cherson, der mit kolossalem Aufwand neugebauten Stadt, einen zweiten russisch-türkischen Krieg (1787-92) im Bund mit Österreich. In diesem errangen die Russen, durch die unglückliche Kriegführung der Österreicher behindert, anfangs keine Erfolge. Erst Ende 1788 wurde Otschakow erstürmt, und 1789 siegte Suworow bei Fokschani (1. Aug.) und am Fluß Rimnik (22. Sept.) über die Türken. 1790 wurde Ismail erobert und 1791 die Donau überschritten; südlich derselben schlugen Kutusow die Türken bei Babada und Repnin bei Matschin, worauf der Friede von Jassy abgeschlossen wurde in welchem die Türkei das Land zwischen Bug und Dnjestr und Otschakow abtrat.
Gleichzeitig hatte Rußland einen Krieg mit Schweden (1788-90) zu führen, den König Gustav III. aus kriegerischem Ehrgeiz in der Hoffnung, die Ostseeprovinzen wiederzugewinnen, begann. Derselbe wurde mit wechselndem Glück auf der Ostsee und in Finnland geführt, doch der Versuch Gustavs, sich durch Erstürmung Frederikshamns den Weg nach Petersburg zu bahnen, mit Erfolg abgewehrt und endlich durch den Frieden von Werelä der Stand der Dinge vor dem Krieg hergestellt.
Die Entwickelung der polnischen Verhältnisse hatte Katharina nicht aus den Augen verloren. Als eine patriotische Partei in Polen durch eine neue Verfassung 1791 dem Reich Einheit und Kraft verleihen wollte, stiftete Rußland einen Teil des Adels an, die Konföderation von Targowitz gegen die Konstitution von 1791 zu schließen, ließ sich von dieser zu Hilfe rufen, drang Polen die alte Feudalverfassung mit Gewalt wieder auf und nahm in Gemeinschaft mit Preußen 1793 eine neue, die zweite Teilung Polens vor, die ihm in der Ukraine und in Litauen eine gewaltige Gebietsvergrößerung verschaffte.
Obwohl Katharina die französische Revolution verabscheute, nahm sie aus Rücksicht auf Polen am ersten Koalitionskrieg nicht teil und war daher im stande, 1794 den polnischen Aufstand niederzuwerfen und Preußen und Österreich die Bedingungen der dritten polnischen Teilung (1795) vorzuschreiben. Mit der Erwerbung Kurlands, auf welches der letzte Herzog, Peter Biron, gegen eine jährliche Rente freiwillig verzichtete, war das Gebiet des Reichs auf 19 Mill. qkm angewachsen. Rußlands Machtstellung und Einfluß in Europa war in ungeheuerm Maß gestiegen.
Die Zeit der Napoleonischen Kriege 1796-1815.
Nach Katharinas Tod folgte ihr Sohn Paul I. (1796-1801), der durch verkehrte Erziehung ein mißtrauischer, launenhafter Tyrann geworden war. Anfangs zwar erließ er einige wohlthätige Verordnungen zu gunsten der Leibeignen und Altgläubigen. Wichtig ist auch das von ihm gegebene Familiengesetz (1797), welches für die Thronfolge das Recht der Erstgeburt in direkt absteigender Linie und dabei den Vorgang der männlichen Nachkommen vor den weiblichen als Reichsgrundgesetz bestimmte; ein andres Gesetz trennte einen Teil der Kronbauern als Eigentum der kaiserlichen Familie unter dem Namen Apanagebauern ab. Aus Mißtrauen gegen die revolutionären Ideen verbot Paul aber den Besuch ausländischer Lehranstalten und Universitäten, führte eine verschärfte Zensur und strenge Aufsicht über alle im Reich lebenden Ausländer und fremden Reisenden ein und bestrafte jede freie Meinungsäußerung mit launischer Willkür. An dem Kriege gegen Frankreich nahm er erst teil, als die aus Malta vertriebenen Malteserritter ihn zum Großmeister gewählt (Oktober 1798) und seine Hilfe gegen Frankreich angerufen hatten. Im zweiten Koalitionskrieg stellte er Hilfstruppen unter General Hermann für die von den Engländern beabsichtigte Landung in den Niederlanden, für den Krieg in Süddeutschland (unter Korssakow) und in Italien (unter Suworow); sogar dem Sultan schickte er eine Flotte mit 4000 Soldaten nach Konstantinopel zu Hilfe.
Die glänzendsten Erfolge erzielte Suworow in Italien, wo er mit den Österreichern vereint durch die Siege bei Cassano (27. April), an der Trebbia (17.-19. Juni) und bei Novi (15. Aug.) die Franzosen aus dem Pogebiet vertrieb. Als er dann auf seinem berühmten Marsch über den St. Gotthard in die Schweiz vordrang, um sich mit Korssakow zu vereinigen, war dieser eben (26. Sept.) bei Zürich geschlagen worden, und Suworow mußte über den Panixer Paß sich nach Graubünden wenden, von wo er nach Rußland zurückkehrte. Denn da auch die Landung in den Niederlanden mit einer schimpflichen Kapitulation (19. Okt.) geendet hatte, sagte sich Kaiser Paul, der Ursache hatte, diese Mißerfolge der Unfähigkeit der verbündeten Befehlshaber zuzuschreiben, von der Koalition los und schloß nach dem Muster des von Katharina II. veranlaßt Neutralitätsvertrags vom zur Beschränkung der britischen Seemacht im Dezember 1800 einen solchen mit Schweden, Dänemark und Preußen, den England sofort mit einem Angriff auf Kopenhagen beantwortete. Noch ehe es zu Feindseligkeiten zwischen England und Rußland kam, ward Paul von einigen Großen ermordet, weil sein Despotismus unerträglich war.
Sein 23jähriger Sohn Alexander I. (1801-25) entsagte sofort in einem Vertrag mit England der bewaffneten Neutralität, um sich den Werken des Friedens widmen zu können; denn, nach Rousseauschen Grundsätzen erzogen, schwärmte er für humane Ideale, ohne jedoch seine unbeschränkte Herrschergewalt, auf die er nicht verzichtete, mit Energie und Ausdauer für deren Verwirklichung anzuwenden. An Stelle der von Peter I. begründeten Kollegien errichtete er acht Ministerien (1802), schuf für die Prüfung und Beratung aller neuen Gesetze und Maßregeln der Regierung den Reichsrat, suchte die Finanzen zu regeln und legte zur Verminderung der Heereskosten Militärkolonien an. Die Leibeigenschaft hob er in den baltischen Provinzen auf und milderte sie in Rußland selbst.
Die Zahl der Gymnasien und Volksschulen wurde beträchtlich vermehrt, Universitäten neu errichtet (in Kasan und Charkow) oder reorganisiert (in Dorpat und Wilna). Indes bald erkannte er, daß seine friedliche, ja freundschaftliche Haltung zu Frankreich von Napoleon nur benutzt werde, um in Mitteleuropa nach Willkür schalten zu können, und er trat 1805 der dritten Koalition gegen Frankreich bei. Doch wurde das russische Heer unter Kutusow, das sich in Mähren mit den Österreichern vereinigte, bei Austerlitz geschlagen und mußte infolge des Waffenstillstandes zwischen Frankreich und Österreich das österreichische Gebiet räumen.
Seinem sentimentalen Freundschaftsbündnis mit Friedrich Wilhelm III. getreu, kam Alexander 1806 Preußen zu Hilfe, als dessen Heerestrümmer über die Oder zurückgedrängt waren. Die Russen lieferten den Franzosen in Polen die unentschiedenen Gefechte von Czarnowo (23.-24. Dez.), Pultusk und Golymin in Preußen die mörderische, aber nicht entscheidende Schlacht bei Preußisch-Eylau (7.-8. Febr. 1807), wurden aber nach einem längern Waffenstillstand 10. Juni bei Heilsberg und 14. Juni bei Friedland geschlagen.
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Auf einer persönlichen Zusammenkunft mit Alexander 25. Juni gelang es Napoleon, den Zaren völlig für sich zu gewinnen. Alexander schloß 7. Juli mit Napoleon den Frieden von Tilsit, in welchem er Preußen völlig im Stiche ließ, ja sogar sich auf dessen Kosten durch den Grenzdistrikt Bialystok bereicherte, und einen geheimen Bundesvertrag, in welchem sie sich die Herrschaft über Europa teilten, und welcher auf einer zweiten Zusammenkunft in Erfurt (September bis Oktober 1808) erneuert und genauer bestimmt wurde.
Rußland überließ Napoleon die Herrschaft über Deutschland, Spanien und Portugal und trat der Kontinentalsperre gegen England bei, wogegen ihm Schweden und die Türkei preisgegeben wurden. Schon Anfang 1808 hatte Rußland Schweden den Krieg erklärt und ein Heer in Finnland einrücken lassen, das in kurzer Zeit erobert wurde; 1809 gingen russische Truppen über das Eis des Bottnischen Meerbusens, besetzten die Alandsinseln und die gegenüberliegende schwedische Küste und nötigten Karl XIII. von Schweden zum Frieden von Frederikshamn in welchem Schweden ganz Finnland bis zum Fluß Tornea und die Alandsinseln an Rußland abtrat.
Das zweite Opfer des Tilsiter Bündnisses war die Türkei, welche, von Napoleon angereizt, den dritten russisch-türkischen Krieg (1806-12) begonnen hatte. Die Russen drangen in die Donaufürstentümer ein, siegten im September 1810 bei Batyen an der Donau und im Oktober 1811 bei Rustschuk über die Türken und erzwangen den Frieden von Bukarest durch welchen der Pruth zur Grenze zwischen den beiden Reichen bestimmt wurde. Ein Krieg mit Persien wurde gleichzeitig durch Abtretung eines Länderstreifens am Westufer des Kaspischen Meers mit Baku beendet.
So waren noch rechtzeitig diese Kriege beendet, und Rußland konnte seine Donauarmee unter Tschitschagow in den Krieg mit Frankreich 1812 eingreifen lassen. Ursache desselben war der Übermut Napoleons, der das russische Bündnis nicht mehr zu bedürfen glaubte und allein in Europa herrschen wollte. So verletzte er Rußland absichtlich, indem er das Herzogtum Warschau 1809 durch Westgalizien vergrößerte, den Herzog von Oldenburg, einen nahen Verwandten des russischen Kaiserhauses, willkürlich seines Landes beraubte, eine Verschärfung der Kontinentalsperre forderte, dagegen die von Rußland verlangte Räumung Preußens ablehnte.
Als Napoleon im Sommer 1812 mit der Großen Armee von 477,000 Mann die russische Grenze überschritt, waren die Russen durch ihre militärische Schwäche (sie zählten kaum 200,000 Mann) zu der Kriegführung gezwungen, welche ihnen den Sieg verleihen sollte, nämlich: möglichste Vermeidung einer offenen Feldschlacht, Rückzug in das unermeßliche Innere des Reichs und Ermüdung des Feindes durch den kleinen Krieg. Um die Bevölkerung von jeder Unterstützung des Feindes abzuhalten, wurde die orthodoxe Religion für gefährdet erklärt und der heilige Krieg proklamiert.
Der linke Flügel der Franzosen unter Macdonald, dem das preußische Hilfskorps beigegeben war, rückte in die baltischen Provinzen ein; der rechte unter Schwarzenberg drang in Wolhynien vor. Die Hauptarmee unter Napoleon selbst schlug die Richtung nach Moskau ein, erreichte 28. Juni Wilna, 28. Juli Witebsk und stieß erst Mitte August bei Smolensk auf die russische sogen. Westarmee unter Barclay de Tolly, welche, 116,000 Mann stark, Widerstand leistete, aber 17. Aug. geschlagen wurde.
Die Russen deckten den weitern Rückzug durch die Gefechte bei Walutina Gora (19. Aug.), Dorogobush (26. Aug.), Wjasma (29. Aug.) und Ghatsk (1. Sept.) und wagten, nachdem Kutusow den Oberbefehl übernommen hatte, 7. Sept. bei Borodino noch einmal eine Schlacht. Zwar mußten sie nach einem hartnäckigen und furchtbar blutigen Kampf ihre Stellung räumen und Moskau preisgeben, in das Napoleon 14. Sept. einzog; aber das französische Heer war nicht nur auf 100,000 Mann zusammengeschmolzen, sondern auch erschöpft und kriegsmüde, und statt durch den Besitz Moskaus den Frieden erzwingen zu können, fand Napoleon die Stadt von fast allen Einwohnern verlassen und der Vernichtung geweiht; denn am Abend des 15. Sept. begann der vom Gouverneur Rastoptschin befohlene Brand von Moskau, der in sechstägigem Wüten fast die ganze Stadt in Asche legte und die Franzosen der Mittel des Unterhalts beraubte. Napoleon konnte nun nicht in Moskau überwintern, und nachdem seine Friedensanträge von Alexander erst hingehalten, dann zurückgewiesen worden waren, trat er 18. Okt. den Rückzug an. Er wandte sich zuerst gegen Kaluga, um in den noch unberührten südlichen Landstrichen Winterquartiere zu finden, ward aber bei Malojaroßlawez 24. Okt. von Kutusow nach dem Norden zurückgeworfen und mußte nun durch völlig ausgesogene Gegenden seinen Rückzug nach Smolensk fortsetzen, wobei seine Nachhut fortwährend von Kosaken umschwärmt und angegriffen wurde. Durch den Mangel an Lebensmitteln und die früh eingetretene Kälte litt die Armee fürchterlich und war schon in Auflösung, als sie 9. Nov. Smolensk erreichte. Der weitere Rückzug ward dadurch gefährdet, daß die russische Südarmee unter Tschitschagow nach Zurückdrängung Schwarzenbergs und die Nordarmee unter Wittgenstein, welche den Vormarsch der Franzosen in die Ostseeprovinzen nicht hatte hindern können und zweimal ohne Erfolg bei Polozk gekämpft hatte (17. u. 18. Aug. und 18.-19. Okt.), sich nun auf der Rückzugslinie Napoleons vereinigen konnten. Mit Mühe, unter Aufbietung der letzten Kräfte, erzwangen die Franzosen 26.-28. Nov. noch vor dieser Vereinigung den Übergang über die Beresina; aber in bejammernswertem Zustand erreichte der Rest des Heers 6. Dez. Wilna, wo es sich auch nicht behaupten konnte. Ja, der Abfall Yorks von den Franzosen (30. Dez.) nötigte dieselben Anfang 1813 auch zur Räumung der Weichsellinie.
Auch die russischen Truppen waren durch die Verluste und die Strapazen des Winterfeldzugs stark vermindert und erschöpft, und im russischen Hauptquartier waren viele einflußreiche Personen für einen sofortigen, möglichst vorteilhaften Frieden mit Frankreich. Aber zu einem solchen zeigte sich Napoleon keineswegs geneigt, und auch Alexander verlockten Ehrgeiz und Herrschsucht sowie der Wunsch, sich den Besitz ganz Polens zu sichern, zur Fortsetzung des Kriegs im Bund mit Preußen (vgl. Deutscher Befreiungskrieg).
Der erste Feldzug, welchen russische Feldherren, Wittgenstein und Barclay, befehligten, endete nach den Schlachten von Großgörschen und Bautzen mit dem Rückzug nach Schlesien. Im zweiten Teil des Kriegs aber, als Österreich, England und Schweden der Koalition beigetreten waren, nahmen die russischen Truppen hervorragenden Anteil an den Siegen, besonders der schlesischen Armee 1813-14, durch welche Napoleon aus Deutschland vertrieben und endlich gestürzt wurde. Im Rate der Verbündeten spielte Kaiser Alexander neben Metternich die hervorragendste Rolle und verhalf den zu