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geheimen Polizei und den unter der Kaiserin stehenden Unterrichts- und Wohlthätigkeitsanstalten. Ministerien gibt es folgende: Ministerium des kaiserlichen Hauses, der auswärtigen Angelegenheiten, des Kriegs, der Marine, des Innern, des öffentlichen Unterrichts, der Finanzen, der Justiz, der Reichsdomänen (Landwirtschaft), der Wege und Verkehrsanstalten. Hierzu kommen noch der Vorstand der Reichskontrolle und der Staatssekretär für Finnland. Die höchste Behörde Rußlands ist der Reichsrat, eine beratende Behörde, die aus dem Präsidenten des Ministerrats, den volljährigen Großfürsten, den Ministern und einer Anzahl Militärs und Zivilbeamten ersten Ranges zusammengesetzt ist, die vom Kaiser auf Lebenszeit zu Reichsratsmitgliedern ernannt werden.
Der Reichsrat hat alle administrativen und legislativen Angelegenheiten zu verhandeln, bevor sie dem Kaiser zur Bestätigung vorgelegt werden. Die heilige Synode (der hochheilige Synod) ist in kirchlichen Dingen der griechisch-orthodoxen Konfession die Zentralbehörde und nicht nur aus geistlichen Würdenträgern, als Metropoliten, Erzbischöfen und Bischöfen, sondern auch aus weltlichen Würdenträgern zusammengesetzt. Der dirigierende Senat ist die die Ausführung der Gesetze überwachende höchste Behörde, welche die vom Kaiser bestätigten Gesetze in Form der Ukase verkündigt, in letzter Instanz alle Prozesse entscheidet und somit als Oberappellationsgericht fungiert.
Verwaltungsministerien im engern Sinn sind folgende: das Ministerium des kaiserlichen Hauses, welchem das Departement der Apanagen, das Reichsordenskapitel, die kaiserliche Akademie der schönen Künste, die kaiserlichen Paläste und Theater [* 2] unterstellt sind;
das Finanzministerium, welches die Abteilungen für Staatskreditwesen, Generalkasse, Papiergeldausgabe und Stempel, Schuldentilgung, Zölle, Handel und Industrie, direkte und indirekte Steuern umfaßt;
das Domänenministerium, welchem die Verwaltung der Staatsländereien, der Forsten und des Bergbaues unterstellt ist;
das Ministerium der innern Angelegenheiten, welches die Polizei, die landschaftliche und Städteverwaltung, die evangelischen ländlichen Schulen der drei Ostseeprovinzen, die nicht orthodoxen (fremden) Kulte, die Medizinalangelegenheiten, die Zensur sowie die Presse [* 3] überhaupt und die Landesstatistik begreift;
das Ministerium des öffentlichen Unterrichts, das im europäischen Rußland zehn Lehrbezirke umfaßt mit je einem Kurator: Dorpat, [* 4] Moskau, [* 5] St. Petersburg, [* 6] Kiew, [* 7] Charkow, Odessa, [* 8] Kasan, [* 9] Orenburg, Wilna [* 10] und Warschau. [* 11]
Das Großfürstentum Finnland ressortiert nicht unter dieses Ministerium, ebensowenig die von andern Ministerien unterhaltenen Lehranstalten, welche für die Ausbildung ihrer Beamten errichtet sind, und die unter der Leitung der heiligen Synode stehenden geistlichen Akademien und Seminare. Die Oberverwaltung Polens ruht in den Händen eines Generalgouverneurs und besteht ganz aus russischen Beamten in der obersten Landespolizeiverwaltung. Die Zentralverwaltung des Großfürstentums Finnland besorgt unter der Oberleitung eines Generalgouverneurs, als Vertreters des Kaisers, ein aus dem Adel des Landes, aus der Bürgerschaft und den Bauern gewählter Senat. Der Hofstaat des Kaisers besteht zu St. Petersburg aus den sieben Stäben des Oberkammerherrn, Oberhofmarschalls, Oberstallmeisters, Oberjägermeisters, der Oberhofmeisterin, des Oberzeremonienmeisters und Oberhofmeisters. Außerdem gibt es Kammerherren in übergroßer Anzahl und noch mehr Kammerjunker. Daneben besteht ein Hofstaat der Kaiserin und besondere Höfe der einzelnen Großfürsten.
Bezüglich der Provinzialverwaltung zerfällt das russische Reich in Gouvernements; das Amt eines Generalgouverneurs, der früher über mehreren Gouvernements stand, wird allmählich aufgehoben; gegenwärtig bestehen im europäischen Rußland noch folgende fünf Generalgouvernements: Warschau und Weichselgouvernement, Moskau, Kiew mit Wolhynien und Podolien, Wilna und Odessa. An der Spitze eines Gouvernements steht ein Gouverneur und diesem zur Seite ein Vizegouverneur, der zugleich Vorsitzender der Gouvernementsregierung ist.
In den selbständigen Stadtbezirken St. Petersburg, Odessa, Taganrog und Kertsch-Jenikale übt der Stadthauptmann die Rechte des Gouverneurs aus. Innerhalb dieses allgemeinen Rahmens, der für die verschiedenen Teile des weit ausgedehnten Reichs eine durch örtliche Verhältnisse und die geschichtliche Vergangenheit bedingte Mannigfaltigkeit in der Art der Einzelverwaltung zuläßt, ist für das europäische Rußland durch den Ukas vom eine wichtige Neuerung (bis jetzt in 36 Gouvernements) durchgeführt worden, indem durch denselben die Bevölkerung [* 12] der Gouvernements und Kreise [* 13] zur nähern Beteiligung an der Verwaltung derjenigen Geschäfte, die sich auf die ökonomischen Interessen und Bedürfnisse jedes Gouvernements und jedes Kreises beziehen, durch aus ihrer Mitte erwählte Personen berufen wird.
Die Kreistage setzen sich aus Vertretern der Grundbesitzer, der Stadt- und Landgemeinden, die Gouvernementslandtage aus Abgeordneten der Kreistage zusammen. Die Wahlperiode ist dreijährig; das aktive und passive Wahlrecht sind an ein Lebensalter von mindestens 25 Jahren, ferner an ein bestimmtes Maß des Besitzes, für Kaufleute des Geschäftsumsatzes gebunden. Die Vertreter der Landgemeinden werden durch Wahlmänner gewählt. Diese Provinzial-Institutionen (Semstwo) sind lediglich zur Verwaltung der den wirtschaftlichen Bedürfnissen dienenden Angelegenheiten bestimmt; teilweise sind ihnen auch die Gesundheitspflege, der Volksunterricht, die Wahl der Friedensrichter unterstellt sowie auch die Regelung der bäuerlichen Verhältnisse anvertraut.
Die städtischen Behörden bestehen aus dem Stadtamt unter einem Bürgermeister und dem auf vier Jahre gewählten Gemeinderat. An der Spitze der Dorfgemeinden steht ein Ältester, mehrere Gemeinden sind meist zu einem Bezirk (Wolost) verbunden, und ihre Ältesten fungieren neben dem Bezirksältesten als Bezirksverwaltung. Die Wahl der Ältesten erfolgt in der Dorfgemeindeversammlung, die des Bezirksältesten in der Bezirksversammlung, zu welcher die einzelnen Gemeinden Vertreter abordnen.
Rechtspflege.
An die Stelle der alten Gerichtsverfassung ist allmählich eine neue getreten mit Trennung der Justiz von der Administration, Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Anklageverfahrens, Geschwornengerichten, Gleichheit der Stände vor Gericht. Die Gerichtsinstanzen sind sowohl für Kriminal- als Zivilsachen: die Friedensrichter als Einzelrichter, mit Appellation an die Versammlung der Friedensrichter;
die Bezirksgerichte mit Zuziehung von Geschwornen in allen Fallen, [* 14] wo mit dem Verlust aller bürgerlichen Rechte oder einiger besondern Rechte und Vorzüge zusammenhängende Strafen eintreten (mit Ausschluß der Verbrechen gegen den Staat);
die Gerichtspalate als Appellationsinstanz für die Entscheidungen der Bezirksgerichte und der Senat als ¶
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Kassationsinstanz, der bei Appellationen prüft, ob die Gesetze genau eingehalten sind. Die Friedensrichter werden aus einer vom Gouverneur verifizierten Bezirksliste der Qualifizierten (Unbescholtenheit, Alter von 25 Jahren, Grundbesitz, Besuch höherer oder mittlerer Unterrichtsanstalten oder dreijährige juristische Praxis) von allen Ständen gemeinschaftlich auf drei Jahre gewählt und vom Senat bestätigt. Die andern Richter werden auf Vorschlag des Justizministers vom Kaiser ernannt und zwar nur aus solchen Personen, die eine juristische Bildung genossen oder dieselbe im Dienst bewiesen haben.
Die Ukase (Gesetze) der Zaren wurden 1649 zu einem Gesetzbuch (Uloshenie) vereinigt, welches, wiederholt überarbeitet, noch jetzt in Gültigkeit ist. Doch wurden in das in Kraft [* 16] getretene neuere Gesetzbuch (Swod Sakonow, »Zusammenstellung der Gesetze«) auch die inzwischen erlassenen Bestimmungen in systematischer Bearbeitung aufgenommen. Von diesem Gesetzbuch sind verschiedene Ausgaben veranstaltet worden. Neben dem Strafgesetzbuch (3. Ausg. 1866) besteht ein Friedensrichterstrafgesetz für die Polizeiübertretungen.
Gerichts, Straf und Zivilprozeßordnungen sind erlassen. Im Kriminalprozeß ist die Untersuchung von der Urteilsfällung getrennt. Die öffentliche Anklage erhebt der Prokureur, die Privatanklage der bevollmächtigte vereidigte Rechtsanwalt. Die Todesstrafe ist, abgesehen von dem Militärstrafverfahren, noch für Attentate auf den Kaiser beibehalten. Die körperlichen Strafen sind in ihrer Anwendbarkeit wesentlich eingeschränkt. Die Verbannung nach Sibirien kann auch im administrativen Weg verhängt werden.
Die Geschwornengerichte werden gebildet durch drei Richter des Bezirksgerichts und zwölf Geschworne. Diese entscheiden unter einem von ihnen selbst gewählten Obmann durch Stimmenmehrheit über Schuldig oder Nichtschuldig. Für den Zivilprozeß gilt als Grundform das kontradiktorische Verfahren mit den zwei Hauptarten des ordentlichen und summarischen Verfahrens. Ausnahmen von der allgemeinen Zivilprozeßordnung finden statt in Sachen, die das Interesse der Krone, des Apanage- und Hofressorts und andrer Kronverwaltungen oder geistlicher Stiftungen berühren, sowie in Ehe- und Legitimitätssachen.
Friedensrichter und Geschwornengerichte etc. bestehen in Finnland nicht, die letztern fehlen auch den Ostseeprovinzen. Der Paßzwang besteht für Ausländer in Rußland noch im vollen Umfang. Auch russischen Unterthanen wird zur Reise ins Ausland ein Paß [* 17] auf bestimmte Zeitdauer ausgestellt, eine Prolongation findet durch die heimatliche Paßbehörde statt; doch darf die Gesamtdauer der Abwesenheit in der Regel fünf Jahre nicht übersteigen. Für Reisen innerhalb Rußlands sind Legitimationen, welche dem polizeilichen Visum unterliegen, unentbehrlich.
Vgl. über das russische Staatsrecht: Engelmann in Marquardsens »Handbuch des öffentlichen Rechts«, Bd. 4 (Freiburg [* 18] 1888);
Leuthold, Russische [* 19] Rechtskunde (Leipz. 1888).
Finanzen.
Die russische Staatsschuld belief sich Anfang 1888 (nach dem gegenwärtigen Kurs des Papierrubels) auf 11,100 Mill. Mk. (3440 Mill. Silberrubel). Im Verkehr befanden sich 780 Mill. Rub. Kreditbillets.
Vgl. Clercq, Les finances de l'empire de Russie (Petersb. 1886);
Vesselofsky, Annuaire des finances russes; Kaufmann, Die Statistik der Staatsfinanzen Rußlands (Petersb. 1887, russ.).
Das allgemeine Reichsbudget zeigte in den beiden letzten Jahren die auf folgender Tabelle ersichtlichen Aufstellungen:
Reichseinnahmen.
Voranschlag für 1888 | Budget für 1887 | |
---|---|---|
I. Gewöhnliche Einnahmen: | ||
1) Steuern direkte | 83857897 | 77765741 |
Steuern indirekte u. Gebühren | 480665239 | 441704210 |
2) Regierungsregalien | 29982089 | 29009725 |
3) Staatseigentum | 49968617 | 44019573 |
4) Loskaufszahlungen | 96692560 | 97811119 |
5) Verschiedene Einnahmen | 110601226 | 102887398 |
Gewöhnliche Einnahmen: | 851767628 | 793197766 |
II. Durchgehende Einnahmen | 2589587 | 3171078 |
III. Außerordentliche Einnahmen | 33724895 | 84972828 |
Einnahmen im ganzen: | 888082110 | 881341672 |
Reichsausgaben.
Voranschlag für 1888 | Budget für 1887 | |
---|---|---|
I. Gewöhnliche Ausgaben: | ||
1) Staatsschuld: a) Anleihen | 185689830 | 17628515 |
b) Eisenbahnobligationen | 70674269 | 65545643 |
c) Spezialanleihen der Loskaufsoperation | 31603373 | 36117536 |
2) Höchste Regierungsinstitutionen | 2125305 | 2066376 |
3) Ressort des heiligen Synods | 11030477 | 10988142 |
4) Ministerium des kaiserl. Hofs | 10560000 | 10560000 |
5) Ministerium der auswärtigen Angelegenheiten | 4545438 | 4338408 |
6) Kriegsministerium | 208412108 | 208466551 |
7) Marineministerium | 39594424 | 39247488 |
8) Finanzministerium | 109244340 | 104877745 |
9) Ministerium der Reichsdomänen | 22253897 | 22385121 |
10) Ministerium des Innern | 73448261 | 73874208 |
11) M. der Volksaufklärung | 21381405 | 20835314 |
12) M. der Wegeverbindungen | 28883707 | 25642189 |
13) Ministerium der Justiz | 21331022 | 20505817 |
14) Reichskontrolle | 3392107 | 3275583 |
15) Hauptverwaltung der Reichsgestüte | 1100460 | 1101764 |
16) Ausgaben für in den Etats nicht vorgesehene Extrabedürfnisse | 6000000 | 3000000 |
Gewöhnliche Ausgaben: | 851242423 | 829756400 |
II. Durchgehende Ausgaben | 2589587 | 3171078 |
III. Außerordentliche Ausgaben | 34250100 | 48414194 |
Ausgaben im ganzen: | 888082110 | 881341672 |
Heerwesen und Marine.
Die bewaffnete Landmacht umfaßt das stehende Heer mit der Reichswehr (Opoltschenie) und die Kosakenheere. Durch Gesetz vom 1. (13.) Jan. 1874 besteht die allgemeine Wehrpflicht ohne Loskauf und ohne Stellvertretung, ausgenommen das asiatische Rußland; seit 1887 ist ihr jedoch auch die russische Bevölkerung Sibiriens unterworfen. Die mohammedanischen Kaukasier sind gegen Zahlung einer Wehrsteuer von der persönlichen Dienstpflicht entbunden. Die Wehrpflicht währt vom vollendeten 20. bis 43. Lebensjahr.
Die Gesamtdienstzeit im stehenden Heer beträgt im europäischen Rußland 15, im asiatischen und bei den Seetruppen 10 Jahre, davon im aktiven Dienst 5, bei den Seetruppen 7 Jahre, in der Reserve 10, bez. 3 Jahre. Bei Nachweis eines gewissen Bildungsgrades tritt Verkürzung der Dienstzeit ein. Die Reserve dient zur Ergänzung der aktiven Armee auf Kriegsfuß. Eine Landwehr im deutschen Sinn besteht in Rußland nicht, denn die Opoltschenie, welche alle Dienstpflichtigen bis zum 43. Lebensjahr umfaßt, die sich freigelost oder aus dem stehenden Heer entlassen sind, entspricht mehr unserm Landsturm; ihre 4 ersten Jahrgänge, welche im Krieg ¶