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später ward manches direkt aus dem Griechischen in das Russische [* 2] übertragen, und so findet man diese Litteratur in den verschiedenen Kodices bis ins 17. Jahrh. hinab; im Volk aber lebt manches bis heute noch. In der Mitte des 11. Jahrh. lebte auch Nestor, der Vater der russischen Geschichtschreibung, ein Kiewer Mönch, von dem die älteste Chronik Rußlands stammt (s. Nestor). Die Quellen dieser Chronik sind byzantinische Chronikschreiber, einzelne Sagen, Heiligengeschichten und Aussagen von Zeitgenossen.
Ende des 11. Jahrh. entstand das Lied vom »Heereszug Igors gegen die Polowzer«, das vielleicht von einem Zeitgenossen des Helden gedichtet wurde. Es enthält Spuren der Volksdichtung sowie der damals sehr einflußreichen bulgarischen Litteratur und ist ein Gelegenheitsgedicht vom größten poetischen Schwung (vgl. Igor). Um diese Zeit kamen die Tataren über Rußland und legten ihm ein schweres Joch auf, dessen Wucht von allen europäischen Ländern Rußland allein auf sich nehmen mußte und über drei Jahrhunderte ertrug.
Kaum erhielten sich spärliche Reste der Kultur in den vom byzantinischen Einfluß beherrschten Klöstern, und auch nach der Befreiung von den Tataren erholte sich Rußland nur langsam unter der Leitung Moskaus. Aber es war nicht mehr das frühere Rußland der Kiewschen und Nowgorodschen Tage. Die despotische Herrschaft der asiatischen Völker hatte auch der moskauischen Zeit ihren Stempel aufgedrückt. Endlich, mit dem 16. Jahrh., bahnt sich neue Aufklärung langsam den Weg.
Iwan IV. Wasiljewitsch (1534-84) ließ in den Städten Schulen anlegen und errichtete 1564 die erste russische Buchdruckerei in Moskau. [* 3] Ein litterarisches Denkmal der Bildung und Zustände jener Zeit bildet der »Domostrói« (d. h. Das Buch von der Haushaltung),
ein Kodex praktischer Lebensweisheit und bürgerlicher Moral, zusammengestellt und teilweise auch verfaßt von dem wohlwollenden Ratgeber des später grausamen Zaren Silvester (vgl. Brückner in der »Russischen Revue«, Bd. 4). Das in der Kultur weiter vorgerückte Polen übte durch Kiew [* 4] in litterarischer Beziehung Einfluß auf Rußland aus, wobei es freilich nicht fehlen konnte, daß nach der Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit Polen im 16. Jahrh. das fremde Sprachelement mehr und mehr Eingang fand und der rein nationalen Entwickelung der Sprache [* 5] und Litteratur im südwestlichen Rußland Eintrag that.
Die Reformation in Deutschland [* 6] fand in Polen einen Widerhall, wurde aber von den herbeigerufenen und sich in den Schulen festsetzenden Jesuiten verdrängt; durch diese wurden denn auch die Schulen im südwestlichen Rußland geleitet. Ihrem Einfluß erwuchs im 17. Jahrh. zuerst ein Feind in Petrus Mogilas (gest. 1688), einem merkwürdigen, vielgereisten, in Paris [* 7] und an andern Universitäten gebildeten Mann, der dem in Kiew schon vorhandenen russischen Kollegium eine größere Bedeutung verlieh, Bildung und Wissenschaft hob und gelehrte Werke von geistlich-kirchlichem Inhalt sowie auch Gedichte nach polnischer Verskunst verfaßte.
Petrus Mogilas und seinen Nachfolgern gelang es, sich bald vom Einfluß der Jesuiten zu befreien; es ward diesen untersagt, in den Schulen Südwestrußlands zu lehren. Mit der Befreiung Kleinrußlands (nebst der Hauptstadt Kiew) von der polnischen Herrschaft und seiner Anlehnung an Großrußland machte sich der Einfluß Kiewer Gelehrten erst recht fühlbar. Durch sie drang ein Hauch europäischer Wissenschaft nach Moskau, und noch Peter d. Gr. bediente sich ihrer, bevor er die Lehrkräfte direkt aus Europa [* 8] erlangen konnte. Aus der Zahl der Kiewer Gelehrten, welche nach Großrußland kamen, sind namentlich Simeon Polozkij (gest. 1682) und der heil. Dmitrij Rostowskij (gest. 1709) zu erwähnen.
Durch ihren Einfluß wurde 1679 in Moskau ein Kollegium (»slawonisch-griechisch-lateinische Akademie«) gegründet; ja, unter dem Zaren Alexei Michailowitsch (Vater Peters d. Gr.) finden sich sogar Spuren von weltlichen Dramen, welche im Haus des aufgeklärten Bojaren Artemon Sergejewitsch Matwejew aufgeführt wurden. Ein großer Fortschritt war es, daß bei diesen Vorstellungen auch seine Frau und Pflegetochter Natalie Naryschkin (später Zarin und Mutter Peters d. Gr.) zugegen sein und sich mit den Gesandten oder Reisenden unterhalten durften. Dramen weltlichen Inhalts dichtete Feofan Prokopowitsch (1681-1736), der gewandte Schriftsteller und Ratgeber Peters d. Gr. (vgl. Tschistowitsch, F. Prokopowitsch und seine Zeit, in der »Sammlung von Aufsätzen der russischen Akademie etc.«, 1868).
Das 18. Jahrhundert.
Mit Peter d. Gr. beginnt eine neue Periode der russischen Litteratur. Es ist bereits oben bemerkt worden, daß dieser Monarch Theaterstücke aufführen ließ und diese sowie andre litterarische Werke benutzte, um seine Reformen zu unterstützen. Der Zar hatte persönlich nicht wenig Einfluß auf die Schriftsprache, welche unter ihm sich von den Fesseln des Kirchenslawischen mehr und mehr befreite. Das gewaltsame Herausreißen Rußlands aus dem alten Geleise, das Ausbilden von neuen Kräften in Person junger Leute, welche im Ausland oder von Ausländern erzogen wurden, gab zu der merkwürdigen Erscheinung Veranlassung, daß die neue russische Litteraturperiode sofort mit der Satire, mit der Kritisierung der gegebenen Verhältnisse, begann, demnach eine negative und zugleich belehrende didaktische Richtung annahm, die ihr lange eigen blieb. Als erster Dichter der neuen Epoche wird der Fürst Antiochus Kantemir (1708-1744) genannt, Sohn des moldauischen Hospodars Demetrius Kantemir. Er war in Paris erzogen worden, und die dort erhaltene Bildung, welche ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse in seiner Heimat wunderlich erscheinen ließ, machte aus ihm einen Satiriker. Sein Versmaß ist aber noch das polnische oder französische. Sein gelehrter Nachfolger Wasilij Trediakowskij (gest. 1769) wies bereits auf die Notwendigkeit für die russische Verskunst hin, sich an den Rhythmus des russischen Volksliedes zu halten; doch war er selbst zu talentlos, um durchzugreifen.
Erst seinem vielseitig begabten Nebenbuhler Michael Lomonossow (1711-65) gelang es, eine durchgreifende Reform in der Sprache und namentlich im Versmaß vorzunehmen. Lomonossow ist als Schöpfer der russischen Metrik anzusehen. Während seiner Studentenjahre in Deutschland hatte er sich an den Oden Günthers herangebildet. Aus naturwüchsigem Geschlecht vom Weißen Meer stammend, ward er trotz der in Europa genossenen Bildung ein fanatischer Patriot und als Mitglied der Petersburger Akademie das Haupt der deutschfeindlichen Partei.
Übrigens steht er als Gelehrter und Denker weit höher denn als Dichter. Lomonossows Zeitgenosse Alex. Sumarokow (1718-77), der erste russische Dichter, der kein Amt annahm, um bloß als Schriftsteller zu wirken, und sich voll Selbstbewußtsein für den russischen Voltaire hielt, schrieb bühnengerechte Tragödien nach französischen Mustern in Alexandrinern (die ersten ständigen russischen Theater [* 9] wurden 1756 in Petersburg [* 10] und 1759 in Moskau gegründet), versuchte ¶
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sich aber auch, wie fast alle Poeten jener Zeit, in andern Dichtungsarten. Ihm zur Seite als Dramatiker steht der talentvolle Jakow Knjashnin (1742 bis 1791), dessen letztes Drama jedoch von der Kaiserin Katharina II. verboten wurde, weil es die Vernichtung der Republik Nowgorod durch den moskowitischen Absolutismus darstellte. Als Knjashnin dieses Drama schrieb, war die große französische Revolution im vollen Gang, [* 12] und die liberale Kaiserin, welche früher die Bewunderung Voltaires und der freisinnigsten Encyklopädisten hervorgerufen hatte, erschrak jetzt vor jeder freien Regung des Geistes.
Der Regierungsanfang Katharinas II. (1762) schien überaus günstig für die Entwickelung der Litteratur. Sie fand es für angemessen, die wichtigsten sozialpolitischen Fragen von der Litteratur berührt zu wissen, gründete eine Reihe von satirischen Blättern, unterstützte junge Talente und schrieb selbst Komödien, Novellen u. dgl. Noch 1783 erließ sie einen Ukas über die Zulassung freier Privatbuchdruckereien, um dadurch die Volksbildung zu heben. Zu derselben Zeit wirkten in Moskau Nikolai Nowikow (1744-1818) und dessen leider bald hingeschiedener Freund Johann Schwartz (erst seit 1776 in Rußland, gest. 1784) sehr förderlich für Litteratur und Bildung.
Sie gründeten Druckereien, Bibliotheken, Buchhandlungen, Zeitschriften und den »Freundschaftlichen Verein von Gelehrten«, welcher die talentvollsten und gebildetsten Leute in ganz Rußland zu Mitgliedern zählte. Die Wirkung war groß. Wenn vor Nowikow Moskau bloß zwei Buchläden besaß, welche für die Summe von 10,000 Rubel Bücher verkauften, so waren am Ende von Nowikows Thätigkeit 20 Buchhandlungen vorhanden, die jährlich für 200,000 Rub. Bücher in Umlauf setzten.
Außerdem wurden zahlreiche Bücher (meist Übersetzungen) von Nowikow unentgeltlich im ganzen Reich verteilt. Die satirisch didaktischen Komödien der Kaiserin Katharina fanden einen meisterhaften Fortsetzer in Denis v. Wisin (gest. 1792), dem Verfasser der Stücke: »Muttersöhnchen« (»Nedorossl«) und »Brigadier«, worin die Sucht der Zeitgenossen, trotz innerer Geistesarmut europäisch gebildet zu scheinen und das Eigne zu vernachlässigen, scharf gegeißelt wird.
Das bedeutendste poetische Talent jener Zeit offenbarte sich aber in dem Hofdichter Gabriel Dershawin (1743-1816), welcher die Zarin in seiner »Feliza« verherrlichte. Am berühmtesten ist seine Ode »An Gott«, die in alle europäischen Sprachen übersetzt wurde, im übrigen aber mehr ein rhetorisches, nur hier und da mit Perlen echter Poesie geziertes Stück ist. Ein ungewöhnliches Talent ist Dershawin nicht abzusprechen, doch kam es wohl aus Mangel an guten Vorbildern und bei noch sehr unentwickelter Litteratursprache nicht recht zur Geltung; seine Lieder stehen dem Volk fern. In die Nowikowsche Gesellschaft, die von allen Seiten junge talentvolle Leute an sich zog, sie belehrte und zu ernster litterarischer oder sonstiger das gemeine Wohl fördernder Thätigkeit anleitete, trat auch der jugendliche Karamsin (1765-1826), dessen litterarisches Wirken epochemachend wurde.
Zuerst mit Übersetzungen und Schriften für die Jugend beschäftigt, wurde er bald zu seiner weitern Ausbildung nach dem Westen Europas gesandt, und diese Abwesenheit förderte nicht nur in gewünschter Weise seine geistige Entwickelung, sondern rettete ihn persönlich auch von großer Gefahr, welche bald nach seinem Weggang über seine Moskauer Freunde hereinbrach. Katharinas früheres pseudoliberales System hatte sich in ein streng repressives verwandelt; die früher von ihr beförderten Privatdruckereien wurden geschlossen, die Einfuhr ausländischer Bücher untersagt und in den Residenzen wie in den Grenzstädten geistliche und weltliche Zensur eingerichtet.
Die Nowikowsche Gesellschaft war schon vorher aufgehoben, Nowikow selbst aber eingekerkert worden. Sogleich nach der Rückkehr von seiner Reise (1790) veröffentlichte Karamsin seine berühmten »Briefe eines russischen Reisenden«, aus denen ein ganz neuer Geist wehte. Bis dahin kannte man die europäischen Verhältnisse und großen Männer der Kunst und Wissenschaft nur vom Hörensagen aus mangelhaft übersetzten Büchern, und man hielt sich für europäisch gebildet, wenn man die Franzosen in ihrer Kleidung und pseudoklassischen Litteratur nachäffte.
Jetzt führte Karamsin in seinen Briefen Natur und Gesellschaft des Westens in treuen und lebensvollen Schilderungen den Russen vor. Seine Beobachtungen, das persönliche Zusammentreffen mit den Koryphäen der europäischen Wissenschaft und Litteratur stellte den Leser sozusagen von Angesicht zu Angesicht mit dem, was er bis dahin sich nur unvollkommen vergegenwärtigen konnte. Dabei war die Sprache eine leichte und gefällige, glücklich kontrastierend mit der noch immer stark slawonisch gefärbten, schweren Schriftsprache.
Karamsin gründete eine Monatsschrift: »Wesnik Jewropy« (»Der europäische Bote«),
in welcher er litterarwissenschaftliche Mitteilungen machte und fortfuhr, seine Landsleute zu belehren. Wenn er auch oft über den Druck der Zensur klagt, so gelang es ihm doch nicht selten, dem Verbot der Verbreitung und Übersetzung fremder Werke zuwiderzuhandeln. Übrigens bildete sich eine starke konservative Partei gegen ihn mit Schischkow, dem Präsidenten der Akademie, an der Spitze, und es entbrannte ein Kampf, an dem sich alles beteiligte, in dem aber doch alle frischen Kräfte auf der Seite Karamsins standen.
Durch letztern wurden die sentimentale Dichtung und das bürgerliche Drama in Rußland eingeführt und der Kampf gegen den Pseudoklassizismus eröffnet mit seiner Novelle »Rédnja Lísa« (»Die arme Lisa«),
welche Tausende rührte und ganze Wallfahrten nach dem Orte der Handlung, unweit Moskau, veranlaßte. In ihm erhielt Rußland auch einen Geschichtschreiber, welcher zuerst die ganze Geschichte des Reichs nach den Quellen bearbeitete. Der Schwerpunkt [* 13] seiner litterarischen Thätigkeit fällt in die Regierungsjahre Kaiser Alexanders I. und somit bereits in das 19. Jahrh., denn die kurze Dauer der Regierung Pauls war jeder geistigen Entwickelung noch mehr abhold als die letzte Zeit der Herrschaft Katharinas, so daß nach dem Ausdruck Karamsins mit der Thronbesteigung Alexanders »die Musen [* 14] den lange getragenen Trauerflor endlich ablegen konnten«.
Karamsin zur Seite stand sein Jugendfreund Iwan Dmitrijew (1760-1837), der mit seinem Vorgänger Iwan Chemnitzer (1745-84) als Vorläufer Krylows in der Fabeldichtung zu betrachten ist. Als Tragödiendichter ist Oserow (1769-1816) zu nennen, der seine Helden französisch drapierte, wenn er auch hier und da zu deutschen und englischen Mustern griff. Als Dichter ungleich höher als Karamsin steht sein jüngerer Zeitgenosse Wasilij Shukowskij (1783 bis 1852), welcher sich noch in den litterarischen Kreisen Nowikows entwickelt hatte, viel mit Karamsin verkehrte und arbeitete, manche Lanze für ihn brach und, wie dieser die sentimentale Dichtung, so seinerseits die Romantik in Rußland einführte. Hat er auch, in das Studium der deutschen und englischen Dichter versunken, mehr diese übersetzt als ¶