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also von dem Augenblick an, da Rußland in den Bund der europäischen Völker eintritt, im Auge. [* 2] Als moderner Staat beruht Rußland nicht auf der Stände- und Korporationsverschiedenheit, sondern auf andern Elementen, über die hier ausführlich zu sprechen nicht am Platz wäre. Schon Katharina II. erkannte diese Thatsache, denn sie gedachte, was natürlich nie gelingen konnte, auf künstlichem Weg das Dasein von Ständen hervorzurufen. Die Wege des gesellschaftlichen und staatlichen Wachstums sind demnach in Rußland andre, und somit muß auch ein andres Verfahren beim Studium desselben angewandt werden.
Rußland entbehrte sozialer und politischer Parteien in dem Sinn, in welchem wir sie in andern europäischen Staaten finden. In diesen ist der Kampf und das Wechselinteresse der Korporationen und Stände der Boden, auf welchem Gesellschaft und Staat, Litteratur und Recht, überhaupt der ganze ethische Bau, erwuchsen; die Bildung tritt sozusagen als letztes Wort der westeuropäischen Zivilisation auf, sie ist vor allem das Resultat sozialpolitischen Lebens. Umgekehrt ist es in Rußland: da fängt das eigentliche sozialpolitische Leben erst mit der Bildung an. Während in Europa [* 3] die Parteien durch das ständische und korporative Interesse gebildet werden, sich gruppieren und ihre eignen Organe wählen oder gründen, sind es in Rußland die Presse [* 4] und die Organe der Litteratur, welche neue Parteien ins Leben rufen und ihre Existenz bedingen.
Die sozialpolitischen Parteien entstehen erst mit der hereinbrechenden Bildung, und lediglich durch die Einflüsse der Litteratur werden alle sozialen Bewegungen geleitet. Während in Europa jedes wirkende Individuum Repräsentant eines Standes oder einer Korporation war und durch sie oder ihre Rechte unterstützt wurde, vermochte in Rußland das Individuum immer nur als solches zu wirken, nicht als Repräsentant einer Gattung. Solche Leute gingen aber in der Geschichte Rußlands fast spurlos verloren, bis durch die vom Westen hereindringende Bildung neue Wirkungswege sich öffneten.
In der Litteratur und nur durch diese konnten jetzt Gedankenumtausch und Einfluß sich geltend machen. Es ist demnach begreiflich, daß der Dichter und Litterat in Rußland von jeher so großen Einfluß ausübten, und daß nur wenige der bedeutenden Männer auf dem Gebiet der Litteratur in Rußland ungestört durch Verbannung und administrative Maßregelung ihre Tage beschließen konnten. Die größten Monarchen unterstützten ihre wichtigsten Reformen durch Litteraturerzeugnisse, die sie teils selbst verfaßten, teils von andern verfassen ließen; so Peter d. Gr. und Katharina II. Ersterer veranlaßte theatralische Aufführungen, in denen er die Feinde seiner Neuerungen persiflierte, und ließ den hochgebildeten Priester Teosan Prokopowitsch in Predigt und Schrift für dieselben eine Lanze brechen; Katharina gründete satirische Journale und schrieb selbst Theaterstücke und Abhandlungen, die aufgeführt und veröffentlicht wurden. In Rußland ist es somit das Niveau und die Richtung der Bildung, was die Menschen gruppiert und sozialpolitische Parteien bedingt.
Man kann jahrelang in einem Kreis [* 5] verkehren, ohne auch nur zu ahnen, ob dieses oder jenes Mitglied adligen oder andern Standes ist; man fragt nur, welcher Bildungsrichtung es angehört. Daher kommt es auch, daß in einem zu der großen Masse der ungebildeten verhältnismäßig so wenig zivilisierten Land wie Rußland eine so große Zahl von monatlichen Zeitschriften oder Revuen (ähnlich der »Revue des Deux Mondes« oder »Deutschen Rundschau«) erscheint. Es sind dies Bücher von ca. 30 Druckbogen litterarisch-politischen Inhalts, als deren wichtigste (von den Zeitungen und Wochenschriften abgesehen) wir hier sofort nennen: »Westnik Jewropy« (»Europäischer Bote«),
»Otetschestwennyja Sapiski« (»Vaterländische Annalen«),
»Russkij Westnik« (»Russischer Bote«),
»Russkaja Mysl« (»Russisches Geistesleben«),
»Russkaja Rehtsch« (»Das russische Wort«) etc. Um diese Journale gruppieren sich die eigentlichen sozialen Parteien. Da die Rechtsverhältnisse von jeher das praktische Wirken hemmten und der zivilisatorische Fortschritt nur auf dem Gebiet der Litteratur ausgefochten werden konnte, so hat allmählich selbst die schöne Litteratur eine sozial-ethische Bedeutung erlangt und zwar in dem Grade, daß eine rein ästhetische Behandlung der Litteraturgeschichte zu einer Unmöglichkeit geworden ist.
Anderseits ist das Studium derselben sehr erschwert durch den Umstand, daß das Vorhandensein einer Zensur die Schriftsteller nötigt, so zu schreiben, daß man zwischen den Zeilen zu lesen gezwungen ist, was wiederum zu vielen Mißverständnissen verleitet oder einem Fernstehenden ganz unverständlich bleiben muß. Die Virtuosität in derartigem Schreiben und Lesen ist so groß, daß die Regierung sich oftmals veranlaßt fand, gegen Schriftsteller, deren Erzeugnisse die Zensur bereits passiert hatten, doch noch auf administrativem Weg einzuschreiten und sie für den verborgenen Sinn ihrer Schriften zu maßregeln.
Die Litteratur bis auf Peter d. Gr.
Über die ältere Volkslitteratur werden wir weiter unten sprechen, da die Epen und Lieder der alten, noch vortatarischen Zeiten Rußlands erst zu Anfang des 19. Jahrh. ernstlich gesammelt worden sind und zwar in verschiedenen Gegenden des Reichs, wo sie noch heutzutage, natürlich mit mannigfaltigen Verstümmelungen, in dem Munde des Volkes leben. Was die Kunstlitteratur anbetrifft, so ist diese von den Donauslawen nach Rußland hinübergekommen und zwar erst mit der Einführung des Christentums (988). Es war um 855, daß zwei griechische Mönche, Cyrillus und Methodius, es unternahmen, hauptsächlich aus den griechischen, dann auch wohl aus den hebräischen, armenischen und koptischen Schriftzeichen das slawische Alphabet zusammenzustellen (vgl. Krek, Einleitung der slawischen Litteraturgeschichte, Graz [* 6] 1874). Mit dem Christentum kamen dann auch das Alphabet und Bücher kirchlichen Inhalts nach Rußland.
Sie waren bulgarisch geschrieben, untermischt mit dem damals dem Bulgarischen sehr nahestehenden Südrussischen, und bildeten die Schriftsprache (Kirchenslawisch), welche bis heutzutage in den Kirchen gebraucht und von jedem, auch dem ungebildeten Russen wohl verstanden wird (s. Bulgarische Sprache). Das älteste Sprachdenkmal bildet das Evangelium von Ostromir (hrsg. mit Glossar von Wostokow). Die vorhandene Handschrift (aus dem Jahr 1056-57) wurde für den Präsidenten (Possadnik) der Republik Nowgorod angefertigt und ist nach Wochen und Tagen in Abschnitte geteilt, wie sie in den Kirchen gelesen werden.
Sodann der »Isbornik von Swjatoslaw« (1073), die Bearbeitung eines Panegyrikus auf den bulgarischen Zaren Simeon. Durch die Vermittelung der Bulgaren erhielt Rußland eine Flut von geistlichen Legenden und weltlichen Sagen, welche oft aus Byzanz oder selbst aus dem Morgenland stammten, ein wunderliches Durcheinander von Apokryphen, Geschichte, Mythologie und heiligen Legenden. So spielten z. B. die Sagen von Alexander d. Gr. und dem Trojanischen Krieg darin ihre Rolle; ¶
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später ward manches direkt aus dem Griechischen in das Russische [* 8] übertragen, und so findet man diese Litteratur in den verschiedenen Kodices bis ins 17. Jahrh. hinab; im Volk aber lebt manches bis heute noch. In der Mitte des 11. Jahrh. lebte auch Nestor, der Vater der russischen Geschichtschreibung, ein Kiewer Mönch, von dem die älteste Chronik Rußlands stammt (s. Nestor). Die Quellen dieser Chronik sind byzantinische Chronikschreiber, einzelne Sagen, Heiligengeschichten und Aussagen von Zeitgenossen.
Ende des 11. Jahrh. entstand das Lied vom »Heereszug Igors gegen die Polowzer«, das vielleicht von einem Zeitgenossen des Helden gedichtet wurde. Es enthält Spuren der Volksdichtung sowie der damals sehr einflußreichen bulgarischen Litteratur und ist ein Gelegenheitsgedicht vom größten poetischen Schwung (vgl. Igor). Um diese Zeit kamen die Tataren über Rußland und legten ihm ein schweres Joch auf, dessen Wucht von allen europäischen Ländern Rußland allein auf sich nehmen mußte und über drei Jahrhunderte ertrug.
Kaum erhielten sich spärliche Reste der Kultur in den vom byzantinischen Einfluß beherrschten Klöstern, und auch nach der Befreiung von den Tataren erholte sich Rußland nur langsam unter der Leitung Moskaus. Aber es war nicht mehr das frühere Rußland der Kiewschen und Nowgorodschen Tage. Die despotische Herrschaft der asiatischen Völker hatte auch der moskauischen Zeit ihren Stempel aufgedrückt. Endlich, mit dem 16. Jahrh., bahnt sich neue Aufklärung langsam den Weg.
Iwan IV. Wasiljewitsch (1534-84) ließ in den Städten Schulen anlegen und errichtete 1564 die erste russische Buchdruckerei in Moskau. [* 9] Ein litterarisches Denkmal der Bildung und Zustände jener Zeit bildet der »Domostrói« (d. h. Das Buch von der Haushaltung),
ein Kodex praktischer Lebensweisheit und bürgerlicher Moral, zusammengestellt und teilweise auch verfaßt von dem wohlwollenden Ratgeber des später grausamen Zaren Silvester (vgl. Brückner in der »Russischen Revue«, Bd. 4). Das in der Kultur weiter vorgerückte Polen übte durch Kiew [* 10] in litterarischer Beziehung Einfluß auf Rußland aus, wobei es freilich nicht fehlen konnte, daß nach der Vereinigung des Großfürstentums Litauen mit Polen im 16. Jahrh. das fremde Sprachelement mehr und mehr Eingang fand und der rein nationalen Entwickelung der Sprache [* 11] und Litteratur im südwestlichen Rußland Eintrag that.
Die Reformation in Deutschland [* 12] fand in Polen einen Widerhall, wurde aber von den herbeigerufenen und sich in den Schulen festsetzenden Jesuiten verdrängt; durch diese wurden denn auch die Schulen im südwestlichen Rußland geleitet. Ihrem Einfluß erwuchs im 17. Jahrh. zuerst ein Feind in Petrus Mogilas (gest. 1688), einem merkwürdigen, vielgereisten, in Paris [* 13] und an andern Universitäten gebildeten Mann, der dem in Kiew schon vorhandenen russischen Kollegium eine größere Bedeutung verlieh, Bildung und Wissenschaft hob und gelehrte Werke von geistlich-kirchlichem Inhalt sowie auch Gedichte nach polnischer Verskunst verfaßte.
Petrus Mogilas und seinen Nachfolgern gelang es, sich bald vom Einfluß der Jesuiten zu befreien; es ward diesen untersagt, in den Schulen Südwestrußlands zu lehren. Mit der Befreiung Kleinrußlands (nebst der Hauptstadt Kiew) von der polnischen Herrschaft und seiner Anlehnung an Großrußland machte sich der Einfluß Kiewer Gelehrten erst recht fühlbar. Durch sie drang ein Hauch europäischer Wissenschaft nach Moskau, und noch Peter d. Gr. bediente sich ihrer, bevor er die Lehrkräfte direkt aus Europa erlangen konnte. Aus der Zahl der Kiewer Gelehrten, welche nach Großrußland kamen, sind namentlich Simeon Polozkij (gest. 1682) und der heil. Dmitrij Rostowskij (gest. 1709) zu erwähnen.
Durch ihren Einfluß wurde 1679 in Moskau ein Kollegium (»slawonisch-griechisch-lateinische Akademie«) gegründet; ja, unter dem Zaren Alexei Michailowitsch (Vater Peters d. Gr.) finden sich sogar Spuren von weltlichen Dramen, welche im Haus des aufgeklärten Bojaren Artemon Sergejewitsch Matwejew aufgeführt wurden. Ein großer Fortschritt war es, daß bei diesen Vorstellungen auch seine Frau und Pflegetochter Natalie Naryschkin (später Zarin und Mutter Peters d. Gr.) zugegen sein und sich mit den Gesandten oder Reisenden unterhalten durften. Dramen weltlichen Inhalts dichtete Feofan Prokopowitsch (1681-1736), der gewandte Schriftsteller und Ratgeber Peters d. Gr. (vgl. Tschistowitsch, F. Prokopowitsch und seine Zeit, in der »Sammlung von Aufsätzen der russischen Akademie etc.«, 1868).
Das 18. Jahrhundert.
Mit Peter d. Gr. beginnt eine neue Periode der russischen Litteratur. Es ist bereits oben bemerkt worden, daß dieser Monarch Theaterstücke aufführen ließ und diese sowie andre litterarische Werke benutzte, um seine Reformen zu unterstützen. Der Zar hatte persönlich nicht wenig Einfluß auf die Schriftsprache, welche unter ihm sich von den Fesseln des Kirchenslawischen mehr und mehr befreite. Das gewaltsame Herausreißen Rußlands aus dem alten Geleise, das Ausbilden von neuen Kräften in Person junger Leute, welche im Ausland oder von Ausländern erzogen wurden, gab zu der merkwürdigen Erscheinung Veranlassung, daß die neue russische Litteraturperiode sofort mit der Satire, mit der Kritisierung der gegebenen Verhältnisse, begann, demnach eine negative und zugleich belehrende didaktische Richtung annahm, die ihr lange eigen blieb. Als erster Dichter der neuen Epoche wird der Fürst Antiochus Kantemir (1708-1744) genannt, Sohn des moldauischen Hospodars Demetrius Kantemir. Er war in Paris erzogen worden, und die dort erhaltene Bildung, welche ihm die gesellschaftlichen Verhältnisse in seiner Heimat wunderlich erscheinen ließ, machte aus ihm einen Satiriker. Sein Versmaß ist aber noch das polnische oder französische. Sein gelehrter Nachfolger Wasilij Trediakowskij (gest. 1769) wies bereits auf die Notwendigkeit für die russische Verskunst hin, sich an den Rhythmus des russischen Volksliedes zu halten; doch war er selbst zu talentlos, um durchzugreifen.
Erst seinem vielseitig begabten Nebenbuhler Michael Lomonossow (1711-65) gelang es, eine durchgreifende Reform in der Sprache und namentlich im Versmaß vorzunehmen. Lomonossow ist als Schöpfer der russischen Metrik anzusehen. Während seiner Studentenjahre in Deutschland hatte er sich an den Oden Günthers herangebildet. Aus naturwüchsigem Geschlecht vom Weißen Meer stammend, ward er trotz der in Europa genossenen Bildung ein fanatischer Patriot und als Mitglied der Petersburger Akademie das Haupt der deutschfeindlichen Partei.
Übrigens steht er als Gelehrter und Denker weit höher denn als Dichter. Lomonossows Zeitgenosse Alex. Sumarokow (1718-77), der erste russische Dichter, der kein Amt annahm, um bloß als Schriftsteller zu wirken, und sich voll Selbstbewußtsein für den russischen Voltaire hielt, schrieb bühnengerechte Tragödien nach französischen Mustern in Alexandrinern (die ersten ständigen russischen Theater [* 14] wurden 1756 in Petersburg [* 15] und 1759 in Moskau gegründet), versuchte ¶