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die Bauern aus eignem Antrieb begonnen, diese Übersiedelungen in Szene zu setzen. Namentlich aus den Gouvernements Tambow, Tula, Orel, Rjäsan, Tschernigow, Poltawa, Kursk, Perm, Twer und Woronesh wanderten sie aus nach Sibirien, den oben genannten Gouvernements, dem Kaukasus, dem Kuban etc.
Die Regierung thut in letzter Zeit viel, um den offenkundigen Schäden in der Landwirtschaft abzuhelfen. Sie veranstaltet landwirtschaftliche Ausstellungen, sucht die Kenntnis landwirtschaftlicher Maschinen zu verbreiten, um intensivern Bodenanbau zu ermöglichen, unternimmt Landeskulturarbeiten u. dgl. m. In letzterer Beziehung sind namentlich die Trockenlegungen von Sümpfen zu nennen, die 1875-82 im nördlichen Rußland, in den Gouvernements Nowgorod, St. Petersburg, [* 2] Jaroslaw, Olonez und Pskow, stattgefunden haben. An den Kosten dieser Unternehmungen beteiligen sich übrigens auch Landschaften und Private.
Vgl. Keußler, Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen Gemeindebesitzes in Rußland (Petersb. 1876-86, 3 Bde.).
Der Ackerbau nimmt unter den Beschäftigungen der Bewohner Rußlands die bedeutendste Stelle ein. Obschon sein Gebiet teils durch die Strenge des nördlichen Klimas, teils durch die Beschaffenheit des Bodens selbst beschränkt wird, so erstreckt es sich doch immerhin im westlichen Teil des Reichs durch 20 Breitengrade und liefert Getreide [* 3] über den eignen Bedarf. Die landwirtschaftlich benutzte Fläche wird auf 164 Mill. Hektar angegeben. Davon kommen auf das eigentliche Ackerland 104 Mill., auf Wiesen und Weiden 60 Mill. Das Brachland macht von ersterm 34 Mill. Hektar aus.
Wenn der Flächeninhalt des europäischen Rußland inkl. Polen (aber ohne Finnland) nach Abzug von Wasser und unbewohnten Inseln auf 480 Mill. Hektar angenommen wird, so entfallen auf die Brache 7 Proz., auf Wiese und Weide [* 4] 12, auf Ackerland 15, auf das Unland (Impedimente) 26, auf den Wald 40 Proz. Die Produkte des Ackerbaues sind weniger mannigfaltig, als die weite Erstreckung seines Gebiets erwarten lassen sollte; das kontinentale Klima [* 5] mit seiner Sommerwärme im N. und seiner Winterkälte im S. einerseits und die Abwesenheit von Gebirgen anderseits geben dem ganzen weiten Raum eine gewisse Gleichförmigkeit in Bezug auf die pflanzliche Produktion.
Die Haupterzeugnisse sind: Gerste, [* 6] Hafer, [* 7] Roggen und Weizen, denen sich in den südlichsten Strichen noch der Mais anschließt. Die getreidereichsten Gouvernements sind: Poltawa, Charkow, Kiew, [* 8] Tschernigow, Podolien, Wolhynien, Orel, Kursk, Woronesh, Tambow, Simbirsk, Saratow, Pensa, die Ostseeprovinzen und Bessarabien. Die Kartoffel wird besonders viel in Esthland [* 9] und Livland angebaut, wo die Kartoffelbranntwein-Brennerei sehr entwickelt ist. Die Getreideproduktion des europäischen Rußland (ohne Polen) zeigt in den letzten Jahren folgendes Bild. Der Reinertrag nach Abzug der Aussaat war in Millionen Hektoliter:
1883 | 1884 | 1885 | |
---|---|---|---|
bei Hafer | 141.9 | 120.9 | 81.2 |
" Roggen | 138.6 | 191.1 | 196.3 |
" Sommerweizen | 46.0 | 53.3 | 22.0 |
" Gerste | 34.1 | 36.1 | 24.6 |
" Buchweizen | 19.9 | 16.8 | 7.8 |
" Hirse | 16.6 | 15.1 | 7.1 |
" Winterweizen | 13.9 | 22.9 | 22.7 |
" Mais | 6.5 | 5.2 | 5.7 |
" Erbsen | 5.2 | 3.8 | 2.3 |
" Spelz | 3.4 | 2.9 | 1.9 |
" Kartoffeln | 70.4 | 81.5 | 60.6 |
Der gesamte Reinertrag an Getreide und Kartoffeln war demnach 1883: 495, 1884: 529, 1885: 435 Mill. hl. 1886 betrug die gesamte Ernte [* 10] an Wintergetreide 247 Mill. hl und blieb hinter dem Durchschnitt der letzten vier Jahre um 3,2 Mill. hl zurück;
dagegen zeigte die Produktion von Sommergetreide eine Steigerung um 29,4 Mill. hl. In hohem Grad bemerkenswert ist Rußlands Produktion an Flachs und Hanf.
Lein wird zur Deckung des Hausbedarfs wohl im ganzen Reich gesäet; als Handelspflanze dagegen wird er nur in ganz bestimmten Rayons gebaut, nämlich in den nordöstlichen Gouvernements Wologda, Wjatka, Perm, Kostroma, Wladimir, Nishnij Nowgorod und Kasan [* 11] sowie in den westlichen Gouvernements Pskow, Livland, Kurland, Kowno, Wilna, [* 12] Grodno, Minsk, Mohilew, Witebsk, Smolensk, Twer und Nowgorod. In den Gouvernements Charkow, Cherson und Poltawa wird Lein namentlich zur Samengewinnung gezogen.
Die Jahresproduktion des europäischen Rußland wird auf etwa 2 1/5 Mill. Doppelztr. Flachsfaser und über 4½ Mill. Doppelztr. Leinsaat geschätzt. Der Export von Flachs und Hede ist seit Anfang dieses Jahrhunderts sehr gestiegen und betrug 1887: 1,68 Mill. Doppelztr. (1886 nur 1,39 Mill.). An Leinsaat wurden 1887: 3 1/5 Mill. Doppelztr. für 26,8 Mill. Rub. (1886 nur für 14½ Mill. Rub.) exportiert.
Vgl. A. Blau, Die Flachsproduktion und der Flachshandel in Rußland 1888 (in russ. Sprache). [* 13]
Die jährliche Hanfproduktion im europäischen Rußland kann auf mindestens 2 ⅔ Mill. Doppelztr. angenommen werden, die Ausfuhr wertete im J. 1887: 20 Mill. Rub. Den Hanfbaurayon bilden hauptsächlich die Gouvernements Orel, Tschernigow, Kursk, Smolensk, Kaluga, Mohilew, Tula, Rjäsan, Tambow. Der Kultur von Baumwolle [* 14] begegnet man nur in den südlichen Grenzgebieten des Reichs, in Transkaukasien und Turkistan. Das Produkt steht dem amerikanischen im allgemeinen nach.
Eine große Bedeutung, hat für Rußland die Kultur der Zuckerrübe gewonnen, die erst seit Anfang dieses Jahrhunderts aufgekommen ist. Gegenwärtig wird die Zuckerrübe in 15 Gouvernements des europäischen Rußland und in 9 polnischen Gouvernements gebaut; das gesamte mit Rüben besäete Areal belief sich 1883 auf 297,000 Hektar. Das Zentrum dieser Kultur ist das Gouvernement Kiew. Der Gesamtertrag an Rüben betrug 1885: 55 Mill. Doppelztr., welches Quantum in 241 Fabriken (davon ca. 70 im Gouvernement Kiew) verarbeitet wurde. In der Kampagne 1885-86 wurden 3 ⅔ Mill. Doppelztr. weißer Rohzucker und 400,000 Doppelztr. Raffinade produziert.
Der Anbau von Tabak [* 15] hat in Rußland erst vor kurzem größere Verbreitung gefunden. 1885 zählte man 136,816 Tabakspflanzungen (abgesehen von 15,729 in Sibirien und im Kaukasus), welche 486,000 Doppelztr. Tabak ergaben. In besonderm Maß entwickelt ist der Tabaksbau in den kleinrussischen Gouvernements Tschernigow und Poltawa, wo namentlich die niedern Sorten gezogen werden (von denen die »Machorka« die geschätzteste ist), sodann in Bessarabien, welches die besten Tabaksorten, vornehmlich die türkischen, liefert. Die gesamte Tabaksfabrikation stellte sich 1886 auf 655,000 Doppelztr.; im Betrieb waren 370 Fabriken. Der Zoll auf importierten Tabak wurde 1877 von 4½ Rub. auf 44 Rub. pro Pud gesteigert. Das neue Accisegesetz vom welches in Kraft [* 16] trat, hat keine prinzipiellen Neuerungen, sondern nur eine andre Tarifierung gebracht, welche für die höhern Sorten Zigarren und Zigarretten eine Erniedrigung, für die ¶
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bessere Sorte Rauchtabak gleichgeblieben, für die niedern Sorten Rauchtabak dagegen eine Erhöhung ist.
Die Weinkultur wird im europäischen Rußland in den Gouvernements Bessarabien, Taurien, Astrachan und im Gebiet der Donischen Kosaken, namentlich aber im Kaukasus betrieben. 1870 (neuere Daten liegen nicht vor) wurde das Quantum des gewonnenen Rebensafts auf 1,8 Mill. hl geschätzt. Der Export von Wein ist gering (1887: 85,000 Rub.), während der Import die Höhe von 6,5 Mill. Rub. erreicht. Andre stark verbreitete Produkte des Pflanzenreichs sind: Kohl, Knoblauch, Gurken, Melonen, Arbusen, Erbsen, Bohnen, Linsen, Spargel, Artischocken, Senf (Sarepta), Waid, Dill, Anis, Kümmel, Mohn, Kürbisse, Rettiche, Rüben etc. Vorzügliche Wiesen und Heuschläge sind im äußersten Süden, in Kleinrußland und in den Ostseeprovinzen, wo der Anbau der Futterkräuter große Verbreitung hat.
Vgl. Jermolow, Mémoire sur la production agricole (Petersb. 1878);
Wilson, Agriculture et économie rurale en Russie (das. 1878).
Viehzucht.
Sehr groß ist Rußlands Reichtum an Haustieren, zu denen nicht nur Pferd, [* 18] Rind, [* 19] Schaf [* 20] etc., sondern auch Renntiere und Kamele [* 21] gehören. Nach dem »Statistischen Jahrbuch« belief sich 1883 die Zahl der Pferde [* 22] auf 17,880,792, der Rinder [* 23] auf 23,628,031, der gemeinen Schafe [* 24] auf 37,349,857, der feinwolligen auf 9,374,879, der Schweine [* 25] auf 9,361,980, der Ziegen auf 1 Mill. Stück. Die Zahlen beziehen sich auf das europäische Rußland ohne Polen und Finnland. Renntiere gibt es namentlich in den Kreisen Mesen und Kem des Gouvernements Archangel, wo 1878: 228,000 Stück gezählt wurden.
Kamele werden im europäischen Rußland in geringer Zahl von den krimschen Tataren und Nogaiern des Taurischen und Stawropolschen Gouvernements gehalten. Die Pferde konzentrieren sich hauptsächlich in den mittlern Nichtschwarzerde-, in den mittlern Schwarzerde- und den östlichen Wolgagouvernements, wo ihre Zahl 20-25 Proz. der Gesamtzahl aller Pferde des europäischen Rußland ausmacht. Im Verhältnis zur Bevölkerung [* 26] haben die östlichen Wolgagouvernements die meisten, nämlich 33,3 Pferde auf 100 Einw. Sehr viel geschieht für die Verbesserung der Pferdezucht [* 27] in den Gestüten, die sowohl von der Regierung als auch von Privaten gehalten werden. 1888 gab es 6 Krongestüte mit 2443 Pferden, unter welchen 81 Hengste.
Der Pferdehandel innerhalb des Reichs geht namentlich auf den Pferdejahrmärkten vor sich, deren in 471 Ortschaften 1090 jährlich abgehalten werden sollen. Die Gesamtsumme, für welche auf ihnen Pferde zum Verkauf gelangen, wird auf 10 Mill. Rub. geschätzt. Der Export bezifferte sich 1887 auf 20,600 Stück im Wert von 2,570,000 Rub. Das Rindvieh konzentriert sich ebenfalls in den mittlern Nichtschwarzerde-Gouvernements, welche 22 Proz. der Gesamtzahl beanspruchen. Im Verhältnis zur Bevölkerung nehmen die südlichen Steppengouvernements mit 61,2 Stück auf 100 Einw. die erste Stelle ein.
Der Export an lebendem Vieh betrug 1887: Ochsen und Kühe 43,700 Stück im Wert von 3,071,000 Rub., Kälber 1900 Stück im Wert von 11,000 Rub. Schafzucht wird namentlich in den Schwarzerde-Gouvernements betrieben, wo 70,6 Proz. aller Schafe nachgewiesen sind. Im Verhältnis zur Bevölkerung findet man die meisten (206 Stück auf 100 Einw.) in den südlichen Steppengouvernements. Der Export von Schafen war 1887: 252,600 Stück für 1,266,000 Rub. Die größte Zahl von Schweinen ist in den mittlern Schwarzerde-Gouvernements vorhanden, welche 29,4 Proz. der Gesamtzahl beanspruchen. Im Verhältnis zur Bevölkerung stehen jedoch die westlichen Gouvernements in ihrer Schweinezahl mit 22,5 Stück auf 100 Einw. obenan.
Die Ausfuhr belief sich 1887 auf 62,800 Stück für 1,619,000 Rub. Die Geflügelzucht ist am meisten entwickelt in den polnischen und westlichen Gouvernements. In Pskow, Nowgorod, Olonez, Wologda und Archangel züchtet man vornehmlich Wasservögel. Die Bienenzucht, [* 28] die früher stark entwickelt war, ist in manchen Gegenden sehr zurückgegangen, so namentlich in Kleinrußland, Podolien und in den nördlichen Teilen Neurußlands. Die Gartenbienenzucht ist in den mittlern und schwarzerdigen Gouvernements, besonders in Kleinrußland und Litauen, zu Hause.
In den Gouvernements Poltawa und Jekaterinoslaw zählt man 4-500,000 Bienenstöcke, in Bessarabien etwa 900,000, in Wolhynien 226,000, im Gebiet des Donischen Heers ca. 40,000. Die Waldbienenzucht herrscht noch in den weiten Waldungen an den Abhängen des Urals, in den nordöstlichen Gouvernements, in Kostroma, Kasan, Simbirsk, Nishnij Nowgorod, Samara und Ufa. In Sibirien ist die Bienenzucht auf dem Altai, im Kaukasus in Imerethi und Grusien am meisten verbreitet.
Der jährliche Ertrag an Honig im ganzen Reich wird auf 16 ⅓ Mill. kg geschätzt im Wert von 7-10 Mill. Rub., an Wachs auf 3-5 Mill. kg im Wert von 4-6 Mill. Rub. Der auswärtige Handel mit Produkten der Bienenzucht ist höchst unbedeutend, es werden jährlich für etwa 200,000 Rub. Wachs und Honig exportiert. Die Seidenraupenzucht gerät von Jahr zu Jahr mehr in Verfall, und die gesamte Produktion von Seide [* 29] beträgt nicht mehr als 164 kg jährlich. Von weit größerer Bedeutung ist sie in Transkaukasien und Turkistan, wo der Ertrag (mit Einschluß von Chiwa und Bochara) jährlich auf ⅔ Mill. kg Seide geschätzt wird. Trotzdem beträgt die Einfuhr von Seide (aus Italien, [* 30] Frankreich etc.) 1887: 7,7 Mill. Rub. Gegenstand der Viehzucht [* 31] ist auch im N. Rußlands noch das Renntier, im S. der Büffel und im Astrachanschen das Kamel.
Fischerei.
Rußlands Fischereien haben einen großen Aufschwung genommen, seit 1855 mit der Einführung der künstlichen Fischzucht begonnen wurde. Die Hauptanstalt ist die nach dem Muster der in Hüningen (Elsaß) bestehenden eingerichtete in Nikolskoje, einem Gut W. P. Wraßkys im Kreis [* 32] Demjansk des Gouvernements Nowgorod. Von hier aus beziehen die seit 1871 besonders von Privaten zahlreich angelegten Piscinen befruchteten Rogen und junge Fischchen. Die Meere bieten den Russen verhältnismäßig wenig wichtige Fische, [* 33] wohl aber sind die Binnengewässer und Flüsse [* 34] sehr reich.
Nur in den obern und stellenweise in den mittlern Läufen der Flüsse ist eine Abnahme dieses Fischreichtums bemerkbar; in den untern Läufen trifft man noch teilweise den ursprünglichen Reichtum, wie im Wolgadelta, dem Kur, den sibirischen Flüssen. Das ganze Bassin des Kaspischen Meers mit allen seinen Zuflüssen gibt gegenwärtig nach Professor O. Grimm weit über 4 Mill. Doppelzentner Fischware jährlich. Den Gesamtertrag der Fischerei [* 35] in den Gewässern des europäischen Rußland schätzt derselbe Gelehrte auf ca. 6½ Mill. Doppelzentner jährlich. Einer der hauptsächlichsten Märkte ist Zarizyn (s. d.). Unter den exportierten Fischereiprodukten steht der Kaviar obenan; 1887 gelangte Kaviar im Gesamtwert von 2 Mill. Rub. zur Ausfuhr. Der ganze Fischexport zeigt in den letzten zehn ¶