Mundart wird in ganz Südrußland gesprochen sowie in den daran angrenzenden Teilen Galiziens, wo sie Ruthenisch heißt, und
hat eine eigne Litteratur abgebildet (s. Kleinrussische Sprache und Litteratur). Die weißrussische Mundart, die in dem größten
Teil von Litauen und einem Teil von Weißrußland gesprochen wird, bildete sich vorzüglich seit der Vereinigung
Litauens mit Polen und enthält daher viele polnische Idiotismen. In ihr sind das litauische Statut, die Archive und alle litauischen
Aktenstücke verfaßt.
Wichtige neuere Werke über die schrieben: Sresnewskij (»Ideen zur Geschichte der russischen Sprache«, Petersb. 1850),
Lawrowskij
(»Über die Sprache der nordrussischen Chroniken«, das. 1852),
Buslajew (»Historische Grammatik der russischen
Sprache«, 5. Aufl., Mosk. 1875, und »Über
den Unterricht in der vaterländischen Sprache«, 2. Aufl., das. 1867),
Kolossow (»Abriß einer Geschichte der Laute und Formen
der russischen Sprache vom 11. bis 16. Jahrhundert«, Warsch. 1872); vgl. ferner die Schriften von Potebuja ^[richtig: Potebnja],
Grot (»Philologische Forschungen«),
Nekrassow (über das russische Verbum) etc. Brauchbare Grammatiken für
Deutsche sind die von Alexejew (Petersb. 1872-76), Joel und Fuchs (6. Aufl., Frankf. 1881), kürzere von Pihlemann (9. Aufl.,
Reval 1885),
Golotusow (21. Aufl., das. 1888), Boltz (5. Aufl., Berl. 1884), Serno und Solowjewitsch (6. Aufl.,
Reval 1880), Mieskowski (Petersb. 1887) u. a.
Von Wörterbüchern sind außer Beryndas »Lexicon slaveno-russicum« (Kiew 1627, 2. Aufl. 1655) und Alexejews »Lexikon für
das Kirchenslawische« (Petersb. 1773) das von der Akademie (neue Ausg., das. 1843, 4 Bde.)
herausgegebene und das »Erklärende Wörterbuch der lebenden großrussischen Sprache« (2. Ausg., Mosk. 1882) von W. Dahl hervorzuheben,
das auch die Provinzialidiome berücksichtigt.
Russisch deutsche Wörterbücher lieferten: Heym (neue Aufl., Leipz.
1835), Schmidt (das. 1815, zuletzt 1884), Oldekop (Petersb. 1825, 4 Bde.),
Sokolow (das. 1834), Reiff (2. Aufl., das.
1875), Pawlowski (3. Aufl., Riga 1886), Lenström (Sondersh. 1886), Booch, Frey u. Messer (4. Aufl., Leipz. 1886, 2 Bde.),
Zelechowski (Lemb. 1886, 2 Bde.),
Nädler (Petersb. 1885 ff.), ein Konversations-Wörterbuch K. v. Jürgens (in »Meyers Sprachführern«, Leipz. 1888). Ein vorzügliches
etymologisch-russisches Wörterbuch ist das (russisch-französische) von Reiff (Petersb. 1806, 2 Bde.).
Vgl. auch Böhtlingk, Beiträge zur russischen Grammatik (in den »Bulletins« der Petersburger Akademie, Bd. 8).
ein Kaisertum, das den ganzen Osten Europas, dazu den Norden und
einen Teil der Mitte Asiens einnimmt, d. h. ein Sechstel alles festen Bodens auf der Erde, reicht von 17° 50' (Westende Polens)
bis zu 90° 16' östl. L. v. Gr. (Beringsstraße) und von 37° 10' (Oase Merw) bis zu 78° 4' nördl. Br.
(Kap Tscheljuskin im Eismeer). Gegen N. wird das russische Reich vom Nördlichen Eismeer begrenzt, im W. von Norwegen, Schweden,
der Ostsee, Deutschland, Österreich und Rumänien, im S. vom Schwarzen Meer, dem türkischen Armenien, von Persien, dem Kaspischen
Meer, den freien Chanaten Turans und den nördlichen Teilen des chinesischen Reichs, im O. vom Großen Ozean.
Das europäische Rußland nebst Polen und Finnland (wovon im folgenden ausschließlich die Rede ist) nimmt den ganzen Osten Europas
ein und dehnt sich als zusammenhängende Masse des osteuropäischen Tieflandes von 44° 28' nördl. Br. (Balaklawa auf
der Halbinsel Krim) bis 70° oder mit Einschluß der Insel Nowaja Semlja bis 76° nördl. Br. aus, d. h. vom Südufer der Krim
bis zum Karischen Meer
etwa 3153 km; die Ausdehnung vom Westende Polens unter 17° 50' bis zu 62° östl. L. v. Gr.,
dem Ural, beträgt gegen 2968 km.
Übersicht des Inhalts:
Seite
Grenzen, Meere u. Inseln
59
Physische Beschaffenheit
60
Geologisches
60
Gewässer
61
Klima
61
Areal und Bevölkerung
62
Nationalitäten
64
Religionsbekenntnisse
65
Stände
66
Bildung und Unterricht
66
Landwirtschaft
68
Viehzucht
71
Fischerei
71
Forstwirtschaft
72
Bergbau und Hüttenwesen
72
Industrie
73
Handel und Verkehr
74
Staatsverf. u. Verwaltung
76
Rechtspflege
77
Finanzen
78
Heerwesen und Marine
78
Wappen, Flagge, Orden
80
Geographische Litteratur
81
Geschichte
81
Grenzen, Meere und Inseln.
Im N. grenzt Rußland an das Nördliche Eismeer, dessen einzelne Hauptteile das Karische Meer, die Tscheskajabai und das Weiße Meer
sind. Das letztere schneidet im W. mit der Bai Kandalakskaja und im O. mit den großen Mündungsbusen
der Flüsse Onega, Dwina und Mesen am tiefsten in die Nordküste Rußlands ein, ist aber der Schiffahrt wenig günstig, da es bis
zum Juni gefroren ist. Im W. bilden zunächst der Tana-Elf und Torneå-Elf die Grenze gegen Norwegen und Schweden,
mit welchen Ländern Rußland durch einen breiten Isthmus im NW. zusammenhängt.
Dann folgt die Ostsee mit dem Bottnischen, Finnischen und Rigaer Meerbusen, von welchen die beiden ersten jeden Winter zufrieren,
so daß die bottnischen Eismassen bisweilen im Mai noch in das Hauptbecken der Ostsee hineintreiben. Der Finnische Meerbusen
beginnt unter dem Meridian von Kap Hangöudd und wird nach O. hin flacher. Der Rigaer Meerbusen ist durch
den Mohnsund zwischen dem Festland und der Insel Mohn mit dem Finnischen Meerbusen verbunden. Der Kleine Sund trennt die Inseln Mohn
und Ösel.
Der Söälasund zwischen Ösel und der Insel Dagö führt in die Ostsee. Bei Polangen, nördlich vom Kurischen
Haff, verläßt Rußlands Westgrenze die Ostsee, und es treten gegen Ost- und Westpreußen, Posen und Schlesien keine bemerkenswerten
Naturgrenzen auf. Von Galizien wird Rußland streckenweise durch die Weichsel, den Podhorce und Dnjestr, von Rumänien auf einer
Strecke durch den Pruth geschieden. Die Südgrenze bildet das fast insellose Schwarze Meer.
Seine Küsten sind einförmig gestaltet, nur im N. bringt die Halbinsel Krim oder Taurien einige Gliederung hervor. Östlich von
ihr liegt das Asowsche Meer und westlich der Busen von Odessa mit dem Dnjepr- und Bug-Liman. Die seichten, sumpfigen Teile dieser
Meeresglieder zu beiden Seiten der Landenge von Perekop führen die charakterisierenden Namen, östlich:
Faules Meer, westlich: Totes Meer. Aus dem Asowschen Meer führt die Straße von Kertsch-Jenikale in das Schwarze Meer. Weiterhin
bilden die Flüsse Kugu Jeja und Manytsch die Grenze gegen Ciskaukasien, zuletzt das Kaspische Meer, der größte aller Steppenseen
der Erde. Die Ostgrenze des europäischen Rußland geht vom Kaspischen Meer im W. des Uralflusses zum Obschtschij Syrt
und greift über das Uralgebirge bis zum Tobol hinüber; erst nördlich vom 60.° nördl. Br. folgt sie jenem Gebirge bis zum
Karischen Meer.
mehr
Physische Beschaffenheit.
Zwischen der Ostsee und dem Ural, zwischen dem Schwarzen und dem Nördlichen Eismeer liegt das große russische Tiefland (früher
sarmatisches, richtiger osteuropäisches Tiefland genannt), das vorzeiten unzweifelhaft Meeresboden gewesen, erst durch allmähliche
Hebung trocken gelegt worden ist und im W. mit der germanischen, im SO. durch das große
uralische Völkerthor mit der sibirisch-turauischen Tiefebene in Verbindung steht. Nur an den äußersten Ost und Südgrenzen
dieses Flachlandes erheben sich Gebirge, der Ural und das Taurische Gebirge.
Der Ural (s. d.) ist ein wenig gegliedertes, einförmiges Kettengebirge, auf
dessen Rücken die Gipfel sich verhältnismäßig nur wenig über das allgemeine Niveau erheben. Der südliche
der waldreiche Ural erreicht bei einer Kammhöhe von 200-300 m im Irémel 1536 m, der mittlere oder erzreiche bei einer Kammhöhe
von 400-500 m im Kondschakowsky 1560 m und im Deneschkin 1633 m, der nördliche oder wüste Ural im Töllpos (unter 64° nördl.
Br.) 1687 m Höhe. Nach W. hin fällt der Zug
sehr allmählich zu den vorliegenden niedrigen Hügelketten ab,
und der Rücken des Gebirges ist im allgemeinen so abgerundet, daß man oft Mühe hat, die wasserscheidende Linie zu erkennen.
Nach der asiatischen Seite hin ist freilich der Abhang steiler; hier erscheint das Gebirge zerklüfteter. Trotz seiner
leichten Übersteigbarkeit bildet der Ural dennoch die wahre Naturscheide der beiden Erdteile. Bis zum westlichen, europäischen
Abhang dringen die Laubwälder Rußlands vor, überschreiten aber nicht das Gebirge, an dessen Ostfuß die unermeßlichen
Tannenwälder und weiter südlich die Steppenlandschaften Sibiriens beginnen. Der Obschtschij Syrt (s. d.), westlich vom Ural
bis zur Wolga hinstreichend, ist kein Zweig des Urals, sondern ein im W. nur 100 m, im O. höchstens 500 m
über die benachbarten Steppen sich erhebender Landrücken.
Das Taurische Gebirge (s. d.) erhebt sich am Südrand der Halbinsel Krim. An dem ziemlich steilen Südabhang gedeihen vortreffliche
Weinreben und eine subtropische Vegetation, der Nordabhang senkt sich zu einer wasserarmen Steppe hinab.
In dem ganzen ungeheuern Flachland Rußlands, das eine mittlere Erhebung von 100-160 m hat, findet sich sonst nirgends ein Gebirge;
aber die Einförmigkeit desselben wird durch niedrige Plateaus und dammartige Bodenanschwellungen unterbrochen:
1) Das Timangebirge, ein aus Schiefer bestehender Bergrücken, zieht sich vom Ural nach NW. zwischen Petschora
und Mesen hin und steigt im Sawsar bis zu 276 m an.
2) Der nordrussische Landrücken, in seinem östlichen Teil Uwalli genannt, durchzieht, wenig über 200 m hoch, den
Süden des Gouvernements Wologda und bildet die Wasserscheide zwischen Dwina und Wolga.
3) Die finnische Seenplatte (s. Finnland, S. 280). 4) Das Plateau von Zentralrußland, das im N. bei der
Waldaihöhe (in der Popowa Gora 351 m hoch) beginnt und sich südwärts über ein Gebiet von 800,000 qkm bis zum mittlern
Don, im W. bis zur Wolga erstreckt. Hier entspringen Dnjepr mit Desna, Don und Oka. Auf dem rechten Ufer der
Wolga hebt sich das Plateau zu einer Hügelkette, die sich von Nishnij Nowgorod bis zum Knie des Don verfolgen läßt, im südlichen
Teil bis über 300 m ansteigt und schließlich als Ergenihügel in die Ponto-Kaspische Niederung ausläuft.
5) Die Plateaus von Wolhynien und Podolien, deren Grundlage Granit bildet, führen zu den Karpathen über
und erheben sich bei Kremenez zu
405 m, in der Lyssa Gora bei Kjelzy sogar zu 611 m Höhe.
6) Jenseit der Rokitnosümpfe streicht der westrussische Landrücken oder litauische Höhenzug als Wasserscheide zwischen
Niemen und Dnjepr, bis 341 m hoch.
7) Die Baltischen Höhen ziehen sich zwischen Niemen und Peipussee um den Rigaer Meerbusen herum und steigen
zu 100 m an. - Im ganzen sind etwa 991,000 qkm (18,000 QM.) des europäischen Rußland unfruchtbare
Ebenen, im N. Tundren, im S. Steppen. An der Petschora und überhaupt in den nordöstlichen Teilen ist das
Gouvernement Archangel mit Tundren bedeckt, d. h. sumpfigen Moorflächen, welche mit einem dichten Filz von Moosen und Flechten
überzogen, den größten Teil des Jahrs aber zugefroren sind.
Sie werden selbst im Sommer, wo die Oberfläche kaum einen Fuß tief auftaut, mit Schlitten befahren, die von dem nie auftauenden
Grundeis getragen werden. Der Süden Rußlands von Bessarabien bis in die südliche Ukraine, bis in die Gouvernements
Tambow und Woronesh und über die Wolga hinaus bis zum Uralfluß und dem Manytsch ist ein weites Steppenland. Nachdem der Schnee
im Frühling geschmolzen, verwandelt sich das ganze Gebiet der pontischen Steppen in einen schwarzen, schlammigen
Brei, der sich nachher mit Gras und Blumen bedeckt. Im Sommer wird die Steppe braun und schwarz und der Boden klafft überall
auf. Sobald die Herbstregen Labung schaffen, bedeckt sich die Steppe nochmals mit frischem Grün. Charakteristisch ist der gänzliche
Mangel an Waldung. Roggen und Weizen, Melonen und Arbusen gedeihen in der fruchtbaren Dammerde vortrefflich;
aber die Ernten leiden nicht selten durch anhaltende Dürre und Heuschreckenschwärme.
Geologisches.
Im europäischen Rußland herrscht im allgemeinen eine sehr große Einförmigkeit der Bodenbildung, und die einzelnen Formationsglieder
bedecken oft Tausende von Kilometern. Die Einförmigkeit wird noch dadurch vermehrt, daß auch die einzelnen Schichtenkomplexe
der verschiedenen Formationen sehr gleichförmige Zusammensetzung haben. Eine Fahrt auf der Wolga bringt
diese Verhältnisse zur gründlichsten Anschauung, indem dieselbe Gesteinsart oft Hunderte von Kilometern den Reisenden begleitet.
Das ganze europäische Rußland ist in seiner kolossalen Ausdehnung bis zum Fuß des Urals nur mit Alluvial- und Diluvialformationen
bedeckt. Mit Ausschluß der Triasschichten, die nur an einigen Stellen, meistens als bunter Mergel, hervortreten,
sind diese Formationen in der ganzen russischen Ebene reich an Versteinerungen, zumal in den Flußthälern, und da Verschiebungen,
wie im gebirgigen Westen Europas, im ebenen Rußland nicht vorkommen, so sind die verschiedenen Arten der antidiluvianischen
Flora und Fauna in großer Zahl und vollkommener als in Deutschland vertreten. Am genauesten aber sind bisher
in Rußland die baltischen silurischen Schichten, die devonischen in Livland und die Juraformation um Moskau durchforscht.
Die ältesten Sedimentärformationen enthält Finnland, wo die Eruptivgesteine nach ihrem Alter folgende Gruppen bilden:
1) Gneisgranit;
2) Granitporphyr, Syenitgranit, Diorit;
3) Gabbro und Hippurit. Kristallinische Gesteine ziehen sich auch durch das Gouvernement Olonez, und das laurentische
und huronische System reichen nordöstlich bis in den hohen Norden. Laurentische Gneise bilden eine Zentralachse des Timangebirges,
das aus devonischer und Steinkohlenformation besteht. Die Silurformation ist in den
mehr
Ostseeprovinzen, besonders in Esthland, welches fast alle Tiere des silurischen Systems enthält, aber auch im Dnjeprgebiet
und in Podolien vertreten; devonische Schichten finden sich in Livland, Großrußland (Woronesh und anderwärts); Steinkohlenablagerungen
hauptsächlich am Donez und im Moskauischen, mit Fortsetzungen nach Nishnij Nowgorod und Pensa. Die kristallinischen Gesteine
der Krim kommen hauptsächlich im Kontakt mit Jurabildungen vor, und die meisten Gesteinsarten der krimschen
Berge sind den Trachytgesteinen zuzuzählen.
Die Grenze zwischen Kreide und Jura geht unterhalb der Stadt Simbirsk nach W., der Kalkstein in Neurußland geht nach N. unter
der Breite von Balta in Sand und Sandsteine über. In der nördlichen Hälfte Rußlands herrschen der Hauptsache
nach Lehm und Sand vor. In Bezug auf Konfiguration der Oberfläche und auf Bodenbeschaffenheit hat Nordrußland manche Ähnlichkeit
mit Norddeutschland, doch fehlt ihm der Diluvialmergel. Der Lehm und der sandige Lehm bedecken oft die ältern Formationsglieder
in solcher Mächtigkeit, daß auf weiten Räumen, selbst an den Ufern der Flüsse, keins derselben zum Vorschein
kommt.
Unter dem Lehm und Sande des Gouvernements Moskau befinden sich als Untergrund Gesteine der Kreideformation, der Juraformation und
des Bergkalks. Dieser letztere bildet das eigentliche feste Fundament der verschiedenen darüberliegenden Schichten, und derselbe
ist vielfach durch die Nebenflüsse der Oka und Moßkwa wie auch durch letztere selbst bloßgelegt. Juraschichten
dehnen sich bis an die Petschora und bis ins Gouvernement Samara aus. Im mittlern und südlichen Rußland sind 950,000 qkm in 22 Gouvernements
mit Schwarzerde (tschernosjom) bedeckt; Westeuropa hat nichts Ähnliches aufzuweisen.
Der Tschernosjom ist kein Meeresschlamm, der mit nördlichen Meeresströmungen oder durch Zurückweichen
der kaspisch-pontischen Gewässer sich abgelagert hätte, weil in demselben keine Spur von Seemuscheln, mikroskopischen Polythalamien,
Polycistinien und Seebacillarien vorkommt. Alle Untersuchungen weisen aber darauf hin, daß der Tschernosjom nicht aus Torf
entstanden ist, sondern lediglich aus dem Rasenboden besteht, dessen Grasteile an der Luft verwest und mit dem
Wasser des aufgetauten Schnees vom ursprünglich unorganischen Boden aufgesogen worden sind.
Die nördliche Grenze des Tschernosjom wird durch eine sehr gewundene Linie bezeichnet, die über Shitomir, Tula, Rjashsk und
Simbirsk zur Wolga führt und weiter in nordöstlicher Richtung als größere und kleinere Schwarzerdinseln bis zum Ural geht.
In den nördlichen Teilen hat der Tschernosjom nur 1 m Dicke, während seine südlichern Schichten 5-6 m und
darüber haben. Im SW. dehnt sich der Tschernosjom von Shitomir bis Kischinew aus, nimmt gegen O. an Breite zu und hat zwischen
Tula und Nowo Tscherkask und bis zum Manytsch hin seine größte Ausdehnung von N. nach S.
Gewässer.
Das ausgedehnte Wassernetz Rußlands gehört zwei Gebieten an und hat zur Hauptabdachung eine nordwestliche, in der die Flüsse
vorwiegend zur Ostsee und zum Eismeer strömen, und eine südöstliche zum Schwarzen und Kaspischen Meer. Die Wasserscheide bilden
der Nordrussische Landrücken, die Waldaihöhe und der Westrussische Landrücken. Nach dem Schmelzen des
Schnees im Frühling und durch die häufigen Regen im Herbst ist in diesen zwei Jahreszeiten die Wasserfülle bedeutend, während
im Sommer der Wasserstand sämtlicher russischer Flüsse sehr niedrig ist, wodurch in der warmen Jahreszeit die Schiffahrt beeinträchtigt
wird.
Und dies geschieht noch mehr in den langen Wintern, in denen eine feste Eisdecke auf den Gewässern liegt.
Nach den fünf Meeren, die Rußland begrenzen, und den Flüssen, die in dieselben münden, und durch welche das Reich mit allen
übrigen Staaten in direktem Schiffsverkehr steht, kann das Reich in fünf Wassersysteme geteilt werden. Zum System des Baltischen
Meers gehören die Weichsel, die Warthe, der Niemen, die Windau, Düna, Kurische Aa, Livländische Aa, Salis, Torgel
(Pernau), Narowa, Luga, Newa, der Kymmene, Uleå und Torneå.
Das System des Nördlichen Eismeers und Weißen Meers hat die Kola, die Kem, den Wygh, die Onega, Dwina, den Mesen, die Petschora.
Zum System des Schwarzen Meers werden gerechnet der Dnjepr, Bug und Dnjestr. Das System des Kaspischen Meers hat
die Wolga und den Ural, das des Asowschen Meers den Don. Nach Ausschluß aller Flüsse, auf denen nur geflößt wird, sowie der
entsprechenden Teile der schiffbaren Flüsse beträgt die Länge sämtlicher Wasserstraßen im Innern des Reichs
34,557 km. Davon kommen auf die Wassersysteme:
Nördliches Eismeer u. Weißes Meer
4964
km oder
14.4
Proz.
Kaspisches Meer
14257
" "
41.4
"
Asowsches Meer
3421
" "
9.7
"
Schwarzes Meer
6104
" "
17.7
"
Baltisches Meer
5198
" "
15.0
"
Verschiedene Verbindungssysteme
613
" "
1.8
"
Man kann im Verhältnis zum Flächenraum des europäischen Rußland 1 km der schiffbaren Wasserstraßen auf 145 qkm rechnen.
Rußland hat die größten Landseen Europas. Die ansehnlichsten sind: der Ladogasee, der Onegasee, der Peipussee und der Ilmensee
(s. d.). Kleinere bemerkenswerte Binnengewässer sind: der Bjelo Osero, der Jelton, Imandra, Kereti, Kowd
Osero, Kubinskoje, Kunto, Not Osero, Pjaw Osero, Seg Osero, Seliger, Wirzjärw, Woshe, Wyg Osero.
Vgl. Stuckenberg, Hydrographie
des russischen Reichs (Petersb. 1842-49, 6 Bde.).
Klima.
Das europäische Rußland bietet bei seiner Ausdehnung durch mehr als 25 Breitengrade natürlicherweise große Verschiedenheit
in seinen klimatischen Verhältnissen, und in der That ist die mittlere Sommerwärme an der Karischen
Pforte (+2° C.) geringer als in Sebastopol die mittlere Winterwärme (+2,2°). Aber die Übergänge sind überall allmählich
und unmerklich, weil die im Tiefland vorhandenen Bodenerhebungen zu niedrig sind, als daß sie eine plötzliche Abstufung
des Klimas bewirken könnten.
Das Klima Rußlands ist kontinental und bietet also bedeutende Unterschiede zwischen der Sommer- und Wintertemperatur
dar; diese Gegensätze werden um so bedeutender, je mehr man sich nach O. hin dem asiatischen Festland nähert. Rußland besitzt
im allgemeinen geringere Jahrestemperatur als das westliche Europa unter gleichen Breitengraden; so hat z. B. Charkow unter
50° nördl. Br. +6,6° mittlere Jahrestemperatur, während Mainz unter demselben Breitengrad +9,6° C.
hat, ferner Jekaterinoslaw +8,1° und Wien 10° C. (beide Städte unter 48 nördl. Br.). In dem großen russischen Flachland findet
in der Richtung von W. nach O. hin unter denselben Breitengraden auch eine merkliche Abnahme der mittlern Jahrestemperatur
statt. Die drei Städte Mitau, Wladimir und Jekaterinenburg z. B. liegen alle unter 56½° nördl. Br., haben
aber +6,1,° resp. +3,6° und +0,5°
C. Temperatur. Wie sehr die Isothermen
mehr
in südöstlicher Richtung hinabsinken, beweisen die +5,6° mittlere Jahrestemperatur habenden Städte: Reval, Smolensk, Orel,
Woronesh u. Kamyschin an der Wolga. Die mittlere Jahrestemperatur beträgt für:
Nördl. Breite
Grade Cels.
Nowaja Semlja
73° 19'
-9.5
Archangel
6432
+0.7
Abo
6027
+4.6
Helsingfors
6010
+3.7
Petersburg
5956
+3.7
Reval
5926
+5.6
Dorpat
58° 23'
+4.5
Moskau
5515
+4.2
Warschau
5213
+7.4
Poltawa
4935
+6.1
Nikolajew
4658
+9.6
Cherson
4638
+9.5
Sewastopol
4436
+11.6
In Bezug auf Klima und Verteilung der Pflanzen unterscheidet man im russischen Reich sieben Zonen, deren Grenzlinien aber nicht
mit den Parallelkreisen zusammenfallen, sondern, den Isothermen folgend, von NW. nach SO. hinabsinken.
1) Die Zone des Eises, welche den nördlichen Teil von Nowaja Semlja umfaßt, und wo Walrosse, Seehunde, Eisbären und Polarfüchse
ihren Aufenthalt haben.
2) Die Sumpfzone oder die Zone des Renntiermooses, welche den nordöstlichen Teil des Gouvernements Archangel einnimmt und mit
Tundren bedeckt ist, wo Renntiere, Hunde, Pelztiere vorkommen und wilde Gänse während des Sommers in ungeheurer
Anzahl nisten.
3) Die Zone der beginnenden Wälder, welche die Südhälfte der Halbinsel Kola und einen Teil des Petschoragebiets umfaßt; Weißtannen
und Lärchen nehmen hier allmählich Baumform an und bilden Wälder, worin sich viele Eichhörnchen finden.
4) Die Zone des beginnenden Ackerbaues oder der Gerste reicht etwa bis zum 63.° und hat ungeheure Wälder
von Nadelholz und Birken.
5) Die Zone des beständigen Ackerbaues oder des Roggens und Flachses, zugleich die Gegend großen Gewerbfleißes. Diesem Erdstrich
gehört nicht nur ein sehr bedeutender Teil Rußlands, sondern auch der Hauptreichtum des Landes an. Er
reicht südwärts bis zum 51.° nördl. Br., also etwa bis Saratow und Tschernigow, und umfaßt auch die baltischen Provinzen.
Ackerbau ist die Hauptbeschäftigung und in den weniger fruchtbaren Strichen, nördlich von der Oka und Wolga, Gewerbthätigkeit
neben Ackerbau und Küchengärtnerei. Für den Obstbau ist diese Zone im ganzen noch wenig geeignet, aber
ausgezeichnet schön sind die Laubwälder. Von wilden Tieren weist dieser Erdstrich zwei Arten auf, die anderwärts nicht mehr
zu finden sind, nämlich den Auerochsen im Wald von Bialowicza und das Elentier in den Wäldern Litauens und der Ostseeprovinzen.
6) Die Zone des Weizens, Tabaks und der Baumfrüchte. Sie nimmt den südlichen Landrücken ein und reicht
im O. über denselben weg bis ins kaspische Steppenland, das stark mit Salz gesättigt und reich an Salzseen ist. Diese Zone
ist die eigentliche Kornkammer des Reichs und hat Humusboden, jene eigentümliche Schwarzerde, die an manchen Stellen in einer
Mächtigkeit von 5 m tief liegt und keiner Düngung bedarf. Sie erstreckt sich durch Bessarabien (zum Teil),
Podolien, Wolhynien (zum Teil), Kiew, Poltawa, Tschernigow, Charkow, Kursk, Woronesh (mit Ausnahme des südlichen Teils, der Steppe
ist), Tambow, Pensa und Simbirsk, zum Teil auch durch Saratow und Samara.
7) Die Zone des Maises und Weinstocks umfaßt das Gebiet der pontischen Steppen, in denen sehr geringe Bewässerung
und kein Wald ist. Den Hauptnahrungszweig bilden die Pferde- und Schafzucht.
Areal und Bevölkerung. I. Europäisches Rußland (mit Polen). Areal nach Strelbitsky.
Gouvernements
QKilom.
QMeil.
Einwohn. (1885)
A. Großrußland:
1) Moskau
33302
604.81
2183579
2) Nowgorod
122337
2221.77
1194078
3) Pskow
44208
802.87
948080
4) Twer
65330
1186.46
1681790
5) Jaroslaw
35613
646.76
1019971
6) Kostroma
84695
1538.15
1315484
7) Wladimir
48856
887.27
1376042
8) Nishnij Nowgorod
51272
931.16
1469447
9) Rjäsan
42098
764.55
1783958
10) Tula
30959
562.25
1409432
11) Kaluga
30929
561.70
1173867
12) Smolensk
56041
1017.77
1278117
13) Orel
46726
848.59
1963706
14) Kursk
46454
843.68
2266573
15) Woronesh
65894
1196.70
2538719
16) Tambow
66587
1209.28
2607881
17) Pensa
38840
705.37
1471391
18) Wologda
402725
7313.91
1198602
19) Olonez
148761
2701.65
333405
20) Archangel
858560
15592.34
315730
B. Kleinrußland (Ukraine):
21) Kiew
50998
926.18
2847607
22) Tschernigow
52402
951.68
2075867
23) Poltawa
49895
906.15
2653189
24) Charkow
54494
989.67
2253873
C. Ostrußland:
25) Perm
332054
6030.46
2649573
26) Orenburg
191176
3471.95
1244778
27) Ufa
122016
2215.93
1874154
28) Wjatka
153106
2780.58
2859004
29) Kasan
63715
1157.13
2066446
30) Simbirsk
49494
898.86
1527762
31) Saratow
84492
1534.47
2222000
32) Samara
151043
2743.08
2412887
33) Astrachan
236527
4295.58
802896
34) Donisches Kosakengebiet
160352
2910.80
1590906
D. Süd- oder Neurußland:
35) Jekaterinoslaw
67719
1229.85
1792831
36) Taurien
63553
1154.19
1060004
37) Cherson
71282
1294.56
2026853
38) Bessarabien
45631
828.70
1526462
E. West- oder Weißrußland:
39) Podolien
42018
763.09
2364869
40) Wolhynien
71851
1304.89
2196049
41) Minsk
91406
1660.03
1616579
42) Mohilew
48046
872.56
1233918
43) Witebsk
45166
820.27
1235350
44) Kowno
40640
738.06
1503562
45) Wilna
42529
772.36
1272885
46) Grodno
38668
702.27
1321157
F. Ostseeprovinzen nebst Ingermanland:
47) St. Petersburg (Ingermanland)
53767
976.49
1646057
48) Esthland
20247
367.71
387085
49) Livland
47028
854.15
1207887
50) Kurland
27285
495.54
662843
G. Polen:
51) Kalisch
11373
206.55
806408
52) Kjelzy
10092
183.29
661267
53) Lublin
16832
305.68
931597
54) Lomsha
12087
219.51
592990
55) Petrokow
12249
222.45
1061101
56) Plozk
10888
197.55
571656
57) Radom
12352
224.33
680303
58) Sjedletz
14334
260.32
652986
59) Suwalki
12551
227.93
624579
60) Warschau
14562
264.46
1377417
Zusammen:
5016024
91096.27
89685489
mehr
II. Von dem Areal und der Bevölkerung des gesamten russischen Reichs ergibt sich (1885) folgendes Bild:
QKilometer
Einwohner
auf 1 QKilom.
1) Europäisches Rußland (ohne Polen)
4888714
81725185
17
2) Königreich Polen
127311
7960304
62
3) Finnland (1886)
373604
2232378
7
4) Asowsches Meer
37496
-
-
Rußland in Europa:
5427124
91917867
17
5) Kaukasus
463155
7284547
16
6) Transkaspisches Gebiet
550629
301476
0.5
7) Sibirien
12456770
4313680
0.3
8) Zentralasien
2883107
5025622
1.7
9) Aralsee
66998
-
-
10) Kaspisches Meer
439418
-
-
Rußland in Asien:
16860077
16925325
1.0
Das russische Reich:
22287201
108843192
4.9
Offiziell wird neuerdings das Areal des europäischen Rußland (inkl. Polen) auf 4,953,345 qkm angegeben,
wodurch die Ziffer für Rußland in Europa aus 5,364,445 qkm und für das gesamte russische Reich auf 22224,522 qkm (403,620
QM.) sinken würde. Rußlands Gebiet hat sich seit Iwan III. (gest. 1505) verzehnfacht; um die Mitte des 16. Jahrh.
umfaßte es schon 12,4 Mill. qkm, beim Tod Katharinas II. (1796) 19,4 Mill. und beim Tod Alexanders I. (1825) 20,2 Mill. qkm.
Eine Übersicht des gesamten russischen Reichs in Europa und Asien s. auf der Geschichtskarte (S. 81).
In historischer Hinsicht zerfällt das europäische Rußland in drei Reiche: das eigentliche Kaiserreich
Rußland, das Königreich Polen und das Großfürstentum Finnland, oder in acht Landschaften: Großrußland (das eigentliche Stamm-
und Zentralland, vom Weißen Meer bis zur Ukraine reichend), Kleinrußland, Ostrußland, Süd- oder Neurußland, West- oder Weißrußland,
die Ostseeprovinzen, Polen und Finnland. Für die höhere Verwaltung ist das Reich, abgesehen von Finnland
(s. d.), das 8 Gouvernements umfaßt, in 60 Gouvernements eingeteilt, welche meistens nach den Hauptstädten, in geringer Zahl
nur mit alten Volks- oder politischen Namen benannt werden. Eine statistische Übersicht dieser Gouvernements enthält nebenstehende
Tabelle.
Rußlands Bevölkerung wird durch Aus- und Einwanderung nicht erheblich beeinflußt. Am lebhaftesten ist noch der Austausch
mit Deutschland gewesen, der jedoch ein für Rußland günstiges Resultat aufweist. Denn die Einwanderung aus Deutschland belief
sich im Zeitraum 1830-82 auf 7,2 Mill. Personen, die Auswanderung auf 6,4 Mill. Personen, was einen Überschuß von ca. 800,000
Seelen zu gunsten Rußlands ergibt. Im allgemeinen berechnete man die Mehrauswanderung russischer Unterthanen
in den letzten Jahrzehnten auf jährlich 25,000 Personen, von denen sich jedoch nur ein kleiner Teil nach den Vereinigten Staaten
von Nordamerika wandte.
Erst in den letzten Jahren ist die Auswanderung dorthin bedeutend gestiegen; sie belief sich 1886 auf 33,216 Personen, während
sie im Zeitraum 1821-85 nur 150,099 Personen betragen hatte. Die Dichtigkeit der Bevölkerung in Rußland
(inkl. Polen) stellt sich zu 17 Seelen auf 1 qkm, von welchem Durchschnitt jedoch die einzelnen Gouvernements sehr erheblich
abweichen. Die am dichtesten bevölkerten Gouvernements sind: Warschau (94 Einw.), Petrokow (86), Kalisch (70), Moskau und Kjelzy
(65), Podolien
(56), Radom, Kiew und Lublin (je 55), Poltawa (53), Plozk (52 Einw.). Am schwächsten bevölkert
sind die Gouvernements Archangel, Olonez, Wologda, Astrachan, Orenburg, Perm, das donische Gebiet und Nowgorod, in welchen allen
die Dichtigkeit unter 10 Menschen pro QKilometer bleibt.
Nach dem Geschlecht verteilt sich die Bevölkerung in der Weise, daß im europäischen Rußland auf 100 Männer
101,2 Frauen kommen; in den polnischen Gouvernements werden auf 100 Männer 96,3 Frauen, in Finnland 103,8 Frauen gerechnet. Bei
dem Durchschnitt von 101,2 zeigen sich in den einzelnen Teilen des Reichs große Abweichungen. Besonders scharf trennen sich
der Nordosten und der Südwesten Rußlands. Zu der ersten Gruppe gehören Gouvernements, in welchen auf 100 Männer
mehr als 106 Frauen kommen, so in Archangel, Olonez, Wologda, Wjatka, Perm, Kostroma u. a. Zur zweiten Gruppe gehören die Gouvernements,
wo es weniger Frauen als Männer gibt, z. B. Bessarabien (93 Frauen auf 100 Männer); ähnlich Cherson, Wolhynien, Jekaterinoslaw,
Astrachan u. a.
Bewegung der Bevölkerung.
Im europäischen Rußland (ohne Polen) betrug die Zahl durchschnittlich
1877-81
1884
1885
der Gebornen
3592245
4003103
3959951
" Gestorbenen
2596841
2673242
2865368
" Eheschließungen
674836
692665
683575
In Polen wurden geboren 1884: 332,386, 1885: 306,688; es starben 1884: 183,916, 1885: 205,303 und fanden Eheschließungen
statt 1884: 60,938, 1885: 63,412. Die größte Natalität zeigen die östlichen, südöstlichen, südlichen
(Jekaterinoslaw, Taurien) und einige zentrale Gouvernements (Orel, Tula, Woronesh, Rjäsan, Kursk). Die geringste Natalität haben
Archangel, St. Petersburg, Nowgorod, Kowno und die baltischen Gouvernements; hier ist die Natalität 30-40 pro Mille. Die Geburtenziffer
für das europäische Rußland beträgt (1885) 48,8, in Polen 38,5 pro Mille. Hinsichtlich des Geschlechtsverhältnisses
der Gebornen ergibt sich, daß durchschnittlich auf 100 Mädchen 104,8 Knaben kommen (1885: 105,7). Das bedeutendste Übergewicht
der Knaben zeigt sich bei den Juden, nämlich 128,9 auf 100 Mädchen, dann folgen die Mohammedaner mit 105,3,
die Protestanten mit 105,2, die Katholiken mit 104,8, die Griechisch-Orthodoxen
mit 104,3. Auf 1000 Geburten kommen etwa 30 uneheliche (1885 im europäischen Rußland 28, in Polen 36), ein Verhältnis, das
bei Orthodoxen (30,6), Katholiken (31,7) und Protestanten (31,9) als ziemlich gleich sich herausstellt.
Die Mehrgeburten betragen in Rußland im Durchschnitt 1,192 Proz. aller Geburten. Die Sterblichkeit zeigt (1885) auf 1000 Menschen
35,1 Todesfälle (in Polen 25,8); ihre Höhe ist wesentlich bedingt durch die enorme Kindersterblichkeit: von 1000 Gebornen
sterben in Rußland 263,4 Kinder unter einem Jahr. Die Heiratsfrequenz für das europäische Rußland beträgt (1885) 8,4 pro Mille
(in Polen 7,9); in den einzelnen Gouvernements schwankt die Ziffer zwischen 12,2 und 6,5. Von 1000 Eheschließungen
fanden 761,9 zwischen Ledigen, 101,6 zwischen Witwern und Mädchen, 90,1 zwischen Verwitweten, 46,4 zwischen
ledigen Männern und Witwen statt. Die eheliche Fruchtbarkeit ergibt 4,9 Kinder auf jede Ehe, ein Durchschnitt, der von 15 Gouvernements
übertroffen wird. Namentlich in Taurien, Moskau, Orenburg, Perm, Samara, Saratow, Kostroma, Cherson, im Dongebiet
und in Kursk ist die eheliche Fruchtbarkeit stark und überschreitet jene Durchschnittszahl von 5 Kindern für die Ehe.
mehr
Städte mit mehr als 100,000 Einw. hat Rußland 12: St. Petersburg, Moskau, Warschau, Riga, Charkow, Odessa, Kasan, Kischinew, Kiew,
Lodz, Saratow und Wilna. An Wohnplätzen im europäischen Rußland rechnete man 1885: 481,457 außerstädtische und 660 Städte,
in den polnischen Gouvernements 42,444 außerstädtische und 464 Städte. Die Zahl der städtischen Niederlassungen
beläuft sich im ganzen Reich (mit Ausschluß von Finnland) auf 1274, in welchen 13,756,205 Menschen wohnen. Sie gruppieren
sich der Größe nach folgendermaßen:
Über 100000
Einw.
13
Städte
10-100000
"
280
"
5-60000 ^[richtig: 5-10000]
"
241
"
2000-5000
"
366
"
unter 2000
"
324
"
Bezüglich der durchschnittlichen Größe der Wohnplätze und der Entfernung voneinander werden die Gouvernements
in sechs Gruppen eingeteilt (Jahnson). Die erste umfaßt Gouvernements, in welchen jeder Wohnplatz weniger als 3 qkm hat und
ca. 1-2 km durchschnittlich von dem andern entfernt ist. Dahin gehören z. B. Livland, Pskow, Wilna, Witebsk, Kowno. Die letzte
Gruppe hat Wohnplätze von mehr als 40 qkm im Durchschnitt, aber auch mit einer Entfernung von 18-24 km
voneinander, so Astrachan, Archangel, Orenburg, Samara u. a.
Nationalitäten.
Die Bevölkerung des europäischen Rußland ist in Bezug auf die Nationalitäten die bunteste und gemischteste unter allen
Ländern unsers Erdteils, indem sie in dieser Beziehung noch die Türkei und Österreich-Ungarn bei weitem
übertrifft; nicht nur die Völker des indogermanischen und des semitischen Stammes, sondern auch die Ural-Altaier (Mongolen)
sind in größerer oder geringerer Menge vertreten. Nach den Angaben von Rittich 1878 setzt sich die Bevölkerung folgendermaßen
zusammen:
I. Mittelländische (kaukasische) Rasse.
a) Indogermane (Arier):
Großrussen
34389871
Kleinrussen
14201279
Weißrussen
3592057
Bulgaren
93685
Polen
4764713
Tschechen
7790
Litauer
811051
Schmuden
623700
Letten
1047929
Griechen
77132
Rumänen
648464
Franzosen
1036
Deutsche
983659
Schweden
273021
Armenier
34200
Zigeuner
111654
b) Semiten:
Juden
2552145
II. Mongolische Rasse.
a) Finnische Gruppe:
Karelier
303277
Finnen
1710274
Tschuden
48028
Esthen
749063
Lappen
7497
Mordwinen
791954
Tscheremissen
259745
Wotjaken
240490
Permier
67315
Syrjänen
85432
Wogulen
2031
Samojeden
5370
b) Tatarische Gruppe:
Tartaren
1212610
Baschkiren
757311
Meschtscherjäken
136463
Teptjären
126023
Tschuwaschen
569894
Kirgisen
158624
Kalmücken
107531
Zusammen:
71470482
Den festen Kern, um welchen sich die hier abgeführten Völker gruppieren, bilden die Russen (s. d.). Dieselben
bevölkern in kompakten Massen den größten Teil
des Landes, reichen jedoch im W. nur bei St. Petersburg bis ans Meer und sind
im N. und O. durch finnische Völker in breitem Saum von den Grenzen des europäischen Rußland abgetrennt. In 34 Gouvernements
machen die Russen mehr als 75 Proz. der Bevölkerung aus, in 6 mehr als 50 Proz., in 3 mehr als 25 und
endlich in 6 weniger als 25 Proz. Wenn auch das russische Volk im Lauf der Zeit viele finnische und tatarische Elemente assimilierte,
so ist doch im allgemeinen slawischer Typus und slawisches Wesen vorherrschend.
Sprache, Sitten und Religion verbinden dasselbe zu einem mächtigen Ganzen, innerhalb dessen die dialektischen Unterschiede
zwischen Groß-, Weiß- und Kleinrussen herrschen (näheres über diese drei Gruppen s. unter Russen). Das zweitwichtigste slawische
Volk in Rußland bilden die Polen, welche jedoch den Westeuropäern näher als die Russen stehen, da sie
früh den Katholizismus annahmen und in ihrer ganzen Kultur einen mehr westlichen Zuschnitt haben. In den zehn Gouvernements
des ehemaligen Königreichs Polen leben 4 Mill., in den andern Gouvernements des europäischen Rußland gegen 900,000 Polen.
Im ganzen machen die Polen 6,8 Proz. der Bevölkerung des europäischen Rußland aus.
Die übrigen slawischen Völker sind nur in geringer Zahl vertreten. Serben leben gegen 8000 im Gouvernement Jekaterinoslaw;
Bulgaren wanderten in der Mitte des vorigen Jahrhunderts schon in Rußland ein, doch wurden die großen bulgarischen Kolonien
in Bessarabien, Taurien und Cherson erst nach dem Frieden von Adrianopel (1829) gegründet. Die Gesamtzahl
der Bulgaren in Rußland beläuft sich auf etwa 100,000. Tschechen, gegen 8000, erst seit 20 Jahren in Rußland eingewandert,
leben namentlich in Wolhynien und in geringerer Zahl in Taurien und Podolien als Ackerbauer und Handwerker. Am nächsten den Slawen
verwandt sind die litauischen Völker.
Die Litauer sind zum größten Teil katholisch; ihre Hauptbeschäftigung ist der Ackerbau. In einer Zahl
von über 800,000 wohnen sie in den Gouvernements Kowno, Wilna und Suwalki, in geringer Anzahl auch in Grodno und Kurland. Nur
wenig von ihnen unterschieden, aber der kräftigere und tüchtigere Teil, sind die Schmuden oder Samogitier im westlichen
Teil von Kowno und nördlich von Suwalki. Das dritte Volk dieser Gruppe sind die Letten, ein gutartiger, bildungsfähiger,
aber schwerfälliger Menschenschlag, mit Ausnahme von 50,000 zur griechischen Kirche übergetretenen alle protestantisch.
Sie wohnen, über eine Million Köpfe zählend, in Kurland, Livland und Witebsk, in geringer Zahl in St. Petersburg und dem Gouvernement
Kowno. Griechen, gegen 80,000, sind als Künstler, Handwerker, Kaufleute und Ackerbauer durch Rußland zerstreut,
in größerer Menge aber in den Gouvernements Jekaterinoslaw und Taurien angesessen. Rumänen wohnen, etwa 700,000, in Bessarabien,
Cherson, Jekaterinoslaw und Podolien; die 1000 Franzosen zur Hälfte in St. Petersburg und in Bessarabien.
Über das ganze russische Reich, bald stärker, bald schwächer, sind die Deutschen in einer Gesamtzahl
von einer Million zerstreut. Teils wohnen sie als Nachkommen der ehemaligen Eroberer in den Ostseeprovinzen, teils als Einwanderer
(namentlich herbeigerufen durch Katharina II.) in den Gouvernements Saratow, Samarav und Taurien, aber auch in den Gouvernements
Jaroslaw, Cherson, Wolhynien, St. Petersburg. In Kurland, Livland und Esthland machen sie den wesentlichen Teil
der Stadtbevölkerung aus. In allen Gouvernements treffen wir sie als Beamte, bis in die Ministerien, als Offiziere bis zu
den höchsten Stellen, als Gelehrte, Kaufleute, Erzieher, Künstler, Handwerker und Ackerbauer. Die Schweden sitzen namentlich in
jenen Teilen Rußlands, die ehemals zu Schweden gehörten; so in Finnland in einer Zahl von 270,000 Köpfen,
ebenso in Esthland, 9000 Seelen
mehr
stark. Der iranische Stamm ist vertreten durch die Armenier, welche als spekulative Kaufleute, 34,000 Köpfe an Zahl, über
das Reich verbreitet sind, am stärksten in Jekaterinoslaw, und die vagabondierenden Zigeuner, 112,000 Seelen, am zahlreichsten
in Bessarabien, namentlich im Kreis Akjerman. Von den in Rußland wohnenden Semiten sind nur 2½ Mill. Juden
hervorzuheben, welche zur Zeit der Kreuzzüge nach Polen flüchteten und von da später sich weiter verbreiteten.
Sie wohnen heute in allen Gouvernements, vorzugsweise aber in den westlichen, ehemals polnischen Ländern, und machen z. B.
in Suwalki 17, in Warschau und Mohilew 16, in Radom 15, in Lublin 14, in Wolhynien und Grodno 13, in Podolien
und Plozk 12, in Piotrkow, Kjelzy, Kiew und Wilna 11, in Kalisch, Kowno und Witebsk 10 Proz. der Bevölkerung aus. Im Kreis Tschausy
(Gouvernement Mohilew) bilden sie sogar die Mehrheit. Unter diesen zumeist auf einer tiefen Kulturstufe stehenden Juden zählt
man 3100 Karainen oder Karaiten, welche den Talmud verwerfen und in der Krim, ihrem Hauptsitz, wohl tatarischer
Abkunft sind.
Außerordentlich mannigfach, wie aus der Tabelle, S. 64, hervorgeht, sind die mongolischen Völker in Rußland vertreten. Beginnen
wir mit den finnischen Völkern, so sehen wir, daß sie von den nordwärts drängenden Russen in zwei Gruppen, eine
östliche und eine westliche, zersprengt worden sind, von denen die letztere die baltischen Finnen umfaßt, die in die karelische
und die tschudische Gruppe zerfallen. Die Karelier, zusammen 2 Mill. Menschen, werden wieder in eine Anzahl kleinerer Stämme
geteilt: die eigentlichen Karelier (300,000) in Ostfinnland, Twer, Nowgorod, Archangel und Olonez, die Quänen
(290,000) im nördlichen und nordwestlichen Finnland;
die Suami (280,000) im westlichen und südwestlichen Finnland;
die Jämen
oder Tawasten (530,000) östlich von den vorigen;
die Sawolaks (470,000) östlich von den Tawasten;
die Äurämöiset (76,000)
im südöstlichen Finnland und St. Petersburg;
die Sawakot und Ingrier (64,000) im Gouvernement St. Petersburg.
Alle
diese karelischen Finnen zeigen denselben Typus, stehen auf schwedischer Kultur und sind meist Ackerbauer, Fischer und Seefahrer.
Die zweite Gruppe der baltischen Finnen machen die Tschuden aus, und unter ihnen ragen die ackerbauenden Esthen in Esthland und
im nördlichen Livland (746,000 Seelen) hervor. Sie sind protestantische Ackerbauer und erst seit 1816 aus
der Leibeigenschaft befreit. Von den ihnen verwandten Liven existiert nur noch ein kleiner Rest (2500 Seelen) bei Kap Domesnäs
in Kurland; ihnen wiederum verwandt sind die Wepsten oder Nordtschuden (36,000 Köpfe) am Onega- und Ladogasee.
Endlich gehören noch zur tschudischen Gruppe die Lappen, von welchen 7500, teils als Renntier-, teils als
Fischerlappen, in den an Schweden und Norwegen grenzenden Landstrichen wohnen. Von diesen baltischen Finnen sind durch die bis
ans Eismeer und Weiße Meer vorgedrungenen Russen die östlichen Wolgafinnen und nördlichen Finnen getrennt, von denen manche
bereits in der Russifizierung begriffen sind, und die, wiewohl äußerlich zur griechischen Kirche bekehrt,
noch viel vom alten Heidentum bewahrt haben.
Die Mordwinen (790,000) wohnen mehr oder minder zahlreich in den Gouvernements Samara, Saratow, Simbirsk, Pensa, Nishnij Nowgorod,
Tambow und Kasan; die Tscheremissen (260,000) auf beiden Seiten der Wolga zwischen den Flüssen Wjatka und Wetluga und um die Mündung
der Sura; die Wotjaken (240,000) kompakt in der östlichen Hälfte des Gouvernements Wjatka zwischen den
Flüssen Kama und Wjatka. Diese drei Völker sind fleißige Ackerbauer, Vieh- und Bienenzüchter, treiben auch einige Gewerbe.
Tiefer in der Kultur als diese stehen die nordischen Finnen, zunächst die Permier (67,000) im Gouvernement Perm, meist Jäger
und Fischer; die Wogulen, eigentlich schon ein asiatisches Volk, da nur 2000 von ihnen im Gouvernement Perm
auf europäischem Boden wohnen, und die Syrjänen (85,000) in Archangel und Wologda, ein Volk von kühnem Unternehmungsgeist,
was sie als Renntiernomaden, Händler und Jäger im N. eine Rolle spielen läßt. Endlich die gleichfalls nach Asien
hinüberreichenden, meist heidnischen Samojeden (5000 Köpfe) im Gouvernement Archangel an der Eismeerküste.
Zahlreich wie die finnischen Völker sind auch die tatarischen im europäischen Rußland. Tataren im engern Sinn, zusammen 1,200,000,
wohnen als friedliche und fleißige Ackerbauer und Gewerbtreibende in Kasan, wo unter Ulu-Machmed einst auf den Trümmern des
Bulgarenreichs ihr mächtiges Chanat entstand; ferner in der Krim und den benachbarten Gebieten, wo sie
gleichfalls einst ein mächtiges Chanat bildeten; endlich in Litauen, wo sie (wie die übrigen Tataren) den Islam beibehalten,
aber europäische Tracht und polnische Sprache angenommen haben.
Nach Sitte, Lebensweise, Religion, wenn auch nicht nach der Abstammung stehen die Baschkiren (756,000) den
Tataren nahe, sie wohnen auf beiden Seiten der Bjelaja in den Gouvernements Ufa, Orenburg, Perm und Wjatka und befinden sich im
Übergang vom Nomaden zum seßhaften Leben. Sporadisch unter ihnen zerstreut leben die Meschtscherjäken (136,000 Seelen), doch
auch in Pensa und Tambow; sie sind ein ursprünglich finnisches, doch jetzt tatarisiertes seßhaftes Volk.
Ebenso verhält es sich mit den Teptjären (126,000 Köpfe). Tatarisierte Wolgafinnen sind auch die Tschuwaschen, welche nur
die Sprache mit den Tataren gemein haben, sonst aber den Tscheremissen gleichen. Sie leben 570,000 Köpfe stark am rechten Wolgaufer
um die Sura herum, außerdem in Simbirsk, Samara und Ufa. Sie sind Ackerbauer, viele noch Heiden. Das eigentliche
Nomadenvolk der tatarischen Völkergruppe in Rußland sind die Kirgisen oder Kaisaken, Nachkommen der Horden, die einst unter
Dschengis-Chan die halbe Welt eroberten. Im europäischen Rußland befindet sich im Gouvernement Astrachan nur ein 156,000 Seelen
zählender Bruchteil des weitverbreiteten Volkes und zwar die innere oder bukeische Horde, welche 1801 ihre
heutigen Weideplätze angewiesen erhielt.
Neben ihnen nomadisieren 2000 Karakalpaken, ihre nahen Verwandten. Die echtesten Mongolen auf europäischem Boden sind schließlich
die 107,000 Kalmücken, welche im Gouvernement Astrachan nomadisieren, soweit sie aber den Donischen Kosaken zugeteilt sind,
auch Ackerbau betreiben.
Vgl. Buschen, Die Bevölkerung des russ. Kaiserreichs (Gotha 1862);
Pauly, Description
ethnographique des peuples de la Russie (Petersb. 1862, mit 62 Tafeln);
Rittich, Ethnographie Russlands (Gotha 1878).
Religionsbekenntnisse.
Nach den Religionsbekenntnissen verteilt sich die Bevölkerung im europäischen Rußland mit Einschluß Finnlands und Polens
gegenwärtig etwa so:
Griech.-Orthodoxe
69000000
Raskolniken
1040000
Armenier
42000
Evangelische
5280000
Katholiken
8800000
Juden
3020000
Mohammedaner
2800000
Heiden
260000
mehr
Somit ist das griechisch-orthodoxe Element im russischen Reich entschieden überwiegend und wird durch Gesetze vor den übrigen
Konfessionen bevorzugt. Die orthodoxe Bevölkerung aller Eparchien des Reichs bezifferte sich 1880 auf 63,132,740 Seelen. Für
sie sind vorhanden 56 Bischofsitze, 385 Mönchsklöster, 177 Nonnenklöster, 41,047 Kirchen, 13,877 Kapellen und Bethäuser.
Die Zahl der bei einzelnen Kirchen und Klöstern vorhandenen Armenhäuser beläuft sich auf 484. In den Mönchsklöstern
sind 11,184, in den Nonnenklöstern 21,456 Insassen. An sämtlichen Kirchen fungieren 1439 Oberpriester, 35,978 Priester, 7706 Diakonen
und 48,623 Kleriker.
Die römisch-katholische Bevölkerung hatte 1885: 1287 Kirchen und 1453 Geistliche, die protestantische 708 Kirchen und 471 Geistliche,
die armenisch-gregorianische 37 Kirchen mit 84 Geistlichen, die jüdische 347 Synagogen. Sehr ausgedehnt ist unter den Griechisch-Gläubigen
das Sektenwesen (s. Raskolniken). Mit Ausnahme Finnlands und der Ostseeprovinzen (Esthland, Livland und Kurland) dürfen die Kinder
aus Mischehen nur in der griechisch-russischen Konfession erzogen werden; Ehen zwischen Juden und Christen
sind überhaupt nicht gestattet.
Die katholische Kirche zählt die meisten Bekenner in Polen und Litauen, die evangelisch-lutherische ist vorherrschend in den
Ostseeprovinzen und in Finnland. Die Zentralbehörde in kirchlichen Dingen der orthodoxen Konfession ist der heilige Synod, zusammengesetzt
aus hohen weltlichen und geistlichen Würdenträgern, Metropoliten und Erzbischöfen. Unter dem Synod stehen
sodann die Eparchien (Diözesen ersten, zweiten und dritten Ranges). Die russische Geistlichkeit zerfällt in eine schwarze
und eine weiße, von denen die erstere die Mönche und die aus ihnen hervorgegangenen höhern und höchsten Geistlichen, die
alle im Cölibat leben müssen, umfaßt; die weiße Geistlichkeit bilden die Weltgeistlichen, die in Seminaren
und geistlichen Akademien erzogen werden und verheiratet sein müssen (vgl. Russische Kirche).
Die andern christlichen Konfessionen stehen unter dem Departement »ausländischer Konfessionen« des Ministeriums des Innern,
haben aber eigne Konsistorien, die aus Weltlichen und Geistlichen zusammengesetzt sind. Für die evangelische Kirche ist das
Generalkonsistorium in Petersburg die Oberbehörde, welche über den zahlreichen übrigen evangelisch-lutherischen
Konsistorien steht. Sämtliche Prediger Rußlands müssen bei der theologischen Fakultät in Dorpat das Examen absolvieren. An der
Spitze der katholischen Kirche steht ein Erzbischof.
Stände.
Der frühere strenge Standesunterschied in Rußland ist seit der Aufhebung der Leibeigenschaft (1861), der Beschränkung der
Adelsrechte und der Berechtigung sämtlicher Stände, Land zu besitzen, geschwunden. Immerhin scheidet
man noch die Bewohner in folgende Stände: Adel, sogen. Exemte, Geistlichkeit, städtische Stände (nämlich Kaufleute und Gewerbtreibende)
und ländliche Stände oder Bauernstand. Was zunächst den Adel betrifft, so ist der alte russische Bojarenadel seit der Krëierung
des Verdienstadels durch Peter d. Gr. (1722) dem letztern ganz gleichgestellt.
Gegenwärtig erhält man den Erbadel durch Erlangung des Ranges eines Wirklichen Staatsrats oder eines Obersten, durch Verleihung
eines Ordens erster Klasse oder durch Verleihung irgend einer Klasse des Wladimir-Ordens. Der russische Adel unterscheidet sich
besonders dadurch von dem deutschen in den russischen Ostseeprovinzen,
daß von Lehnsverhältnissen bei
ihm nie die Rede war und Fideikommisse und Majorate bei ihm nur selten vorkommen. Adlige Titel, wie Graf und Baron, haben von den
Ostseeprovinzen her Eingang gefunden.
Als Korporation tritt der Adel noch in den neuerlich indes aller politischen Befugnisse beraubten Adelsversammlungen der Gouvernements
auf. Nur der Adel Esthlands, Livlands, Kurlands und Ösels bildet politische Körperschaften und hält jährlich
seine Landtage ab. Im europäischen Rußland, außer Finnland, zählte der Erbadel 1870: 604,467 Glieder. Zum Stande der sogen.
Exemten (Steuerfreien) gehören Beamte, Gelehrte, Künstler und Ehrenbürger, und die Zahl der Glieder dieses Standes betrug 359,959
(in dieser Zahl sind wiederum Finnland und Polen nicht mit eingeschlossen, so auch in den folgenden Angaben
über die Kopfzahl der einzelnen Stände).
Die Geistlichkeit mit ihren Familien wird zu 615,330 Personen angegeben. Zu den städtischen Ständen gehören vorzüglich die
Kaufleute und die Gewerbteibenden ^[richtig: Gewerbtreibenden]. Zum Kaufmannsstand gehörten 466,000, zu den städtischen
Ständen überhaupt 7,113,330 Personen. Der Bauernstand zählte 58,125,386 Köpfe, von denen über 23 Mill.
zu den Reichsdomänen gehören; die übrigen sind meist frühere Leibeigne, die durch kaiserliches Gebot sämtlich frei geworden
sind und auf den Gütern der Gutsherren leben oder sich selbst Besitzungen gekauft haben; Bauern der kaiserlichen Apanagen und
andrer Verwaltungswege gibt es über 3 Mill. Nicht unbedeutend ist auch die Zahl der verabschiedeten
Soldaten, die mit ihren Familien 1½ Mill. stark sind, und die Bewohner jener Landesteile, welche irreguläre Truppen stellen,
wie z. B. das Gebiet der Donischen Kosaken und das Gouvernement Orenburg, an Zahl über 1,700,000.
Bildung und Unterricht.
Auf dem Gebiet der geistigen Kultur ist in Rußland noch immer nicht gehörig gesorgt, und zur Verwirklichung
des Schulzwanges ist man noch nicht geschritten, obwohl die Wichtigkeit der Einführung desselben bereitwillig anerkannt
wird. Elementarschulen gab es 1885 im europäischen Rußland 33,835 mit 1,869,982 Lernenden, darunter 1,444,409 Knaben und nur
452,573 Mädchen; außerdem in den polnischen Gouvernements 3684 Schulen mit 205,980 Lernenden, nämlich
133,948 Knaben und 72,032 Mädchen.
Seminare zur Heranbildung von Volkslehrern zählt man 74 mit 5104 Lernenden für Knabenschulen und 9 mit 1160 Lernenden
für Mädchenschulen, die teils vom Staate, teils von der Landschaft unterhalten werden. In jeder Kreisstadt und
in den Gouvernementsstädten befinden sich Kreisschulen, zu denen die Lehrer nach einem bestimmten Programm an den Gymnasien
geprüft werden; die der Stadtschulen werden in besondern Lehrerinstituten gebildet, von denen bis jetzt fünf eröffnet
sind.
Die absolut größte Zahl von Schulen (1917) hatte das Gouvernement Livland, auf welches 19 Gouvernements, meist
solche, in welchen Juden und Mohammedaner angesiedelt sind, mit 713-1424 Schulen folgen. In Bezug auf das Verhältnis der Zahl
der Schulen zur Bevölkerung zeigt den günstigsten Stand das Gouvernement Esthland: eine Schule auf 536 Einw. Auf weniger als 1000 Einw.
kommt eine Schule in Livland (628), Warschau (763), Sjedlez (799), Suwalki (831) und in acht andern polnischen
sowie finnischen Gouvernements.
So unbefriedigend zur Zeit der Stand der Volksbildung ist, so unvollkommen fällt auch das System der Sekundärschulen aus.
Die Zahl der 1885
mehr
im europäischen Rußland bestehenden Gymnasien war 132 mit 46,340 Schülern, der Progymnasien 55 mit 6705 Schülern, der Realschulen 76 mit
14,722, der Kadettenschulen 19 mit 7150 Schülern, der Schulen des heiligen Synods 163 mit 28,236 Schülern, und in Polen 19 Gymnasien
mit 8723, 8 Progymnasien mit 1934, 3 Realschulen mit 1137 Schülern und 2 Synodalschulen mit 194 Schülern.
Namentlich der Mangel an Schulen für die reale und technische Bildung ist ein allseitig empfundener. Es fehlt in Rußland
an tüchtigen Technikern mittlern Ranges, zu deren Heranbildung der sechsjährige Kursus einer Realschule und die Absolvierung
einer zwei- bis dreijährigen Fachschule vermutlich ausreichen würden.
Eine leidliche Entwickelung haben die Eisenbahnschulen zur Ausbildung von Eisenbahntechnikern genommen, die seit ihrer Begründung
(1870) von einer Schule mit 34 Schülern bis 1881 auf 33 mit 2520 Schülern angewachsen sind. Größer ist die Zahl der Navigationsschulen:
40, aber mit einer geringern Zahl von Schülern: 2012. Seit Anfang des Jahrs 1888 schenkt das Ministerium
der Volksaufklärung dem Gewerbeschulwesen mehr Aufmerksamkeit und ist bemüht, ihm eine größere Verbreitung zu geben.
Das weibliche Geschlecht erhält die Bildung größtenteils in Mädchengymnasien, 121 mit 39,311 Schülerinnen (in Polen 13 mit 3716 Schülerinnen),
Mädchenprogymnasien, 170 mit 21,106 Schülerinnen (in Polen 4 mit 491 Zöglingen), Fräuleininstituten, 27 mit 7426 Schülerinnen
(in Polen 1 mit 257 Zöglingen) und Synodalschulen, 47 mit 10,181 Schülerinnen (in Polen keine). Zu den höchsten weiblichen
Lehranstalten gehören in St. Petersburg: das Erziehungshaus adliger Fräulein, die Alexanderschule, das Pawlowsche Institut,
das Katharinenstift, die Elisabethschule, das Patriotische Institut, das Nikolaische Waiseninstitut und das
Marieninstitut;
in Moskau: das Katharinenstift, die Alexanderschule, die Elisabethschule und das Nikolaische Waiseninstitut.
Außer den vom Staat unterhaltenen Anstalten gibt es eine Anzahl Privatgymnasien und Privatschulen mit dem Lehrkursus der
Kreisschulen oder Elementarschulen. Der größte Teil davon befindet sich in den Ostseeprovinzen und in Polen sowie in den Gouvernements
Kiew, Moskau, St. Petersburg und Saratow.
Vgl. »Rußlands Unterrichtswesen« (von Schmid, Strack u. a., Leipz.
1882).
Die beiden »historisch-philologischen Institute« in St. Petersburg und Njeshin (Gouv. Tschernigow) zählen zur Kategorie der höchsten
Lehranstalten und haben den Zweck, Lehrer der altklassischen Sprachen, der Geschichte und der russischen Sprache heranzubilden.
Die russischen Universitäten haben 4 Fakultäten: eine juristische, medizinische, historisch-philologische
und physiko-mathematische;
die Dorpater außerdem eine evangelisch-theologische.
Die Universität für Finnland mit schwedischer
Unterrichtssprache ist in Helsingfors. Die Zahl der Lehrenden (Professoren, Laboranten, Privatdozenten etc.) und Lernenden belief
sich in:
Universitäten
Lehrende (1882)
Lernende
St. Petersburg
99
2340
Moskau
103
3179
Kiew
105
1589
Charkow
89
1372
Kasan
109
969
Warschau
79
1395
Dorpat
65
1485
Odessa
52
610
Einen nicht unerheblichen Prozentsatz der Studierenden nehmen die Frauen ein, von denen 1886: 779 an russischen Universitäten
studierten.
Davon gehörten 437 dem Adel, Offiziers- und Beamtenstand an; 587 waren griechisch-orthodox, 139 Jüdinnen. Höchste
Lehranstalten sind ferner: das Alexander-Lyceum in St. Petersburg;
die vier geistlichen Akademien orthodoxer Konfession zu Kiew,
Moskau, St. Petersburg und Kasan;
das Lasarewsche Institut für morgenländische Sprachen in Moskau;
die Rechtsschule in St. Petersburg;
die militär-juridische Akademie in St. Petersburg;
das Demidowsche juridische Lyceum in Jaroslaw;
die mediko-chirurgische Akademie
in St. Petersburg;
das Nikolai-Lyceum in Moskau;
die Veterinärinstitute in Dorpat, Charkow und Kasan;
die weiblichen Kurse der
mediko-chirurgischen Akademie zur Heranbildung gelehrter Hebammen;
die geburtshilfliche Anstalt am St. Petersburger Erziehungshaus
und die Hebammeninstitute. Zu den höchsten Militärlehranstalten gehören in St. Petersburg: die Kriegsakademie des Generalstabs,
die Michailowsche Artillerieakademie, die Kriegsingenieurakademie, das Pagenkorps, die Gardejunkerschule.
Außerdem bestehen mehrere Militärschulen, in welche die Schüler der Militärgymnasien nach beendigtem Kursus eintreten, das
finnländische Kadettenkorps in Frederikshamn, die militär-topographische Schule in St. Petersburg und 16 Junkerschulen, die
für den Frontdienst vorbereiten. Zur Heranbildung von Seeoffizieren dienen die Seeschule in St. Petersburg und die
Schiffbau- und Steuermannsschulen in Kronstadt. Die drei höchsten Lehranstalten für Landwirtschaft sind: das landwirtschaftliche
und Forstinstitut in Nowo-Alexandrowsk im Gouvernement Lublin, die Petrowskische landwirtschaftliche und Forstakademie bei Moskau
und das landwirtschaftliche Institut in St. Petersburg. Die hervorragendsten technischen Lehranstalten sind in St. Petersburg:
das praktische technologische Institut, das Berginstitut, das Institut der Ingenieure der Wegekommunikation,
die Bauschule, die technische Schule, in Riga das Polytechnikum. St. Petersburg hat eine Akademie für Handelswissenschaften und
eine Kommerzschule; ebensolche sind auch in Moskau und Odessa.
Die Ausgaben des Ministeriums der Volksaufklärung für Volksbildungszwecke stiegen verhältnismäßig langsam; von 1876 bis
1888, also in 12 Jahren, haben sie sich um 6 Mill. Rub. gehoben, von 15,163,443 auf 21,381,405 Rub. Die
hauptsächlichsten Ausgaben sind:
1876
1888 (Voranschlag)
Für die Universitäten und Lyceen
2405976
3276601
" Gymnasien, Progymnasien etc.
4916074
↘
" Realschulen etc.
1222040
9205611
" Kreis- und städtische Schulen
1158525
↗
" Elementarschulen
251418
4797862
" den Unterhalt von Volksschulen
1373238
↗
Der Zentralpunkt aller wissenschaftlichen Thätigkeit und der vorzüglichste Gelehrtenverein des Reichs ist die Akademie der
Wissenschaften zu St. Petersburg, zu der nach Leibniz' Plan Peter d. Gr. den ersten Grund legte, die aber erst nach ihm eröffnet
wurde. Mit dieser Akademie stehen in Verbindung eine Sternwarte in St. Petersburg und das physikalische Zentralobservatorium.
Zu den bedeutendsten gelehrten Instituten und Gesellschaften Rußlands gehören in St. Petersburg: die Hauptsternwarte zu Pulkowa
(s. d.), die Freie Ökonomische Gesellschaft, die Archäologische Kommission, die Russische Gesellschaft für Gartenbau, die Russische
mehr
Geographische Gesellschaft, deren rastlose Thätigkeit in ganz Europa bekannt ist, die Russische Archäologische Gesellschaft.
In Moskau haben ihren Sitz: die Archäologische Gesellschaft, die Gesellschaft für russische Geschichte und Altertümer, die
Gesellschaft der Naturforscher, die Gesellschaft der Freunde russischer Litteratur, die Gesellschaft der Kunstfreunde;
in Riga:
die Litterärisch-praktische Bürgerverbindung, die Gesellschaft für lettische Litteratur und die Gesellschaft für
Geschichte und Altertümer in den Ostseeprovinzen;
in Reval: die Esthländische Litterärische Gesellschaft;
in Dorpat: die Gelehrte
Esthnische Gesellschaft, die Kaiserliche Ökonomische Societät;
in Mitau: die Kurländische Gesellschaft für Litteratur und Kunst
nebst reichem Museum;
in Arensburg: eine Gesellschaft zur Erforschung der Vorzeit Ösels;
in Kasan: die Gesellschaft
der Freunde vaterländischer Litteratur;
in Odessa: die Gesellschaft für Geschichte und Altertümer, die Neurussische, die Ökonomische
Gesellschaft. An Museen sind zu nennen: die Museen der Akademien der Wissenschaften und der Künste, das Museum der Modelle für
landwirtschaftliche Maschinen, das mineralogische Museum des Berginstituts, das Museum der Ingenieure der
Wasser- und Wegekommunikation, das Haupt-Artilleriemuseum, das Marinemuseum, sämtlich in St. Petersburg;
das Zentralmuseum
für vaterländische Altertümer in Dorpat;
die Provinzialmuseen in Reval, Mitau und Riga;
das Museum für bosporanische Altertümer
in Kertsch;
das Altertumsmuseum in Odessa;
das öffentliche und Rumjänzowsche Museum in Moskau mit einer Gemäldegalerie.
Hervorragende
Bibliotheken sind: die kaiserliche öffentliche Bibliothek und die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften
in St. Petersburg;
die bei dem Archiv des Ministeriums der auswärtigen Angelegenheiten in Moskau, die Bibliotheken an den Universitäten,
die Rigasche Stadtbibliothek.
Die periodische Presse ist im Verhältnis zur Bevölkerung nicht umfangreich, doch war sie durch 776 Zeitungen,
Wochen- und Monatsschriften vertreten, von welchen 272 in St. Petersburg und Moskau, 504 in den Provinzen ausgegeben wurden.
Einige derselben erfreuen sich bereits eines verhältnismäßig langen Daseins; in den Residenzen wie in den Provinzen gibt
es je drei Zeitschriften, die seit mehr als einem Jahrhundert erscheinen. Von der gesamten Provinzialpresse
datiert der fünfte Teil erst seit 1881, in welchem Jahr mit der Herausgabe von 64 neuen Provinzialblättern begonnen wurde.
Typographische und lithographische Anstalten, die allen Bedürfnissen der Neuzeit entsprechen, finden sich in St. Petersburg,
Riga, Reval, Mitau, Moskau, Odessa, Warschau und in den Universitätsstädten. Die Zeitungen der Residenzen und
die Druckschriften, die wenigstens 20 Druckbogen stark sind, erscheinen nach geleisteter Kaution ohne dem Druck vorhergehende
Zensur, können aber nach dreimaliger Verwarnung ohne weiteres auf kürzere Zeit oder gänzlich verboten werden; alle
übrigen Schriften und die Zeitungen der Provinzen unterliegen gleich den Zeitungen des Auslandes der Zensur.
Agrarverfassung, Landwirtschaft.
Die Eigentümlichkeit der russischen Agrarverfassung liegt in der Einrichtung des Gemeindebesitzes. Dieser ist nach der Erklärung
eines kompetenten Beurteilers der russischen Landwirtschaft,
Joh. v. Keußler, als die Grundbesitzform aufzufassen,
nach welcher das Land durch Gemeindebeschluß unter die Bauern nach Seelen, Tjäglos (s. unten) oder nach einem andern Modus
umgeteilt oder
verteilt, den für die Nutzung des Landes auferlegten Verpflichtungen aber unter solidarischer
Haft nachgekommen wird.
Diese Besitzform herrscht in 29 großrussischen Gouvernements, nämlich in St. Petersburg, Olonez, Nowgorod, Wologda, Pskow, Twer,
Jaroslaw, Kostroma, Wjatka, Perm, Smolensk, Moskau, Wladimir, Nishnij Nowgorod, Kasan, Kaluga, Tula, Rjäsan, Tambow, Pensa, Simbirsk, Orel,
Kursk, Woronesh, Saratow, Samara, Orenburg, Astrachan und Charkow. In den andern Gouvernements herrscht der persönliche
Grundbesitz, der jedoch im Interesse der Erhaltung eines kräftigen Bauernstandes vielfachen Beschränkungen unterliegt.
Beim Gemeindebesitz hat die Gemeinde die Verfügung über das ganze Land, dessen wirtschaftliche Verwendung sie bestimmt, wobei
ein Teil (derjenige, welcher wirtschaftlichen Nutzen gewährt, ohne Arbeit zu beanspruchen) in gemeinsamer
Nutzung bleibt, ein zweiter Teil vielleicht brach liegt und ein dritter zur Bebauung unter die Gemeindegenossen verteilt
wird. Hierbei hat das russische Volk einen sonderbaren Ausweg eingeschlagen und, da ihm keine der möglichen Verteilungsweisen,
etwa nach der Zahl der erwachsenen Arbeiter der Familien etc., entsprach, sich eine ideelle Teilungseinheit,
das Tjäglo, gebildet.
Dieses Tjäglo ist ein bestimmtes Quantum von Arbeitskräften und materiellen Bedürfnissen. Auf Seelenzahl reduziert, wechselt
es je nach den örtlichen Verhältnissen. Gewöhnlich ist die Zahl der Tjäglos einer Gemeinde etwas kleiner als die Hälfte
und etwas größer als der dritte Teil der männlichen Seelen. Es ist eben ein originelles Maß, das sowohl
zur äußern Natur als zu der Person in Beziehung gesetzt wird. Ist z. B. eine Familie durch Todesfall, Rekrutierung etc. dermaßen
in ihrem Bestand reduziert, daß sie einen Teil ihres Landes aufgibt, so erhält nicht die Familie dieses Land, welche
über die meisten Arbeitskräfte verfügt, sondern diejenige, welche durch den Unterhalt von Altersschwachen, Kindern etc.
am meisten in Anspruch genommen ist.
Nicht überall ist dieses Verfahren der Landverteilung nach Tjäglos die Regel, es kommt auch die Teilung des Landes nach der
Seelenzahl vor; aber es scheint, als ob dieser Modus der Volkssitte direkt entgegen und nur ein künstliches
Gebilde der Verwaltung sei. Bei den Ländereien selbst werden unterschieden:
1) das Gehöftareal, 2) Ackerland und Wiese, 3) die gemeine Mark, wie Weiden, Wald, Flüsse etc. Das Gehöftareal ist dasjenige
Land, welches in der Umkreislinie einer bewohnten Ortschaft liegt, und auf welchem sich die bäuerlichen
Wohnhäuser, Wirtschaftsgebäude u. dgl. befinden.
Auch die Gemüse- und Obstgärten, Dreschtennen u. dgl.
im Umkreis der Ansiedelung gehören hierher. Das Gehöftareal kann den einzelnen Bauernwirten zu gesonderter Nutzung zustehen
(und in diesem Fall ist es erblich), oder es befindet sich in der Gesamtnutzung der Gemeinde als sogen.
Gemeindegehöftareal, wie Marktplätze, unbebaute freie Plätze etc. Acker und Wiese bekommen die Bauern von der Gemeinde zur
zeitweiligen Nutzung, welche in Bezug auf die Teilungstermine und die Zahl der Jahre, auf welche die Grundstücke vergeben
werden, ganz frei ist bis auf den Umstand, daß zur Beschlußfassung zwei Drittel der Bauernwirte erforderlich
sind. Ungeteilt bleibt endlich die gemeine Mark, welche allen Bauern gemeinsam zur Nutzung zugewiesen wird, wie Weiden, Wald,
Schluchten, Teiche, Flüsse u. a. m.
Wo persönlicher Grundbesitz existiert, da werden, wie in Kiew, Podolien, Wolhynien, drei Kategorien
mehr
von Bauern unterschieden: die Vollbauern, Kleinbauern und Gärtner. Letztere besitzen kein Ackerland, sondern nur ein Gehöft.
Das Land wird hier unter Beobachtung besonderer Regeln den bäuerlichen Familien zur bleibenden Nutzung überwiesen, wobei jedoch
der Inhaber an gewisse Bestimmungen gebunden ist, z. B. darf er nur mit Zustimmung der Gemeinde seinen Anteil
einem Gemeindegenossen oder einer andern Person abtreten, die Teilung des Landanteils unter die Erben ist nur bis zu einer gewissen
Grenze gestattet, im Fall des Todes eines Wirts ohne Erben fällt das Land an die Gemeinde zurück u. dgl. m.
Ähnliche Gesetze, die der Zersplitterung von Grund und Boden vorbeugen, gelten in den kleinrussischen Gouvernements
Tschernigow, Poltawa und in einem Teil von Charkow.
Gehöfte und Feldanteile können nur so weit zerlegt werden, daß keiner der Teile geringer wird als ein für die betreffende
Örtlichkeit angesetztes Minimum. In den nordwestlichen Gouvernements, in Wilna, Grodno, Kowno, Minsk und einigen Kreisen von Witebsk,
nähert sich der bäuerliche individuelle Grundbesitz mehr den westeuropäischen Zuständen. Man unterscheidet die bäuerlichen
Wirte von den sogen. Gärtnern, die durchweg kleine Landstücke besitzen. Schärfer als in den andern Gegenden des Reichs ziehen
hier gesetzliche Bestimmungen der Zerstückelung und Zusammenlegung bäuerlicher Höfe bestimmte Grenzen. Kein Bauer darf in einer
Gemeinde mehr als drei Höfe besitzen, u. bei Erbteilungen darf ein Hof nur so geteilt werden, daß kein
Teil weniger als zehn Deßjätinen umfaßt.
Eine großartige Reform war das bäuerliche Emanzipationsgesetz vom welches den bisher leibeignen Bauern die persönliche
Freiheit brachte, ihnen freie Selbstverwaltung einräumte und das Recht der Erwerbung von Grundeigentum verlieh.
Für den letztern Zweck gewährte die Regierung Darlehen. Mit Einwilligung des Gutsherrn konnten die Bauern die ihnen zu bleibender
Nutznießung angewiesenen Ackerländereien und andres Areal als Eigentum erwerben, durch welchen Akt sie ihrer Verpflichtungen
gegen die Gutsherren enthoben wurden und in den Stand der freien bäuerlichen Grundeigentümer eintraten.
In den litauischen Gouvernements Wilna, Kowno u. a. wurde durch die Gesetze vom 1. März,30. Juli und der Zwangsverkauf der
Bauernländereien eingeführt. Mit der Durchführung der Ablösung hatte es aber seine Schwierigkeiten. Abgesehen von den westlichen
Gouvernements, in denen 2,716,000 Bauern durch Zwangsablösung Eigentümer wurden, hatten von 7,421,000
Seelen früherer gutsherrlicher Bauern in den innern Gouvernements bis nur 5,999,000 Seelen, also 81 Proz., ihr Verhältnis
zum Gutsherrn durch Ankauf des Landes gelöst; 1,422,000 Bauern standen noch in Abhängigkeit vom Gutsbesitzer.
Diesem Übelstand abzuhelfen, sind zwei neue Gesetze vom bestimmt, das eine über die Ermäßigung
der Ablösungszahlungen, das andre über die Zwangsablösung des noch nicht abgelösten Bauernlandes. Das letztere Gesetz
erstreckt sich auf die Gouvernements Astrachan, Wladimir, Wologda, Woronesh, Wjatka, Jekaterinoslaw, Kasan, Kaluga, Kostroma, Kursk,
Moskau, Nishnij Nowgorod, Nowgorod, Olonez, Orenburg, Orel, Pensa, Perm, Poltawa, Pskow, Rjäsan, Samara, St. Petersburg,
Saratow, Simbirsk, Stawropol, Taurien, Tambow, Twer, Tula, Ufa, Charkow, Cherson, Tschernigow, Jaroslaw und das Gebiet der Donischen Kosaken.
Das erstere erstreckt sich gleichfalls auf die genannten Gouvernements sowie auf
diejenigen Bauern in Mohilew und in einigen
Kreisen von Witebsk, die vor dem Erlaß des die Zwangsablösung im westlichen Rußland dekretierenden Ukases
vom ihr Land ablösten, ohne später eine Ermäßigung zu erfahren. Nach dem ersten Gesetz über die Zwangsablösung
wurden mit diejenigen Bauern, die ihr Land noch nicht abgelöst haben, zu Eigentümern desselben, wobei die Gutsbesitzer
durch 5proz.
Reichsbankbillets im Betrag der Kapitalisierung der im Grundbuch verzeichneten Pacht nach Abzug von 20 Proz.
entschädigt werden. Die betreffende Ablösungsschuld haben die Bauern in 49 Jahren durch jährliche Zinsen und Amortisationszahlungen
abzutragen. In dem zweiten Gesetz von demselben Tag ist die Ermäßigung der Ablösungszahlungen auf einen Rubel pro Revisionsseele
(pro Seelenlandanteil), in Kleinrußland auf 16 Kopeken pro Rubel der bisherigen Ablösungszahlungen festgesetzt.
Durch das denkwürdige Gesetz von 1861 hat der Grundbesitz eine wesentlich andre Gestaltung bekommen. Bis dahin besaßen von
dem Gesamtareal die Regierung 64,6 Proz., die Gutsbesitzer 30,6,
die Apanagen 3,3 Proz., und auf den Kleingrundbesitz entfielen 1,7
Proz. Nach dem Emanzipationsgesetz hat sich das Verhältnis so verschoben, daß der Staat 39,5, die Bauern
32,6, die Gutsbesitzer und andre Privatpersonen 26, die kaiserliche Familie 1,9 Proz. besitzen. Gleichwohl war die Lage der
Bauern und der gesamten russischen Landwirtschaft dadurch keine bessere geworden.
Gleich bei der Ablösung kamen manche Mißbräuche vor, und die Bauern wurden von den Gutsbesitzern, die
ihren Vorteil wahrzunehmen wußten, mit sehr kleinen Landanteilen abgespeist. Dazu gesellte sich starke Zersplitterung der
zuerst hinreichend großen Wirtschaftseinheiten infolge von Erbteilungen; es litten ferner viele Bauern durch die solidarische
Haft, sofern sie dieselbe mit lässigen oder unfähigen Gemeindegliedern zusammen tragen mußten; auch erschöpfte sich
der Boden in nicht wenigen Gegenden durch irrationelle Bewirtschaftung, kurz die Situation der russischen
Landwirtschaft ist eine nicht unbedenkliche und gibt den Sachverständigen seit Jahren Veranlassung, sich über die Bedrohung
der Zukunft und die Maßregeln zur Abhilfe auszusprechen.
Als eine nachträgliche Korrektur des Emanzipationsgesetzes von 1881 kann die 1883 ins Leben getretene
Bauernagrarbank angesehen werden, insofern dieselbe den Bauern, welche Grundbesitz zu erwerben wünschen, Geld unter Verpfändung
des zu kaufenden Landes vorschießt. Gleichzeitig unterstützt diese Bank die Übersiedelung der Bauern aus dicht bevölkerten
Gouvernements in dünner bevölkerte Gegenden mit fruchtbarem Boden. Bis zum haben 709 Bauern, 1583 Gemeinden und 2826 Genossenschaften
mit Hilfe der Bank Land erworben. Im ganzen haben 186,353 Familien mit 593,950 Seelen männlichen Geschlechts, also rund 1 Mill.
Seelen beiderlei Geschlechts, ihre ökonomische Lage durch Ankauf von 1,267 Mill. Deßjätinen für 61 Mill. Rub. mehr oder weniger
gebessert.
Was die Übersiedelung anlangt, so sind dazu die großen Krongüter im S. und SO., in den Gouvernements
Cherson, Jekaterinoslaw, Taurien, Samara, Saratow, Ufa und Orenburg, ausersehen, und eine mit der Regulierung dieser Angelegenheit
betraute Kommission ist bereits ernannt. Die Zahl der Übersiedler wurde 1883 auf 1,045,000 geschätzt; die durch den Wegzug
frei werdenden Grundstücke sollen dann den Zurückbleibenden zugeteilt werden. Schon seit Jahren haben
mehr
die Bauern aus eignem Antrieb begonnen, diese Übersiedelungen in Szene zu setzen. Namentlich aus den Gouvernements Tambow, Tula,
Orel, Rjäsan, Tschernigow, Poltawa, Kursk, Perm, Twer und Woronesh wanderten sie aus nach Sibirien, den oben genannten Gouvernements,
dem Kaukasus, dem Kuban etc.
Die Regierung thut in letzter Zeit viel, um den offenkundigen Schäden in der Landwirtschaft abzuhelfen.
Sie veranstaltet landwirtschaftliche Ausstellungen, sucht die Kenntnis landwirtschaftlicher Maschinen zu verbreiten, um intensivern
Bodenanbau zu ermöglichen, unternimmt Landeskulturarbeiten u. dgl.
m. In letzterer Beziehung sind namentlich die Trockenlegungen von Sümpfen zu nennen, die 1875-82 im nördlichen Rußland,
in den Gouvernements Nowgorod, St. Petersburg, Jaroslaw, Olonez und Pskow, stattgefunden haben. An den Kosten
dieser Unternehmungen beteiligen sich übrigens auch Landschaften und Private.
Vgl. Keußler, Zur Geschichte und Kritik des bäuerlichen
Gemeindebesitzes in Rußland (Petersb. 1876-86, 3 Bde.).
Der Ackerbau nimmt unter den Beschäftigungen der Bewohner Rußlands die bedeutendste Stelle ein. Obschon sein Gebiet teils
durch die Strenge des nördlichen Klimas, teils durch die Beschaffenheit des Bodens selbst beschränkt wird,
so erstreckt es sich doch immerhin im westlichen Teil des Reichs durch 20 Breitengrade und liefert Getreide über den eignen
Bedarf. Die landwirtschaftlich benutzte Fläche wird auf 164 Mill. Hektar angegeben. Davon kommen auf das eigentliche
Ackerland 104 Mill., auf Wiesen und Weiden 60 Mill. Das Brachland macht von ersterm 34 Mill. Hektar aus.
Wenn der Flächeninhalt des europäischen Rußland inkl. Polen (aber ohne Finnland) nach Abzug von Wasser und unbewohnten Inseln
auf 480 Mill. Hektar angenommen wird, so entfallen auf die Brache 7 Proz., auf Wiese und Weide 12, auf Ackerland
15, auf das Unland (Impedimente) 26, auf den Wald 40 Proz. Die Produkte des Ackerbaues sind weniger mannigfaltig, als die weite
Erstreckung seines Gebiets erwarten lassen sollte; das kontinentale Klima mit seiner Sommerwärme im N. und seiner Winterkälte
im S. einerseits und die Abwesenheit von Gebirgen anderseits geben dem ganzen weiten Raum eine gewisse Gleichförmigkeit
in Bezug auf die pflanzliche Produktion.
Die Haupterzeugnisse sind: Gerste, Hafer, Roggen und Weizen, denen sich in den südlichsten Strichen noch der Mais anschließt.
Die getreidereichsten Gouvernements sind: Poltawa, Charkow, Kiew, Tschernigow, Podolien, Wolhynien, Orel, Kursk, Woronesh, Tambow, Simbirsk,
Saratow, Pensa, die Ostseeprovinzen und Bessarabien. Die Kartoffel wird besonders viel in Esthland und Livland angebaut, wo die
Kartoffelbranntwein-Brennerei sehr entwickelt ist. Die Getreideproduktion des europäischen Rußland (ohne Polen) zeigt in
den letzten Jahren folgendes Bild. Der Reinertrag nach Abzug der Aussaat war in Millionen Hektoliter:
1883
1884
1885
bei Hafer
141.9
120.9
81.2
" Roggen
138.6
191.1
196.3
" Sommerweizen
46.0
53.3
22.0
" Gerste
34.1
36.1
24.6
" Buchweizen
19.9
16.8
7.8
" Hirse
16.6
15.1
7.1
" Winterweizen
13.9
22.9
22.7
" Mais
6.5
5.2
5.7
" Erbsen
5.2
3.8
2.3
" Spelz
3.4
2.9
1.9
" Kartoffeln
70.4
81.5
60.6
Der
gesamte Reinertrag an Getreide und Kartoffeln war demnach 1883: 495, 1884: 529, 1885: 435 Mill. hl. 1886 betrug die gesamte
Ernte an Wintergetreide 247 Mill. hl und blieb hinter dem Durchschnitt der letzten vier Jahre um 3,2 Mill. hl zurück;
dagegen
zeigte die Produktion von Sommergetreide eine Steigerung um 29,4 Mill. hl. In hohem Grad bemerkenswert ist
Rußlands Produktion an Flachs und Hanf.
Lein wird zur Deckung des Hausbedarfs wohl im ganzen Reich gesäet; als Handelspflanze
dagegen wird er nur in ganz bestimmten Rayons gebaut, nämlich in den nordöstlichen Gouvernements Wologda, Wjatka, Perm, Kostroma,
Wladimir, Nishnij Nowgorod und Kasan sowie in den westlichen Gouvernements Pskow, Livland, Kurland, Kowno, Wilna, Grodno, Minsk, Mohilew,
Witebsk, Smolensk, Twer und Nowgorod. In den Gouvernements Charkow, Cherson und Poltawa wird Lein namentlich zur Samengewinnung gezogen.
Die Jahresproduktion des europäischen Rußland wird auf etwa 2 1/5 Mill. Doppelztr. Flachsfaser
und über 4½ Mill. Doppelztr. Leinsaat geschätzt. Der Export von Flachs und Hede ist seit Anfang dieses
Jahrhunderts sehr gestiegen und betrug 1887: 1,68 Mill. Doppelztr.
(1886 nur 1,39 Mill.). An Leinsaat wurden 1887: 3 1/5 Mill. Doppelztr.
für 26,8 Mill. Rub. (1886 nur für 14½ Mill. Rub.) exportiert.
Vgl. A. Blau, Die Flachsproduktion und der
Flachshandel in Rußland 1888 (in russ. Sprache).
Die jährliche Hanfproduktion im europäischen Rußland kann auf mindestens 2 ⅔ Mill. Doppelztr.
angenommen werden, die Ausfuhr wertete im J. 1887: 20 Mill. Rub. Den Hanfbaurayon bilden hauptsächlich die Gouvernements Orel,
Tschernigow, Kursk, Smolensk, Kaluga, Mohilew, Tula, Rjäsan, Tambow. Der Kultur von Baumwolle begegnet man nur
in den südlichen Grenzgebieten des Reichs, in Transkaukasien und Turkistan. Das Produkt steht dem amerikanischen im allgemeinen
nach.
Eine große Bedeutung, hat für Rußland die Kultur der Zuckerrübe gewonnen, die erst seit Anfang dieses Jahrhunderts aufgekommen
ist. Gegenwärtig wird die Zuckerrübe in 15 Gouvernements des europäischen Rußland und in 9 polnischen
Gouvernements gebaut; das gesamte mit Rüben besäete Areal belief sich 1883 auf 297,000 Hektar. Das Zentrum dieser Kultur ist
das Gouvernement Kiew. Der Gesamtertrag an Rüben betrug 1885: 55 Mill. Doppelztr., welches Quantum in 241 Fabriken (davon ca. 70 im
Gouvernement Kiew) verarbeitet wurde. In der Kampagne 1885-86 wurden 3 ⅔ Mill. Doppelztr. weißer Rohzucker
und 400,000 Doppelztr. Raffinade produziert.
Der Anbau von Tabak hat in Rußland erst vor kurzem größere Verbreitung gefunden. 1885 zählte man 136,816 Tabakspflanzungen
(abgesehen von 15,729 in Sibirien und im Kaukasus), welche 486,000 Doppelztr. Tabak ergaben. In besonderm
Maß entwickelt ist der Tabaksbau in den kleinrussischen Gouvernements Tschernigow und Poltawa, wo namentlich die niedern Sorten
gezogen werden (von denen die »Machorka« die geschätzteste ist), sodann
in Bessarabien, welches die besten Tabaksorten, vornehmlich die türkischen, liefert. Die gesamte Tabaksfabrikation stellte
sich 1886 auf 655,000 Doppelztr.; im Betrieb waren 370 Fabriken. Der Zoll auf importierten Tabak wurde 1877 von
4½ Rub. auf 44 Rub. pro Pud gesteigert. Das neue Accisegesetz vom welches in Kraft trat, hat keine prinzipiellen
Neuerungen, sondern nur eine andre Tarifierung gebracht, welche für die höhern Sorten Zigarren und Zigarretten
eine Erniedrigung, für die
mehr
bessere Sorte Rauchtabak gleichgeblieben, für die niedern Sorten Rauchtabak dagegen eine Erhöhung ist.
Die Weinkultur wird im europäischen Rußland in den Gouvernements Bessarabien, Taurien, Astrachan und im Gebiet der Donischen Kosaken,
namentlich aber im Kaukasus betrieben. 1870 (neuere Daten liegen nicht vor) wurde das Quantum des gewonnenen Rebensafts auf
1,8 Mill. hl geschätzt. Der Export von Wein ist gering (1887: 85,000 Rub.), während der Import die Höhe
von 6,5 Mill. Rub. erreicht. Andre stark verbreitete Produkte des Pflanzenreichs sind: Kohl, Knoblauch, Gurken, Melonen, Arbusen,
Erbsen, Bohnen, Linsen, Spargel, Artischocken, Senf (Sarepta), Waid, Dill, Anis, Kümmel, Mohn, Kürbisse, Rettiche, Rüben etc.
Vorzügliche Wiesen und Heuschläge sind im äußersten Süden, in Kleinrußland und in den Ostseeprovinzen, wo der Anbau der
Futterkräuter große Verbreitung hat.
Vgl. Jermolow, Mémoire sur la production agricole (Petersb. 1878);
Wilson, Agriculture
et économie rurale en Russie (das. 1878).
Viehzucht.
Sehr groß ist Rußlands Reichtum an Haustieren, zu denen nicht nur Pferd, Rind, Schaf etc., sondern auch Renntiere
und Kamele gehören. Nach dem »Statistischen Jahrbuch« belief sich 1883 die Zahl der Pferde auf 17,880,792, der Rinder auf 23,628,031,
der gemeinen Schafe auf 37,349,857, der feinwolligen auf 9,374,879, der Schweine auf 9,361,980, der Ziegen auf 1 Mill. Stück.
Die Zahlen beziehen sich auf das europäische Rußland ohne Polen und Finnland. Renntiere gibt es namentlich
in den Kreisen Mesen und Kem des Gouvernements Archangel, wo 1878: 228,000 Stück gezählt wurden.
Kamele werden im europäischen Rußland in geringer Zahl von den krimschen Tataren und Nogaiern des Taurischen und Stawropolschen
Gouvernements gehalten. Die Pferde konzentrieren sich hauptsächlich in den mittlern Nichtschwarzerde-,
in den mittlern Schwarzerde- und den östlichen Wolgagouvernements, wo ihre Zahl 20-25 Proz. der Gesamtzahl
aller Pferde des europäischen Rußland ausmacht. Im Verhältnis zur Bevölkerung haben die östlichen Wolgagouvernements die
meisten, nämlich 33,3 Pferde auf 100 Einw. Sehr viel geschieht für die Verbesserung der Pferdezucht in
den Gestüten, die sowohl von der Regierung als auch von Privaten gehalten werden. 1888 gab es 6 Krongestüte mit 2443 Pferden,
unter welchen 81 Hengste.
Der Pferdehandel innerhalb des Reichs geht namentlich auf den Pferdejahrmärkten vor sich, deren in 471 Ortschaften 1090 jährlich
abgehalten werden sollen. Die Gesamtsumme, für welche auf ihnen Pferde zum Verkauf gelangen, wird auf 10 Mill.
Rub. geschätzt. Der Export bezifferte sich 1887 auf 20,600 Stück im Wert von 2,570,000 Rub. Das Rindvieh konzentriert sich ebenfalls
in den mittlern Nichtschwarzerde-Gouvernements, welche 22 Proz. der Gesamtzahl beanspruchen. Im
Verhältnis zur Bevölkerung nehmen die südlichen Steppengouvernements mit 61,2 Stück auf 100 Einw. die
erste Stelle ein.
Der Export an lebendem Vieh betrug 1887: Ochsen und Kühe 43,700 Stück im Wert von 3,071,000 Rub., Kälber 1900 Stück im Wert
von 11,000 Rub. Schafzucht wird namentlich in den Schwarzerde-Gouvernements betrieben, wo 70,6 Proz. aller Schafe nachgewiesen
sind. Im Verhältnis zur Bevölkerung findet man die meisten (206 Stück auf 100 Einw.) in den südlichen Steppengouvernements.
Der Export von Schafen war 1887: 252,600 Stück für 1,266,000 Rub. Die größte Zahl von Schweinen ist in den mittlern Schwarzerde-Gouvernements
vorhanden,
welche 29,4 Proz. der Gesamtzahl beanspruchen. Im Verhältnis zur Bevölkerung stehen jedoch
die westlichen Gouvernements in ihrer Schweinezahl mit 22,5 Stück auf 100 Einw. obenan.
Die Ausfuhr belief sich 1887 auf 62,800 Stück für 1,619,000 Rub. Die Geflügelzucht ist am meisten entwickelt in den polnischen
und westlichen Gouvernements. In Pskow, Nowgorod, Olonez, Wologda und Archangel züchtet man vornehmlich Wasservögel. Die
Bienenzucht, die früher stark entwickelt war, ist in manchen Gegenden sehr zurückgegangen, so namentlich in Kleinrußland,
Podolien und in den nördlichen Teilen Neurußlands. Die Gartenbienenzucht ist in den mittlern und schwarzerdigen Gouvernements,
besonders in Kleinrußland und Litauen, zu Hause.
In den Gouvernements Poltawa und Jekaterinoslaw zählt man 4-500,000 Bienenstöcke, in Bessarabien etwa 900,000,
in Wolhynien 226,000, im Gebiet des Donischen Heers ca. 40,000. Die Waldbienenzucht herrscht noch in den weiten Waldungen an den
Abhängen des Urals, in den nordöstlichen Gouvernements, in Kostroma, Kasan, Simbirsk, Nishnij Nowgorod, Samara und Ufa. In Sibirien
ist die Bienenzucht auf dem Altai, im Kaukasus in Imerethi und Grusien am meisten verbreitet.
Der jährliche Ertrag an Honig im ganzen Reich wird auf 16 ⅓ Mill. kg geschätzt im Wert von 7-10 Mill. Rub., an Wachs auf 3-5
Mill. kg im Wert von 4-6 Mill. Rub. Der auswärtige Handel mit Produkten der Bienenzucht ist höchst unbedeutend, es
werden jährlich für etwa 200,000 Rub. Wachs und Honig exportiert. Die Seidenraupenzucht gerät von Jahr zu Jahr mehr in Verfall,
und die gesamte Produktion von Seide beträgt nicht mehr als 164 kg jährlich. Von weit größerer Bedeutung ist sie in Transkaukasien
und Turkistan, wo der Ertrag (mit Einschluß von Chiwa und Bochara) jährlich auf ⅔ Mill. kg Seide geschätzt
wird. Trotzdem beträgt die Einfuhr von Seide (aus Italien, Frankreich etc.) 1887: 7,7 Mill. Rub. Gegenstand der Viehzucht ist
auch im N. Rußlands noch das Renntier, im S. der Büffel und im Astrachanschen das Kamel.
Fischerei.
Rußlands Fischereien haben einen großen Aufschwung genommen, seit 1855 mit der Einführung der künstlichen
Fischzucht begonnen wurde. Die Hauptanstalt ist die nach dem Muster der in Hüningen (Elsaß) bestehenden eingerichtete in Nikolskoje,
einem Gut W. P. Wraßkys im Kreis Demjansk des Gouvernements Nowgorod. Von hier aus beziehen die seit 1871 besonders von Privaten
zahlreich angelegten Piscinen befruchteten Rogen und junge Fischchen. Die Meere bieten den Russen verhältnismäßig
wenig wichtige Fische, wohl aber sind die Binnengewässer und Flüsse sehr reich.
Nur in den obern und stellenweise in den mittlern Läufen der Flüsse ist eine Abnahme dieses Fischreichtums bemerkbar; in
den untern Läufen trifft man noch teilweise den ursprünglichen Reichtum, wie im Wolgadelta, dem Kur, den
sibirischen Flüssen. Das ganze Bassin des Kaspischen Meers mit allen seinen Zuflüssen gibt gegenwärtig nach Professor O. Grimm
weit über 4 Mill. Doppelzentner Fischware jährlich. Den Gesamtertrag der Fischerei in den Gewässern des europäischen Rußland
schätzt derselbe Gelehrte auf ca. 6½ Mill. Doppelzentner jährlich. Einer der hauptsächlichsten Märkte
ist Zarizyn (s. d.). Unter den exportierten Fischereiprodukten steht der Kaviar obenan; 1887 gelangte Kaviar im Gesamtwert von 2 Mill.
Rub. zur Ausfuhr. Der ganze Fischexport zeigt in den letzten zehn