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Kassationsinstanz, der bei Appellationen prüft, ob die Gesetze genau eingehalten sind. Die Friedensrichter werden aus einer vom Gouverneur verifizierten Bezirksliste der Qualifizierten (Unbescholtenheit, Alter von 25 Jahren, Grundbesitz, Besuch höherer oder mittlerer Unterrichtsanstalten oder dreijährige juristische Praxis) von allen Ständen gemeinschaftlich auf drei Jahre gewählt und vom Senat bestätigt. Die andern Richter werden auf Vorschlag des Justizministers vom Kaiser ernannt und zwar nur aus solchen Personen, die eine juristische Bildung genossen oder dieselbe im Dienst bewiesen haben.
Die Ukase (Gesetze) der Zaren wurden 1649 zu einem Gesetzbuch (Uloshenie) vereinigt, welches, wiederholt überarbeitet, noch jetzt in Gültigkeit ist. Doch wurden in das in Kraft [* 2] getretene neuere Gesetzbuch (Swod Sakonow, »Zusammenstellung der Gesetze«) auch die inzwischen erlassenen Bestimmungen in systematischer Bearbeitung aufgenommen. Von diesem Gesetzbuch sind verschiedene Ausgaben veranstaltet worden. Neben dem Strafgesetzbuch (3. Ausg. 1866) besteht ein Friedensrichterstrafgesetz für die Polizeiübertretungen.
Gerichts, Straf und Zivilprozeßordnungen sind erlassen. Im Kriminalprozeß ist die Untersuchung von der Urteilsfällung getrennt. Die öffentliche Anklage erhebt der Prokureur, die Privatanklage der bevollmächtigte vereidigte Rechtsanwalt. Die Todesstrafe ist, abgesehen von dem Militärstrafverfahren, noch für Attentate auf den Kaiser beibehalten. Die körperlichen Strafen sind in ihrer Anwendbarkeit wesentlich eingeschränkt. Die Verbannung nach Sibirien kann auch im administrativen Weg verhängt werden.
Die Geschwornengerichte werden gebildet durch drei Richter des Bezirksgerichts und zwölf Geschworne. Diese entscheiden unter einem von ihnen selbst gewählten Obmann durch Stimmenmehrheit über Schuldig oder Nichtschuldig. Für den Zivilprozeß gilt als Grundform das kontradiktorische Verfahren mit den zwei Hauptarten des ordentlichen und summarischen Verfahrens. Ausnahmen von der allgemeinen Zivilprozeßordnung finden statt in Sachen, die das Interesse der Krone, des Apanage- und Hofressorts und andrer Kronverwaltungen oder geistlicher Stiftungen berühren, sowie in Ehe- und Legitimitätssachen.
Friedensrichter und Geschwornengerichte etc. bestehen in Finnland nicht, die letztern fehlen auch den Ostseeprovinzen. Der Paßzwang besteht für Ausländer in Rußland noch im vollen Umfang. Auch russischen Unterthanen wird zur Reise ins Ausland ein Paß [* 3] auf bestimmte Zeitdauer ausgestellt, eine Prolongation findet durch die heimatliche Paßbehörde statt; doch darf die Gesamtdauer der Abwesenheit in der Regel fünf Jahre nicht übersteigen. Für Reisen innerhalb Rußlands sind Legitimationen, welche dem polizeilichen Visum unterliegen, unentbehrlich.
Vgl. über das russische Staatsrecht: Engelmann in Marquardsens »Handbuch des öffentlichen Rechts«, Bd. 4 (Freiburg [* 4] 1888);
Leuthold, Russische [* 5] Rechtskunde (Leipz. 1888).
Finanzen.
Die russische Staatsschuld belief sich Anfang 1888 (nach dem gegenwärtigen Kurs des Papierrubels) auf 11,100 Mill. Mk. (3440 Mill. Silberrubel). Im Verkehr befanden sich 780 Mill. Rub. Kreditbillets.
Vgl. Clercq, Les finances de l'empire de Russie (Petersb. 1886);
Vesselofsky, Annuaire des finances russes; Kaufmann, Die Statistik der Staatsfinanzen Rußlands (Petersb. 1887, russ.).
Das allgemeine Reichsbudget zeigte in den beiden letzten Jahren die auf folgender Tabelle ersichtlichen Aufstellungen:
Reichseinnahmen.
Voranschlag für 1888 | Budget für 1887 | |
---|---|---|
I. Gewöhnliche Einnahmen: | ||
1) Steuern direkte | 83857897 | 77765741 |
Steuern indirekte u. Gebühren | 480665239 | 441704210 |
2) Regierungsregalien | 29982089 | 29009725 |
3) Staatseigentum | 49968617 | 44019573 |
4) Loskaufszahlungen | 96692560 | 97811119 |
5) Verschiedene Einnahmen | 110601226 | 102887398 |
Gewöhnliche Einnahmen: | 851767628 | 793197766 |
II. Durchgehende Einnahmen | 2589587 | 3171078 |
III. Außerordentliche Einnahmen | 33724895 | 84972828 |
Einnahmen im ganzen: | 888082110 | 881341672 |
Reichsausgaben.
Voranschlag für 1888 | Budget für 1887 | |
---|---|---|
I. Gewöhnliche Ausgaben: | ||
1) Staatsschuld: a) Anleihen | 185689830 | 17628515 |
b) Eisenbahnobligationen | 70674269 | 65545643 |
c) Spezialanleihen der Loskaufsoperation | 31603373 | 36117536 |
2) Höchste Regierungsinstitutionen | 2125305 | 2066376 |
3) Ressort des heiligen Synods | 11030477 | 10988142 |
4) Ministerium des kaiserl. Hofs | 10560000 | 10560000 |
5) Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten | 4545438 | 4338408 |
6) Kriegsministerium | 208412108 | 208466551 |
7) Marineministerium | 39594424 | 39247488 |
8) Finanzministerium | 109244340 | 104877745 |
9) Ministerium der Reichsdomänen | 22253897 | 22385121 |
10) Ministerium des Innern | 73448261 | 73874208 |
11) M. der Volksaufklärung | 21381405 | 20835314 |
12) M. der Wegeverbindungen | 28883707 | 25642189 |
13) Ministerium der Justiz | 21331022 | 20505817 |
14) Reichskontrolle | 3392107 | 3275583 |
15) Hauptverwaltung der Reichsgestüte | 1100460 | 1101764 |
16) Ausgaben für in den Etats nicht vorgesehene Extrabedürfnisse | 6000000 | 3000000 |
Gewöhnliche Ausgaben: | 851242423 | 829756400 |
II. Durchgehende Ausgaben | 2589587 | 3171078 |
III. Außerordentliche Ausgaben | 34250100 | 48414194 |
Ausgaben im ganzen: | 888082110 | 881341672 |
Heerwesen und Marine.
Die bewaffnete Landmacht umfaßt das stehende Heer mit der Reichswehr (Opoltschenie) und die Kosakenheere. Durch Gesetz vom 1. (13.) Jan. 1874 besteht die allgemeine Wehrpflicht ohne Loskauf und ohne Stellvertretung, ausgenommen das asiatische Rußland; seit 1887 ist ihr jedoch auch die russische Bevölkerung [* 6] Sibiriens unterworfen. Die mohammedanischen Kaukasier sind gegen Zahlung einer Wehrsteuer von der persönlichen Dienstpflicht entbunden. Die Wehrpflicht währt vom vollendeten 20. bis 43. Lebensjahr.
Die Gesamtdienstzeit im stehenden Heer beträgt im europäischen Rußland 15, im asiatischen und bei den Seetruppen 10 Jahre, davon im aktiven Dienst 5, bei den Seetruppen 7 Jahre, in der Reserve 10, bez. 3 Jahre. Bei Nachweis eines gewissen Bildungsgrades tritt Verkürzung der Dienstzeit ein. Die Reserve dient zur Ergänzung der aktiven Armee auf Kriegsfuß. Eine Landwehr im deutschen Sinn besteht in Rußland nicht, denn die Opoltschenie, welche alle Dienstpflichtigen bis zum 43. Lebensjahr umfaßt, die sich freigelost oder aus dem stehenden Heer entlassen sind, entspricht mehr unserm Landsturm; ihre 4 ersten Jahrgänge, welche im Krieg ¶
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zur Ergänzung der aktiven Armee dienen, bilden die 1., alle übrigen die 2. Klasse der Reichswehr. Von den etwa 850,000 Dienstpflichtigen jedes Jahrgangs werden nur etwa 235,000 eingestellt, woraus sich das außerordentliche Anwachsen der Reichswehr erklärt. Von dem Ergänzungskontingent dienen aus Sparsamkeitsrücksichten 45,000 nur 9 Monate. Behufs Heeresersatz ist das Reich in Ersatzbezirke, behufs Heeresverwaltung in 14 dem Kriegsministerium unterstellte Militärbezirke geteilt; es sind:
1) St. Petersburg, [* 8] 2) Helsingfors (Finnland), 3) Wilna, [* 9] 4) Warschau, [* 10] 5) Kiew, [* 11] 6) Odessa, [* 12] 7) Charkow, 8) Moskau, [* 13] 9) Kasan, [* 14] 10) Tiflis (Kaukasus), 11) Omsk, 12) Taschkent (Turkistan), 13) Irkutsk (Ostsibirien), 14) Chabarowka (Amur, Transbaikal). Dem Oberkommandierenden, welcher in 8 Militärbezirken (Helsingfors, Wilna, Warschau, Kiew, Moskau, Omsk, Irkutsk, Taschkent) in seiner Person die höchste Militär- und Zivilgewalt vereinigt, sind sämtliche Truppen des Bezirks unterstellt.
Die Armee ist zwar (seit Ende 1876) in 19 Armeekorps eingeteilt, doch ist dies nur formell, die eigentliche taktische Einheit ist die Division. 2-3 Infanterie- und 1 Kavalleriedivision sowie 2-3 Artilleriebrigaden bilden je 1 Armeekorps, das kaukasische Armeekorps hat jedoch 2 Kavalleriedivisionen. Hiernach besteht die Armee aus 3 Garde-, 3 Grenadier-, 41 Armeeinfanterie-, 2 Garde-, 4 Kosaken-, 14 Armeekavalleriedivisionen. Jede Division besteht aus 2 Brigaden zu 2 Regimentern Infanterie oder Kavallerie.
Nach dem amtlichen Verzeichnis der Landtruppen bestand die russische reguläre Armee am aus:
1) Infanterie: 192 (12 Garde-, 16 Grenadier-, 164 Armee-) Regimentern zu 4 Bataillonen und 1 Kompanie Nichtkombattanten, welche im Krieg 192 Ersatzbataillone bilden, etwa 337,000 Mann;
58 (darunter 6 Garde-, 20 Armee-) Schützenbataillonen zu 4 Kompanien, etwa 26,000 Mann;
33 (turkistanischen und sibirischen) Linienbataillonen, etwa 21,300 Mann;
115 Reservekadrebataillonen zu 5 Kompanien, aus welchen im Krieg 115 Regimenter formiert werden;
2 kaukasischen Schützendruschinen.
2) Kavallerie: 56 (4 Kürassier-, 2 Dragoner-, 2 Ulanen-, 2 Husaren-, Garde- und 46 Dragoner-) Regimenter zu 6 Eskadrons, etwa 48,000 Mann;
14 Kosakenregimenter (3 Kosakendivisionen und 1 Kosakenbrigade);
außer dem Divisionsverband stehen ferner: 4 Tatarensotnien, 5 Feldgendarmerieeskadrons, 18 Ersatzkadres und 4 Ersatzabteilungen.
3) Artillerie. a) Feldartillerie: 51 (darunter 3 Garde-, 4 Grenadier-) Feld-, 5 Reservefeldartilleriebrigaden mit zusammen 336 (98 Armee-, 188 leichte, 20 Gebirgs-) Batterien und 1442 Geschützen (im Krieg werden noch 5 Reservebrigaden mit 80 Batterien und 640 Geschützen sowie 5 Ersatzbrigaden mit 40 Batterien und 320 Geschützen gebildet); außer dem Brigadeverband stehen 3 Gebirgs-, 5 Ausfall- und 2 Reservefußbatterien. b) Reitende Artillerie: 25 reitende und 7 Kosakenbatterien. c) Festungsartillerie: 50 Bataillone und 6 selbständige Kompanien. d) Ingenieurtruppen: 17 Sappeurbataillone zu 5 Kompanien und 5 asiatische Sappeurkompanien, 8 Pontonierbataillone; 6 Eisenbahnbataillone; 17 Kriegstelegraphenparke, 6 Feldingenieurparke.
Zur regulären Armee gehören ferner die den 24 Lokalbrigaden und den Oberkommandierenden der Militärbezirke unterstellten Lokaltruppen; sie bestehen aus 1) 13 Bataillonen Infanterie für den Wacht- und Sicherheitsdienst;
2) den Lehrtruppen und zwar der Infanterieoffizierschießschule in Oranienbaum, der Offizierkavallerieschule mit Lehrschmiede in St. Petersburg, der Offizierartillerieschule in Zarskoje Selo, der Galvanischen Lehrkompanie in St. Petersburg und dem Unteroffizierlehrbataillon in Riga; [* 15]
3) den Hilfsabteilungen und zwar den Schloßgrenadieren (kaiserliche Schloßwache), den Lokal-, Artillerie-, Ingenieur- und Hospitalkommandos für den Arbeitsdienst in den Artilleriewerkstätten, Festungen und Lazaretten, den Disziplinarbataillonen, Arrestantenabteilungen, der Grenzwache (21,300 Mann), welche militärisch organisiert und dem Finanzministerium unterstellt ist, der (1886 neuformierten) Konvoiwache in 565 Begleitkommandos zum Transport von Gefangenenkommandos und zum Polizeidienst.
Die reguläre Armee hat eine Friedensstärke von rund 660,000 Mann; sie schwillt aber bei der Mobilmachung infolge des Überflusses an Reserven zu der allerdings nur auf Schätzung beruhenden gewaltigen Höhe von etwa 1,690,000 Kombattanten (darunter 36,600 Offiziere) mit 204,400 Pferden und 3776 Geschützen an. Die Infanterie zählt mehr als 1600 Bataillone, die Kavallerie etwa 450 Eskadrons, die Artillerie nahezu 500 Feldbatterien. Bei den ungeheuern Entfernungen im russischen Reich und den weiten Maschen seines Eisenbahnnetzes bedarf die Ausführung der Mobilmachung und die Zusammenziehung großer Heeresmassen indessen sehr viel längerer Zeit als in andern europäischen Staaten. Deshalb sind schon im Frieden gegen die Westgrenze (Österreich [* 16] und Deutschland) [* 17] große Streitkräfte angehäuft; im Militärbezirk Wilna stehen 8 Infanterie-, 3 Kavalleriedivisionen, die gleiche Zahl im Bezirk Warschau, in Kiew 4 Infanterie- und 2 Kavalleriedivisionen.
Mit dieser gewaltigen Truppenmacht ist die Wehrkraft Rußlands noch keineswegs erschöpft, ihr treten vielmehr noch die Kosaken und die irregulären Truppen der Fremdvölker hinzu. Die Kosakentruppen, von denen ein großer Teil den Kavalleriedivisionen der regulären Armee zugeteilt ist, zerfallen in 3 Klassen: die 1. Klasse thut auch im Frieden Dienst, die 2. ist mit Waffen [* 18] und Pferden, die 3. nur mit Waffen beurlaubt, beide letztern treten erst im Krieg in aktiven Dienst.
Der jedesmalige Großfürst Thronfolger ist Ataman aller Kosaken, deren Angelegenheiten in einer besondern Abteilung des Kriegsministeriums bearbeitet werden. Alle dienstfähigen Kosaken treten mit 18 Jahren auf 3 Jahre in die militärische Vorbereitung, dann auf 12 Jahre in den Frontdienst, verbleiben jedoch in der Regel nur 4 Jahre aktiv und werden dann in die 2. und 3. Klasse beurlaubt. Die Kosakenabteilungen werden nach ihrer Heimat als Don-, Kuban-, Terek-, Astrachan-, Orenburg-, Ural- etc. Kosaken-Woissko bezeichnet; das Donische ist das stärkste, es bildet im Frieden das Leibgarde-Donkosakenregiment, 15 Armeekosakenregimenter, 1 Garde- und 7 Armeekosakenbatterien. Im Frieden bilden alle Kosaken 262 Sotnien (Eskadrons) zu Pferd, [* 19] 20 zu Fuß, 20 Batterien mit 98 Geschützen und 47,150 Mann, im Krieg dagegen 812 Sotnien zu Pferd, 60 zu Fuß, 40 Batterien mit 236 Geschützen, 140,000 Mann, darunter 3640 Offiziere. Die irregulären Truppen (krimsche, gurische, grusinische, tereksche etc. Sotnien) bestehen aus 1420 Mann Infanterie und 4349 Mann Kavallerie, im Krieg etwa 8400 Mann. Im ganzen darf man die Kriegsstärke des russischen Heers auf etwa 2 Mill. Mann veranschlagen; hierzu käme noch der Landsturm, über dessen Stärke [* 20] nur Schätzungen bestehen. Er soll nach einigen Angaben auch etwa 2 Mill. betragen. Eine ¶